Ziel des Workshops ist, eine erneute Reflexion über das Leiden für eine kritische Diagnose der Gegenwart anzuregen. Voraussetzung wäre, dass, obwohl das Leiden eine der individuellsten Erfahrungen ist, es nicht als etwas bloß Subjektives gedacht wird. Es zeigt eine objektive Wahrheit bzw. eine objektive Beziehung zur Realität, die eine kritische Analyse der Gesellschaft nicht vernachlässigen darf.
Leiden ist zweifellos eines der zentralen Themen des menschlichen Lebens, das aber in der Philosophie nur am Rande vorkommt (entscheidende moderne Ausnahmen sind Schopenhauer und Nietzsche), und über das sich die philosophischen Kontroversen nie einig waren. Sowohl anthropologisch als auch gesellschaftlich ist es tatsächlich schwierig, dem Leiden eine Stellung, einen Sinn, eine Bedeutung zu geben. Wozu leiden wir?
Die idealistische Philosophie hat, ähnlich wie die manche Religion, das Leiden in einen geistigen oder geschichtlichen Plan eingebettet. Bei Hegel widerspricht das individuelle Leiden nicht dem geschichtlich parallel verlaufenden Fortschritt von Denken und Wirklichkeit. In diesem Sinn wird das Leiden in der allgemeinen Perspektive der Geschichte des Geistes als Motor des Fortschritts berücksichtigt (wie etwa im unglücklichen Bewusstsein). Aber Hegel unterscheidet die Wirklichkeit, die vernünftig ist, von der bloß vergänglichen, unvernünftigen Existenz, und stellt diese Wirklichkeit zudem als das eigentliche Geschichtsfeld dar.
Das wird in aktuellen Debatten ab dem 20. Jahrhundert (siehe Heidegger, Jaspers, Sartre usw.) kritisiert, wobei das Leiden zunehmend an Relevanz gewinnt. Die gegen Hegel gerichteten Versuche, Leid als existenzielle Erfahrung des menschlichen Lebens in die theoretische Reflexion einzubeziehen, entspricht der Tendenz, die Erfahrungen von Leid und Schmerz von ihren historischen wie gesellschaftlichen Gründen zu dispensieren, bzw. individualisiert zu betrachten. Dieses Verständnis hat in aktuellen phänomenologischen wie anthropologischen Theorien immer mehr an Gewicht gewonnen: Leiden wird oft nur in seinen individuellen Erscheinungsformen untersucht, seine Unsinnigkeit durch eine vermeintlich ursprüngliche und unvermeidbare Struktur des ,Menschseins‘ bzw. der conditio humana abgemildert.
Diese Tendenz steht im Einklang mit der gesellschaftlichen Tendenz des Spätkapitalismus: Wenn Verletzlichkeit heutzutage eine höhere Aufmerksamkeit als je zuvor erfährt, wird folgende Paradoxie erlebt: Obwohl diese Erfahrung gesellschaftlich akzeptierter ist, wirkt sie dennoch bloß individuell und hat keinerlei gesamtgesellschaftlichen Anspruch. Das Leiden wird privatisiert und gleichzeitig immer stärker sozial verwaltet (etwa in Analysen von Experten, durch neue Namen für psychische Krankheitsbilder und Studien über Störungen etc.). Nicht nur wird unproblematisch das Faktum akzeptiert, dass es trotz aller technologischer Fortschritte und aller sozialer Verbesserungen nach wie vor in unserer Gesellschaft so ist, dass Menschen leiden, sondern Schmerzerfahrung ist quasi zum Substitut der Individualität einer Person geworden und beansprucht nicht weniger – aber auch nicht mehr – als eine neue Grundlegungsfunktion des privaten Subjekts.
Innerhalb der aktuellen Analysen über das Leiden hat die Schmerzerfahrung an Bedeutung gewonnen. Das ist das unbestrittene Verdienst der Phänomenologie (Merleau-Ponty, Levinas). Nicht nur scheint im körperlichen Schmerz das Leiden direkter zu sein, sondern das Nachdenken vom Leiden schließt die Möglichkeit ein, eine absolute Unvergleichbarkeit einer somatischen (leiblichen) Erfahrung einzuräumen und damit das je Besondere zu betonen. Wenn die Phänomenologie grundsätzlich die Fragestellung vertieft, wie wir – leiblich strukturiert – Schmerzen erfahren können, bleibt dennoch zu erklären, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen unsere leiblichen Erfahrungen in einer bestimmten Weise strukturiert werden.
Der Workshop soll dazu dienen, die soziale Dimension der individuellen Schmerzerfahrung mit ihren komplexen – sowohl theoretischen als auch praktischen – Implikationen zu berücksichtigen. Anders gesagt: Mit der strategischen Fokussierung auf die einzelne, nicht generalisierbare Erfahrung, die ein Subjekt erleidet, müssen die (widersprüchlichen) Aspekte der Realität (bzw. der Gesellschaft) als objektive Wahrheit gefunden werden.
Die Themenbereiche des Workshops sind:
(a): Die Beziehung des Leidens zur Geschichte und Gesellschaft
Fragestellungen: Wie kann ein erneutes Verständnis des vergangenen Leidens ein Potential für das Verständnis der Gegenwart anbieten?
Ist das Leiden als das Vergessene der Geschichte zu lesen, um das Leiden in der Gegenwart vermeiden zu können?
Welche sind die sozial konstruierte Vorstellungen des Leidens in unserer Gesellschaft und warum bestimmen sie unsere Gesellschaft
(b) Das Leiden und die Schmerzerfahrung
Fragestellungen: Wie ist die Schmerzerfahrung phänomenologisch, medizinisch, psychologisch zu bestimmen?
Wie ist unsere Wahrnehmung des eigenen Schmerzes sozial adressiert?
Was bedeutet es, die Schmerzen der Anderen wahrzunehmen? Ist das grundsätzlich möglich? Warum werden nicht alle Schmerzen (gleich) wahrgenommen?
In der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Leidens verdichten und vermengen sich (kunst)historische, medizinische, ethische, politische wie sozialtheoretische Grundlagenfragen. Die Ausschreibung ist deswegen nicht nur an Nachwuchskollegen und Nachwuchskolleginnen aus der Disziplin Philosophie begrenzt.
Abstracts (1-1,5 Seiten) werden bis zum 15.07.2017 erbeten (Adresse: erikabenini00gmail.com). Aus der Veranstaltung sollen Beiträge zu einem Sammelband (Ende 2018) hervorgehen.
Reference:
CFP: Kritiken des Leidens (Berlin 10-11 Nov 2017). In: ArtHist.net, Apr 15, 2017 (accessed May 9, 2025), <https://arthist.net/archive/15203>.