REV 22.02.2011

Nerdinger; Eisen; Strobl (Hg.): Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte

Rezensiert von Ralf Dorn, TU-Darmstadt
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Ein Werbespot vor einigen Jahren mit Kevin Sorbo. Zoom in. Er betritt eine düstere Bar und bestellt einen „Jim Beam“. Der Barkeeper füllt ein Glas und stellt es vor ihm ab. Sorbo hebt das Glas zum Mund und stockt: „Das ist kein Jim Beam.“ Cut. Die Gäste glotzen erschrocken auf die Getränke in ihren Händen. Sorbo verlässt die Bar. Das Glas bleibt ungetrunken. Cut.

Was sowohl im Alltag als auch in der Kunst gang und gäbe ist, nämlich der Kult um das Original und der Streit um die Rekonstruktion, findet auch in der Geschichte der Architektur seinen Niederschlag. Keine andere künstlerische Gattung scheint in der Kopie so viel Diskussion und Streit zu provozieren wie diese. Wohl auch aus diesem Grund widmete das Architekturmuseum der TU München in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich dem Thema „Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ 2010 eine große Ausstellung. Diese wurde bereits zwei Jahre zuvor durch ein Symposium an der ETH vorbereitet.[1] Der Katalog gibt nun einen Einblick auf Bauten aus allen Zeiten und Ländern. In ihrem Vorwort weisen Uta Hassler und Winfried Nerdinger die Richtung, in die sie vorstoßen wollen: „Für die Publikation wurde deshalb ‚Rekonstruktion‘ im Sinne des relativ neutralen Begriffs ‚Wiederherstellung‘ weit gefasst, so kann am historischen Beispiel entsprechend differenziert werden, wie der jeweilige Vorgang aus seiner Zeit und Bedingtheit zu beschreiben und zu verstehen sein könnte.“(6) „Wiederherstellung“ ist dabei nur ein Terminus von vielen, wie ein Blick in das beigefügte Glossar (478) zeigt. 16 Beiträge führen in das vielgestaltige Themenfeld ein, gefolgt von einem Katalogteil, der in zehn Abschnitten die unterschiedlichsten Facetten des Phänomens „Rekonstruktion“ zu fassen sucht.

Den Reigen eröffnet Winfried Nerdinger, der in seiner Einführung versucht, dem Begriff „Rekonstruktion“ seine moralische Wertung zu nehmen. „Wer einen verlorenen oder zerstörten Bau rekonstruiert, fälscht nicht und verfälscht auch nichts, denn es handelt sich immer um einen Neubau, der als solcher trotz historischer Formen zumindest für die Zeitgenossen bekannt und kenntlich ist und über entsprechende Quellen und Dokumente auch für spätere Generationen immer als Wiederholung identifizierbar bleibt.“(10) Diese Überzeugung fußt auf einer sehr optimistischen Sichtweise. Jeder, der sich mit Kunst- und Architekturgeschichte beschäftigt, weiß, wie schwer es teilweise ist, die Entstehung einzelner Kunst- und Bauwerke zu rekonstruieren. Auch die Behauptung „Rekonstruktion hat jedoch nichts mit ‚Denkmalpflege‘ zu tun, sondern ist ein von religiösen oder memorialen Kategorien und Interessen geleiteter Vorgang einer epochen- und kulturspezifischen Erinnerungskultur.“(11), muss alleine schon vor dem Hintergrund verneint werden, das einige dieser Maßnahmen mittlerweile Denkmalstatus erreicht haben. Auch wenn Totalrekonstruktionen weit ab führen vom Tagesgeschäft, muss sich die Denkmalpflege zu ihnen verhalten, beeinflussen diese doch früher oder später ihr gesamtes bauliches Umfeld, wie das Beispiel der Dresdner Frauenkirche (Kat. 4.15) lehrt.

Rekonstruktionen sieht Aleida Assmann in ihrem Beitrag in einem Paradigmenwechsel begründet und stellt fest: „Stillschweigend hat die Vergangenheit eine Qualität übernommen, die einst ausschließlich der Zukunft zugesprochen wurde, nämlich die einer unerschöpflichen Ressource für Erneuerung und Wandel.“(16) Zukunftsgläubigkeit und Innovationsbereitschaft scheinen dahin. Als Ursachen führt Assmann die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die anschließende Abrissmanie der Nachkriegszeit an. „Die Leitfrage ist dabei nicht mehr nur: Wie viel Vergangenheit bleibt in unserer gebauten Umwelt gegenwärtig?, sondern auch: Was wollen wir aus dem Limbo des Vergessens zurückholen, welche Lücken wollen wir wieder auffüllen, welcher Stufe der Vergangenheit soll zu einer neuen Gegenwart und Zukunft verholfen werden?“(22). So stellt sich Rekonstruktion schlussendlich als Ausdruck einer „längst etablierten kulturellen Praxis“(23) dar.

Fernando Vegas und Camilla Mileto führen in ihrem Beitrag religiöse Kontinuität, sei sie durch Assimilation oder Usurpation bedingt, als Grund für den Wieder- und Weiterbau von Kultorten an. Der von ihnen angeführte Materialwechsel beleuchtet einen evolutionären Aspekt der Architekturgeschichte. So wurde beispielsweise die griechische Tempelbaukunst im Laufe der Zeit von der Holzbau- in die Steinbauweise überführt. Was aber daran ist Rekonstruktion? Ebenfalls spannend und zugleich einzigartig als Beispiel für eine zyklische Erneuerung ist der japanische Ise-Schrein, den Niels Gutschow in seinem Beitrag über Wiederaufbau, Neubau und Rekonstruktion in Asien vorstellt. Diese Tradition innerhalb der japanischen Tempelbaukunst gilt als ein Paradebeispiel für das Prinzip der rituellen Wiederholung. Sie wird in jüngster Zeit durch digitale Animationen lange zerstörter japanischer Burgen konterkariert und entwertet. „Computeranimationen suggerieren in neuerer Zeit die Machbarkeit weiterer Projekte. Seit den 1990er-Jahren werden immer neue Rekonstruktionsprojekte begonnen.“(46). Hier zeigen sich die gleichen Symptome einer Krankheit, an der auch der Westen laboriert.

Fragen wirft auch der Beitrag von Hubertus Günther auf, der sich mit der sogenannten Wiederbelebung der antiken Architektur in der Renaissance auseinander setzt. Darin wird der Begriff „Rekonstruktion“ nur ein einziges Mal wie ein Feigenblatt vorgeschützt: „Am Beispiel der Renaissance lässt sich beispielhaft beobachten, wie weit bei der Rekonstruktion Annäherung an das Urbild und Distanzierung von ihm durch vorgefasste Vorstellungen auseinanderlaufen können.“(76). Hier wird „Rekonstruktion“ zur begrifflichen Zwangsjacke, die die lange eingeführten Termini „Kopie“ und „Zitat“ sowie das Phänomen der „Antikenrezeption“ ruhig stellt. Kritisch geht vor allem Eva-Maria Seng mit der denkmalpflegerischen Definition von Rekonstruktion um. Vor dem Hintergrund der betrachteten Beispiele aus der Zeit zwischen 1600 und 1800 kommt sie zu dem Schluss: „Als Fazit der Diskussion der historischen Beispiele drängt sich die Frage auf, inwieweit der Rekonstruktionsbegriff überhaupt tragfähig zur Erklärung der unterschiedlichen Baumaßnahmen sein kann. Festzuhalten bleibt, dass bei allen mit dem Begriff ‚Rekonstruktion‘ belegten Vorgängen nicht zuletzt deren politische Implikationen reflektiert werden müssen.“(94).

Aufschlussreich für das Verständnis des „bürgerschaftlichen Engagements“(157) und der „postmodernen Rekonstruktionswelle“(156) ist der Beitrag von Uwe Altrock, Grischa Bertram und Henriette Horni. Sie beleuchten die Hintergründe, den „Individualisierungsdruck“(158) und die „Sehnsucht nach Heimat“(158), die Motive für Rekonstruktionsbestrebungen sind. Durch mäzenatisches Engagement und die Unterstützung durch Investoren kommt es zu Konstellationen, in der drückende „Argumentationshoheit“(164) und entsprechender „Handlungszwang“(164) politische Entscheidungen provozieren.

Die abschließende Klammer der Beiträge bildet Uta Hasslers Text, der die Semantik unterschiedlicher Wiederaufbaukonzepte kritisch hinterfragt und zu einer erneuten Reflektion der Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts auffordert. „Diese Vergegenwärtigung würde erlauben, Qualitäten der Architektur von Zufügungen und Reparaturen, handwerkliche und künstlerische Qualitäten der Neubauteile ebenso kritisch zu reflektieren wie technisch-künstlerische Errungenschaften und das Niveau konservatorischer Arbeit. Verzicht auf Neukonstruktion historischer Muster ist ebenso möglich wie die Wiederholung existierender Muster, unverzichtbar bleibt eine Differenzierung des ‚Neben- und Gegeneinanders verschiedener Zeitschichten‘.“(188).

In der Rückschau stellt sich der Ausstellungsband als eine konzentrierte Schau auf das Prinzip der Rekonstruktion und auf ähnliche Phänomene dar. Es fehlen jedoch kritische Gegenstimmen. Wo haben sich beispielsweise Rekonstruktionswünsche nicht erfüllt, und warum sind sie fehlgeschlagen?[2] Eine solch kritische Brechung hätte dem Katalog durchaus gut zu Gesicht gestanden. Und über dessen Stimmengewirr schwebt nun die Vision – oder besser: die Animation – des noch ungebauten Berliner Stadtschlosses, nach dem Mauerfall herbeigeredet und schon bald aus geschichtsträchtigem Boden aufwachsend. Es wird eine Rekonstruktion am authentischen Ort werden, für die jedoch ein Original aus einer anderen Zeit geschleift wurde.

Anmerkungen:
[1] Uta Hassler u. Winfried Nerdinger (Hrsg.): Das Prinzip Rekonstruktion. Eine Publikation des Instituts für Denkmalpflege und Bauforschung (IDB) der ETH Zürich anläßlich der gleichnamigen Tagung, 24./25.01.2008, veranstaltet vom IDB der ETH Zürich und dem Architekturmuseum München. Zürich 2010, 351 Seiten, ISBN: 978-3-7281-3347, 49,80 Euro.
[2] Siehe dazu: Adrian von Buttlar et.al. (Hrsg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie. (Bauwelt Fundamente; 146), Basel/Berlin/Gütersloh 2011.

Nerdinger, Winfried; Eisen, Markus; Strobl, Hilde (Hrsg.): Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte. [anlässlich der Ausstellung "Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte" im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne, 22. Juli bis 31. Oktober 2010], München [u.a.]: Prestel Verlag 2010
ISBN-13: 978-3-7913-5092-9, 511 S., 69 EUR

Empfohlene Zitation:
Ralf Dorn: [Rezension zu:] Nerdinger, Winfried; Eisen, Markus; Strobl, Hilde (Hrsg.): Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte. [anlässlich der Ausstellung "Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte" im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne, 22. Juli bis 31. Oktober 2010], München [u.a.] 2010. In: ArtHist.net, 22.02.2011. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/964>.

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