Bis heute hält der Genter Altar seine Betrachter und insbesondere die internationale Fachwelt in Atem. Jeder, der einmal in Gent in der Kathedrale St. Bavo vor diesem mächtigen Werk gestanden hat, ist überwältigt von seiner Wirkung. Die Forschung hat sich bislang vorrangig mit ikonografischen Fragen zu dem Altar, seiner Genese und dem Problem des Werkanteils seiner Maler Hubert und Jan van Eyck auseinandergesetzt. In dem Facettenreichtum der jahrhundertealten, die Zeitläufte spiegelnden Geschichte des Altars, der verschiedenen Formen seiner Aneignung und seiner Rezeption besteht jedoch eine weitere Besonderheit. Hier liegt der Schwerpunkt dieser Publikation.
Für die Staatlichen Museen zu Berlin haben Stephan Kemperdick und Johannes Rößler einen Aufsatzband zu der Geschichte des Genter Altars herausgegeben, der weit mehr ist als ein Begleitband zu der kürzlich gezeigten Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie. Mit einer Reihe ausgewiesener Spezialisten richten sie ihr Hauptaugenmerk auf das aufregende Verwirrspiel um die Eigentums- und Rezeptionsgeschichte des Altars und seiner Kopien. Dabei sind die Aufsätze im Wesentlichen auf den Berliner Teil dieser Geschichte fokussiert. Während die ersten drei Beiträge des Bandes ausführlich auf die Zusammenhänge der Altargeschichte eingehen, gelten die nachfolgenden spezifischen forschungsrelevanten philologischen bzw. restauratorischen Untersuchungen.
Einleitend verklammert Stephan Kemperdick die Aufsatzthemen in einem ausführlichen Überblick über Aufbau und Geschichte des Genter Altars. Das 1432 vollendete Retabel des auf Tafeln der Außenseite fast lebensgroß dargestellten kinderlosen Stifterehepaars Joos Vijd – angesehener Patrizier, Schöffe und Diplomat im Gefolge Herzog Philipps des Guten – und seiner Ehefrau Elisabeth Borluut besteht aus zwölf Eichenholztafeln, von denen acht – ursprünglich klappbar – doppelseitig bemalt sind. Das Zentralbild im unteren Register der Festtagsseite ist die komplex angelegte Tafel der Anbetung des Lammes Christi. Das obere Register zeigt die monumentale Dreiergruppe Jungfrau Maria, Johannes der Täufer und eine zentrale, frontal ausgerichtete Gestalt, welche nach horizontaler Lesart als Trinität und im Zusammenhang der Darstellung im unteren Register als Gottvater gedeutet werden kann. Die innen auf den äußeren Flügeln dargestellten Aktfiguren von Adam und Eva lenkten früh die Aufmerksamkeit von Künstlern auf sich und prägten im frühen 16. Jahrhundert die Rezeption des ganzen Retabels.
Kemperdick rekapituliert die Kenntnisse über die Entstehung, Deutung und die Aufstellung des Retabels, seine Funktionsveränderung und die Frage seiner Urheberschaft. Er erörtert darüber hinaus die komplizierte Geschichte seiner Teile und – im Kontext der wachsenden Bedeutung von Sammlungen – seiner zu unterschiedlichen Anlässen produzierten (Teil-)Kopien, darunter die wichtigste, ikonografisch teilweise abweichende von Michiel Coxcie aus den Jahren 1556 bis 1558, die Philipp II. von Spanien für die Madrider Palastkapelle anfertigen ließ. Aus unbekannten Gründen fehlten bei dieser Kopie die Tafeln mit Adam und Eva.
Kemperdick wendet sich außerdem ausführlich der künstlerischen und wissenschaftlichen Rezeption des Retabels und dem Verlauf seiner Popularisierung zu. Mit den Viten Giorgio Vasaris von 1550 wuchs die Bekanntheit des Altars, zumal Vasari die Legende von Jan van Eyck als Erfinder der Ölmalerei prägte. Dieser These widersprach erst Gotthold Ephraim Lessing in seinem 1774 publizierten Nachweis. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts kanonisierte Karel van Mander in seinem Schilder-Boeck die Brüder van Eyck als Gründerväter der niederländischen Malerei. Daran knüpften wieder einige Zeit danach Joachim von Sandrart und später Jean-Baptiste Descamps in ihren Publikationen an.
Auf diese Literatur stützten sich die französischen Kunstkommissare, die im Zuge der Kunstraubzüge der Französischen Revolution 1794 die Mitteltafeln des Genter Altars nach Paris verbrachten, während die Flügel in Gent blieben. Der Altar war somit erstmals auf verschiedene Orte verteilt. Die Tafeln im Louvre stießen in erster Linie auf das Interesse ausländischer Reisender, wie Heinrich Füssli und Friedrich Schlegel, die wiederum als Multiplikatoren wirkten. Zwar gelangten die Tafeln 1815 nach Gent zurück, der Altar blieb dort aber nicht lange vereint. Die Kirchenverwaltung verkaufte Ende 1816 aus Geldnot dem Kunsthändler L. J. Nieuwenhuys aus Brüssel sechs der acht beidseitig bemalten Flügeltafeln. (Die Tafeln mit Adam und Eva blieben in Gent, sie gelangten 1861 an das Königliche Museum in Brüssel und 1920 wieder nach Gent.) Als man sich dieses Verlusts bewusst wurde, waren die Flügel bereits im Besitz des englischen Sammlers Edward Solly, der sie 1821 an Preußen weiterverkaufte.
Der folgenden, hundert Jahre andauernden, Berliner Zeit der Altartafeln, die ab 1830 im Königlichen Museum (dem heutigen Alten Museum) ausgestellt und zum Publikumsmagneten wurden, wird in einem gemeinsamen Aufsatz von Kemperdick und Rößler besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie war durch einen Aufschwung der Forschung zur altniederländischen Malerei charakterisiert. Deren Entwicklung zeichnet der Aufsatz nach und fragt, einsetzend bei Schlegel und den Brüdern Boisserée, auch nach der wechselseitigen Beeinflussung von Forschung und Sammlungsausrichtung. Wesentlich ging es in der Forschungsdiskussion um die Frage nach der kunsthistorischen Einordnung und Bedeutung Jan van Eycks und des Altars. Hegel, der sich in seinen Vorlesungen über Ästhetik mit van Eyck befasste, wirkte hier ausgleichend zwischen Schlegels Betonung der religiösen Dimension der Darstellung und Goethes Augenmerk auf den Realismus der malerischen Behandlung. Zu Hegels großem Hörerkreis gehörten Gustav Friedrich Waagen, Franz Kugler, Carl Schnaase und Heinrich Gustav Hotho.
Die mit Goethe befreundete Johanna Schopenhauer publizierte 1822 eine erste Monografie zu Jan van Eyck. Gustav Friedrich Waagen beteiligte sich mit seinem kurz darauf erschienenen Buch über die Brüder van Eyck an der folgenden, um größere sachliche Genauigkeit bemühten Forschungsdiskussion. Er wurde in die Aufbaukommission für das Königliche Museum in Berlin berufen und war dann über dreißig Jahre lang dessen Direktor. Der Genter Altar bildete weiterhin eines seiner wichtigsten Forschungsthemen. Er ließ die Schrift auf den Rahmenleisten der Flügel freilegen und versuchte in seinen Publikationen eine Rekonstruktion des Retabels.
Ein entsprechender Gesamteindruck war im Berliner Museum nur durch Ergänzung der Original-Altarflügel zu erreichen. Hier kommen die Kopien ins Spiel, deren komplizierten Weg der Beitrag nachverfolgt. Coxcies Kopie war in der Zeit des Spanienfeldzugs Napoleons entwendet und dann von Brüssel aus in Teilen verkauft worden, die nach München, nach Berlin und – über die Niederlande und den belgischen Staat – 1861 nach Gent gelangten. In Berlin konnten die Originalflügel 1823 um Coxcies Kopien der Mitteltafeln, Trinität bzw. Gottvater und Anbetung des Lammes, ergänzt werden. Um auch die noch fehlenden Teile zu erhalten, gab Friedrich Wilhelm III. eine weitere Kopie in Auftrag, die von Carl Friedrich Schulz ab 1824 in Gent ausgeführt wurde. Bei der Eröffnung des Königlichen Museums wurden in der Hängung Waagens aber nur die Originaltafeln und Coxcies Kopien, in goldenen doppelseitigen Rahmen von Schinkel, gezeigt und markierten den Anfang der zweiten Abteilung am Berührungspunkt zwischen der niederländisch-deutschen und der italienischen Sammlung.
Nach dem Einbau von Oberlichtern ab 1869 wurden die Hängung und Rahmung geändert, ein weiteres Mal nach der Spaltung der Flügel 1894. Bei der Eröffnung des Kaiser-Friedrich-Museums war für den Genter Altar mit Originalen und Kopien ein eigener Raum eingerichtet. Die Originale waren in Sichthöhe angebracht. Ein klappbares Modell der Photographischen Gesellschaft veranschaulichte den Gesamtzusammenhang des Altars.
Vor dem Ersten Weltkrieg existierten schließlich zwei aus Originalen und Kopien zusammengesetzte Versionen des Genter Altars, eine in Berlin, eine in Gent. Mit dem Versailler Vertrag nahm dieser Zustand ein Ende. In Artikel 247 wurde die Rückgabe der originalen Tafeln des Genter Altars an Belgien festgelegt und dies als Akt der Kompensation widerrechtlicher deutscher Kriegshandlungen und schwerer Zerstörungen von Kulturgütern legitimiert. Der Band, der im Rahmen des Themenjahrs „1914. Aufbruch. Weltbruch“ publiziert wurde, geht mit Johannes Rößlers Aufsatz ausführlich auf die Geschichte des Genter Altars im und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ein. Die Berliner Museumsleitung protestierte entschieden, aber vergeblich gegen die Rückgabe der Altartafeln. Bode verarbeitete den Verlust schließlich mit Pragmatismus: Er erreichte von der Reichsregierung die Auszahlung einer Entschädigung, die er allerdings für die Fertigstellung des Pergamonmuseums verplante.
Die weitere Geschichte des Altars ab 1920 vollzieht der erste Beitrag von Kemperdick nach. Zusammenfassend beschrieben werden die Rückführung nach Gent, der Diebstahl zweier Tafeln 1934 und die Rückgabe der einen, der deutsche Überfall auf Belgien 1940, die Evakuierung, dann die Beschlagnahmung des Altars und die Restitution 1945. Schließlich wird auf die Neuaufstellung in der Taufkapelle 1986 verwiesen und auf die seit 2012 laufende Restaurierung.
Da die Originaltafeln und auch die Kopien die wichtigsten Zeugen der Geschichte des Genter Altars sind, folgen objektbezogene Analysen mit unterschiedlichen Fragestellungen. Christina Meckelnborg unterzieht die 1823 in Berlin freigelegte Schrift auf den unteren Rahmenleisten der Außenseite des Genter Altars einer beeindruckend präzisen philologischen Untersuchung. Die Autorin mutmaßt plausibel, dass die Anbringung der Schrift im Zusammenhang mit dem Taufereignis des Sohnes Herzog Philipps des Guten in Gent Anfang Mai 1432 stand.
Ute Stehr und Hélène Dubois widmen sich der risikoreichen physischen Behandlung der Altarflügel im Berliner Museum. Sie beschreiben die verschiedenen Arten der Montage der Tafeln, die zunächst schwenkbar an der Wand, dann seit 1880 in einem Wanddurchbruch gezeigt wurden. Nachdem die Flügel in der Berliner Restaurierungswerkstatt dem um 1900 verbreiteten, hier ausführlich erläuterten Verfahren der Spaltung unterzogen und parkettiert worden waren, konnten ihre Vorder- und Rückseiten parallel gezeigt werden. Abrundend schildern Stefanie Thomas und Rainer Wendler zentrale Beobachtungen zur Maltechnik und Restaurierung der historischen Kopien des Altars in Berliner Besitz.
Es gehört zum großen Verdienst dieser Publikation, dass die schriftlichen Quellen und die bildlichen Zeugen des Altars – auch Kopien, Nachempfindungen, Reproduktionen und Fotos – in ihrer Komplexität hinzugezogen und zur Rekonstruktion der Altargeschichte auf Gehalt und Funktion befragt wurden. Die Argumente sind mit zahlreichen Abbildungen in hervorragender Qualität veranschaulicht; Aufnahmen sämtlicher Originaltafeln und Kopien sind integriert. Die Autoren haben die Aufgabe mit Bravour gelöst, in Auseinandersetzung mit der Forschung die kompliziert verschränkten Abläufe der Altargeschichte fundiert und mit großer Sorgfalt zu analysieren, in klare Worte zu fassen und zugleich sachlich wie spannungsvoll zu vermitteln. Die Faszination für den Genter Altar wurde dadurch um eine zusätzliche Dimension erweitert.
Kemperdick, Stephan; Rößler, Johannes: Der Genter Altar der Brüder van Eyck. Geschichte und Würdigung, Michael Imhof Verlag 2014
ISBN-13: 978-3-7319-0089-4, 160 p., EUR 19,90, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Tanja Baensch: [Rezension zu:] Kemperdick, Stephan; Rößler, Johannes: Der Genter Altar der Brüder van Eyck. Geschichte und Würdigung, 2014. In: ArtHist.net, 16.06.2015. Letzter Zugriff 26.12.2024. <https://arthist.net/reviews/9549>.
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