REV 07.01.2015

Timothy Brittain-Catlin: Bleak Houses

Rezensiert von Tino Mager, Berlin
Redaktion: Livia Cárdenas
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Die Geschichte der Architektur ist eine Geschichte der Sieger. Ihr Kanon fügt sich aus in Talent und Fleiß gründenden und von Erfolg und Glück begünstigten Höhepunkten menschlichen Schaffens. Das Lebenswerk der tonangebenden Architekten stellt sich zumeist als kongruent und in sich abgeschlossen, gleichzeitig als bahnbrechend und wegweisend dar. Die Stimmigkeit dieser Erzählung scheitert in den meisten Fällen jedoch schon bei einem Blick aus dem Fenster, bei der Beobachtung der gebauten Umwelt auf dem Weg durch die Stadt und auch in den Erinnerungen an die Stätten unserer Kindheit, Sehnsucht oder Abenteuer. Die Gebäude, die uns umgeben und unsere Lebensräume bestimmen sind zum Großteil banal, selten ein Geniestreich und häufig relativ anspruchslos. Sie stehen in harschem Gegensatz zu den Aushängeschildern der Architekturgeschichte, nicht nur in ihrer physischen Erscheinung, sondern auch durch das Nichtvorhandensein irgendeines Diskurses, der sich ihrer annehmen würde, da sie weder Originalität noch Avantgarde verkörpern. Timothy Brittain-Catlin widmet sich genau dieser Geschichte der Architektur, der der Enttäuschungen und Fehler, der Verlierer und der Vergessenen. Dabei eröffnet er eine neue, spannende und bereichernde Perspektive auf Bauwerke und die Art, wie wir diese betrachten.

In fünf Kapiteln entwirft der Autor, Architekt und Dozent an der Kent School of Architecture, ein Paralleluniversum der Architekturgeschichte der Moderne, geprägt von Protagonisten, deren Namen ihren Träger in den meisten Fällen kaum überlebt haben. Zum Einstieg werden im Kapitel ,Losers‘ zunächst die biographischen Spielarten des Scheiterns analysiert, die verantwortlich dafür sind, dass die meisten von uns die Namen vieler Architekten, trotz deren hartnäckigen Schaffens und aufopfernder Leistungen niemals zu Gehör bekommen. Die Bandbreite dieses Scheiterns reicht von unglücklichen Zeitumständen, wirschen Gemütern, falscher Bescheidenheit, Missgunst, unpassenden Kooperationen und Inkompetenz über Schicksalsschläge hin zur nachträglichen Verunstaltung des Werkes durch andere. Dabei kommt auch die Komplexität der Kombination aus Talent, Fleiß, Beziehungen und Glück zum Ausdruck, die dafür sorgt, dass die Helden Eingang in den Kanon finden, der anderen, nicht unbedingt weniger begabten Architekten schlicht und einfach verwehrt bleibt.

In ,There is real and there is fake‘ folgt eine intelligente Analyse der Schwächen der Architekturkritik, die sich weitgehend auf die Avantgarde beschränkt und ausgerechnet den Bereich des Mediokren, der weitgehend den architektonischen Alltag bestimmt, ignoriert und damit auch jeglicher konstruktiver Kritik beraubt. Als Folge macht Brittain-Catlin einen architektonischen Analphabetismus aus, der den Großteil der Laien betrifft und für eine Kritikunfähigkeit sorgt, aus der letztlich die erschreckende Vielzahl minderwertiger Häuser resultiert, die unsere gebaute Umwelt weitgehend prägt. Seine plausible Beobachtung, dass die Schöpfer erfolgreicher Architektur häufig sprachgewandt waren und sich somit ihren Platz in der von der Wirkung der Worte bestimmten Geistesgeschichte sicherten, beleuchtet diesen Umstand mit einer bislang kaum beachteten Erklärung. Damit einher geht auch die Vereinnahmung des Architekturdiskurses durch Avantgarde und Moderne, wodurch sich auch schon leichte Anzeichen von Sentimentalität, Behaglichkeit und Idylle als Makel darstellen und sich als architektonische Qualitäten selbst disqualifizieren. Als Nachweis der soziokulturellen Unzulänglichkeit einer solchen hochästhetisierten Architekturkritik führt der Autor literarische Architekturbeschreibungen von Charles Dickens und Elizabeth Bowen bis zu zeitgenössischen Passagen von Alan Hollinghurst an, die weniger in einem abstrakten Formalismus gründen, als vielmehr in Lebenserfahrung und Emotionen, Werte die für die Architektur des Alltags ungemein wichtig sind. Angesichts der gebauten Highlights, an denen sich der architektonische Diskurs orientiert, sind sie jedoch mit dem Anschein des Trivialen behaftet. So erklärt sich auch der sinnfällige Titel, mit dem sich der Autor auf die literarische Hauptrolle eines Hauses in einem Roman von Charles Dickens bezieht: Bleak House (1852/53). Es geht ihm dabei um die Rolle der zu wenig beachteten poetischen Qualitäten von Architektur, die im professionellen Diskurs zu häufig übersehen werden, aber dennoch weitreichenden Einfluss auf unser Leben und Erleben haben.

Wenn Brittain-Catlin in diesem Zusammenhang qualitätvolle und zugleich epigonale historistische Werke des 20. Jahrhunderts lobt, offenbart er zum einen zwar eine eher konservative architektonische Haltung, zum anderen führt er dem Leser vor Augen, inwiefern Horizont und Urteilsvermögen vom Gestus der Architekturkritik geprägt sind und wie stark der Blick für die Qualitäten und Werte des weniger progressiven beeinträchtigt ist. Durch die Lektüre zeichnet sich klar der Gedanke ab, dass unsere Geschichte der Architektur nur ein kleines, von Zufällen, Glück und Macht selektiertes Resümee ist, das auch ganz anders erzählt sein könnte. Mit Ironie und Charme entführt Brittain-Catlin aber auch in die Abgründe der Architektur, den Bereich unterhalb des Mediokren, indem er sich mit der kleingeistigen Modifikation von unverstandenen Bauten, der ästhetischen Berichtigung durch Banausen und insbesondere dem sich beinahe jeglicher wissenschaftlicher Aneignung entziehenden Bereich der Innenarchitektur widmet. In dieser Darstellung wird im größeren Rahmen ausgeführt, was Martin Parr einst mit der Fotografie einer unfreiwillig komisch dekorierten Couch ins Auge fasste, als er ihr den Titel gab: „We keep buying things thinking ‘that’ll look better’ and it just doesn’t“ (1991). Es ist in erster Linie das Unverständnis für Werke und deren Zeitgebundenheit, das zu dem Bedürfnis führt, sie ästhetisch an das Geläufige und Gegenwärtige anzupassen.

Sich in seinem eigenen architektonischen Schaffen selbst immer wieder humorvoll auf die Seite der „Loser“ stellend, gewinnt der Autor den Leser durch eine eloquente Erzählung und argumentative Überzeugungskraft. Mag die Vielzahl der betrachteten Verlierer und Fehlschläge auch ein wenig am Überblick zehren, beleuchtet sie jedoch aufschlussreich das Spektrum der Möglichkeiten des Scheiterns. Wenn die vorrangig britischen Beispiele dabei auch kaum in die Tiefe geführt werden, besticht das Werk durch seinen außergewöhnlichen Ansatz und seine geistreiche Lebendigkeit. „Bleak Houses“ ist ein kurzweiliger Auszug aus der weitgehend unbekannten und schier unendlichen Architekturgeschichte des Glanzlosen, die weite Teile Europas und der Welt nachhaltiger geprägt hat, als die Geschichte ihrer Meisterwerke. Es ist ein erfrischend unkonventionelles Buch, das Vergessenes aus der Vergessenheit holt und den Blick auf die gebaute, die überformte und auch auf die bereits abgerissene Welt verändert.

Brittain-Catlin, Timothy: Bleak Houses. Disappointment and Failure in Architecture, MIT Press 2014
ISBN-13: 978-0-262-02669-7, 182 p.

Empfohlene Zitation:
Tino Mager: [Rezension zu:] Brittain-Catlin, Timothy: Bleak Houses. Disappointment and Failure in Architecture, 2014. In: ArtHist.net, 07.01.2015. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/9171>.

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