REV-EX Nov 29, 2014

An der Wiege der Kunst. Italienische Zeichnungen und Gemälde (Dresden)

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Residenzschloss, Oct 29, 2014–Jan 18, 2015
www.skd.museum/de/sonderausstellungen/an-der-wiege-der-kunst/index.html

Reviewed by Marion Heisterberg, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Editor: Carolin Behrmann
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„Mit der Zeichnung fange an“ – mit diesen Worten beginnt Cennino Cenninis vergleichsweise werkstattpraktischere Teil des um 1400 entstandenen Libro dell’arte. Cenninis Ratschlag wird auch dem Besucher, der die Dresdner Ausstellung „An der Wiege der Kunst. Italienische Zeichnungen und Gemälde von Giotto bis Botticelli“, kuratiert von Judith Claus und Gudula Metze, betritt, bereits im ersten Raum mit auf den Weg gegeben.
Adressat dieser Worte hätte gleichermaßen auch ein Malergeselle sein können, ähnlich demjenigen, der dem Besucher von der Hand Filippino Lippis auf dem Einband des Ausstellungskatalogs geduldig entgegenblickt.
Dass die Zeichnung innerhalb der frühneuzeitlichen Werkstattpraxis jedoch nicht nur ausbildungsdidaktische Zwecke verfolgte, sondern auch innerhalb der Werkgenese eine ganz grundsätzliche Rolle einnimmt, wird im eingangs gezeigten Film deutlich. Unter der Leitung von Ivo Mohrmann, Professor an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, hat es sich darin eine Studentin der Gemälderestaurierung zur Aufgabe gemacht, eine handwerklich getreue Kopie der fragmentierten Marienkopftafel Gherardo Starninas anzufertigen. Wenn der Betrachter Silvia Oertel dabei beobachtet, wie sie zunächst die früh-quattrocenteske Tafel mithilfe kunsttechnologischer Verfahren auf Unterzeichnungen und Materialität untersucht, um dann selbst mittels unterschiedlicher Zeichenverfahren auf eine gipsgrundierte Tafel zu griffeln, mit Lochschablone zu pausen, Zirkelkreise und Lotlinien zu schlagen und die so erzeugten Konturen zum Teil farbig nachzuzeichnen, findet er in dieser filmischen Dokumentation künstlerischen und kunstwissenschaftlichen Tuns zahlreiche Aspekte vereint, die im weiteren Verlauf der Ausstellung an einzelnen Exponaten neu ausgelotet und vertieft werden. So begegnet er nicht nur mit Nadelstichen zu Lochpausen umfunktionierten Zeichnungen Antoniazzo Romanos und Raffaellino del Garbos, ungestüm entwerfenden oder studierend vorbereitenden graphischen Notaten, sondern auch zahlreichen Unter- bzw. Vorzeichnungen, die im Rahmen von zwei interdisziplinären Forschungsprojekten aus dem kunstpraktischen Dunkel in die Sichtbarkeit überführt werden konnten.
Die Projekte umfassten einerseits eine Fortführung der kunsttechnologischen Untersuchungen, die Lorenza Melli im Rahmen ihrer grundlegenden Aufarbeitung der frühen italienischen Zeichnungsbestände in Dresden – der maßstabsetzende Bestandskatalog wurde 2006 vorgelegt [1] – weiter verfolgt hat und eine seit 2007 durch den hauseigenen Restaurator Christoph Schölzel initiierte Untersuchung des Dresdner Bestands italienischer Tafelgemälde aus Spätgotik und Frührenaissance. Neben dem Forschungslabor der Dresdner Hochschule für Bildende Künste waren von kunsttechnologischer Seite auch das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf, von restaurationswissenschaftlicher Seite die entsprechenden Abteilungen von Kupferstichkabinett und Gemäldegalerie in die Zusammenarbeit involviert.
Die Vielfalt graphischer Techniken wird in der Ausstellung nicht nur durch die vergleichende Präsentation einzelner Werke und deren Untersuchungsergebnisse vor Augen geführt, sondern mitunter auch innerhalb ein und derselben Bildtafel – wie beispielsweise der Verkündigung Francesco del Cossas – evident. Hier zeugt das graphische Spektrum, das die technischen Untersuchungen freilegen, von einer virtuosen Handhabung der diversen Zeichenmittel je nach Anliegen und gewünschtem Resultat. So offenbart das Streiflicht an diesem Beispiel nicht nur Ritzzeichnungen in der bildlichen Architekturanlage, sondern auch als eigene Schmuckform innerhalb der feinfiedrigen Engelsflügel, während die Gewandfalten akribisch mittels eines kohlenstoffhaltigen Stifts vorbereitet wurden, dessen Linien in der Infrarotreflektographie zu Tage gefördert werden konnten. [2]
In der Ausstellung hätte sich der Besucher bei den Reproduktionen der mithilfe von Infrarotreflektographie und UV-Licht erstellten Bilder mitunter größere Abbildungen (oder vergrößerte Ausschnitte daraus) gewünscht, um die Ergebnisse der kunsttechnologischen Untersuchungen besser nachzuvollziehen zu können, wofür jedoch der Blick in den ausliegenden Katalog weitgehend entschädigt. [3]
Chronologische Abfolge und Differenzierungen der verwendeten graphischen Mittel lassen sich auch bei den untersuchten Zeichnungen nun vielfach genauer bestimmen. Die Analyse von Zeichnungen anhand nicht-invasiver, kunsttechnologsicher Methoden ist dabei selbst noch jungen Datums, so dass hierbei – wie vor wenigen Jahren bezüglich der Unterscheidbarkeit von Silber- und Bleigriffellinien geschehen [4] – zunehmend weitere, spezifischere Methoden entdeckt werden. So lässt sich nun, wie Lorenza Melli (S. 32-39) sowie Olaf Simon und Carsten Wintermann (S. 26-31) in ihren jeweiligen Katalogbeiträgen darlegen, bei einigen Figurenstudien Filippino Lippis der alternierende Einsatz zweier Metallstifte unterscheiden, der an jeweils andere Funktionen gebunden ist: Der Bleigriffel kommt für summarische Konturen, der Silbergriffel für fließender zu modellierende Volumina zum Einsatz. Auch funktionale Verortungen der Zeichnungen selbst werden möglich, beispielsweise wenn bei einer Zeichnung Vittore Carpaccios ein zu Übertragungszwecken aufgebrachtes Quadratraster, das mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen ist, in der Infrarotreflektographie deutlich zutage tritt.
Abgesehen von der durch die Forschungsprojekte vorgegebenen Akzentuierungen, erfolgt die Hängung von Tafelgemälden und Zeichnungen in der Dresdner Ausstellung weitgehend chronologisch, unter lockeren thematischen Schwerpunktsetzungen , wie z.B. den Themenkomplexen der Antikenrezeption, von Bewegung und Affekt oder lokalen Sonderstellungen, wie etwa der Position Venedigs und der terraferma als einer einem eigenen Einflussbereich unterliegenden Region.
Besonders hervorzuheben ist das geglückte Bestreben, die ursprünglich liturgischen Kontexte einzelner Exponate unaufdringlich ins Bewusstsein zu rufen. So wird beispielweise mittels der Rekombination des im 19. Jahrhundert in zwei Teile zersägten Vortragekreuzes Sano di Pietros auf einer stabähnlichen Konstruktion die duale Rezeption der jeweiligen Bildseiten – Christus patiens und triumphans – als zwei interdependente Momente des einen, heilsgeschichtlichen Geschehens neu erfahrbar. Analog können etwa auch die Dresdner Pilaster Luca Signorellis innerhalb alternativer, auf die Wand projizierter Rekonstruktionsvorschläge wieder in ihrer ursprünglichen, tragenden wie rahmenden Einbindung rezipiert werden. In diesem Zusammenhang scheint auch die Reihe der „Kunstgespräche mit Theologen“, die im Kontext des Rahmenprogramms der Ausstellung zu unterschiedlichen Themen und Exponaten angeboten werden, als ein erfreulicher Brückenschlag.
Als größte Entdeckung im Rahmen der Ausstellungsvorbereitung ist die Auffindung der linken Hälfte einer zeichnerischen Kopie Falconettos durch Olaf Simon zu bezeichnen. Während die rechte Hälfte der Zeichnung nach einem Relief des Konstantinsbogens in Rom als solche bekannt und von Lorenza Melli bereits 2006 detailliert untersucht worden war, fand sich das Gegenstück unter den deutschen (!) Blättern der zweiten Garnitur des Dresdner Kupferstichkabinetts. Erneut zusammengefügt und unter UV-Licht besehen, wird deutlich, dass der Zeichnung nicht nur eine faktische Trennung – möglicherweise im Zuge einer symmetrischen Anbringung in einem barocken Albumkontext – zugemutet, sondern auch, dass die ursprünglich mittig in der Szene auf einem Podest stehende Figur kurzerhand ausradiert worden war.
In der Ausstellung ist die Zeichnung nun nicht nur wieder vereint – auch die ursprünglich mittig angelegte Dianafigur, deren flüssiges Zeichenmedium tief ins Papier eingedrungen war und nicht völlig getilgt werden konnte, tritt im enthüllenden UV-Licht wieder als verbindendes Glied beider Figurengruppen in Erscheinung.
Zusätzlich zu den aus den beiden Forschungsprojekten resultierenden Berichten und Katalogeinträgen runden zwei weitere Beiträge den Ausstellungskatalog ab: Gudula Metze, Andreas Henning und Eleonora Cagol (S. 40-45) geben Einblick in die Erwerbungsgeschichte früher italienischer Tafelgemälde und Zeichnungen für die Dresdner Bestände, wobei insbesondere im 19. Jahrhundert, als der Zeit aus der auch das titelgebende Zitat der „Wiege der Kunst“ [5] entstammt, vermehrt Ankäufe zugunsten einer geschlossenen, stilgeschichtlich-chronologischen Präsentation getätigt wurden. In dieser Zeit sollte zudem die Unterbringung sowohl der Gemäldegalerie als auch der graphischen Sammlung in unmittelbarer Nähe zueinander gegenseitige Erhellung erlauben, ähnlich, wie dies in der Ausstellung, die ausschließlich auf eigene Objekte zurückgreift, nun wieder erfolgreich vorgenommen wird.
Beide Bereiche gleichermaßen korrelativ im Blick, versammelt Wolf-Dietrich Löhr in seinem Katalogbeitrag (S. 10-19) zeitgenössische Stimmen, in deren Zusammenklang das Sprechen über Kunst als Diskurs evoziert wird, innerhalb dessen sich Zeichnung und Malerei zunehmend als Gegenstand ästhetischer Bildbetrachtung und theoretisierender Erörterung künstlerisch-geistigen Verfahrens etablierten. Wenn die „Wiege der Kunst“ (oder, objektiver ausgedrückt: die Entstehung eines neuzeitlichen Kunstbegriffs) gemäß der gängigen Ansichten im italienischen Tre- und Quattrocento verortet werden soll, dann, so macht die Ausstellung deutlich, ist diese ganz nah bei der Praxis des Zeichnens und dem die künstlerischen Verfahrensweisen reflektierenden Diskurs zu positionieren.

[1] Melli, Lorenza: I disegni italiani del Quattrocento nel Kupferstichkabinett di Dresda (Florenz, Istituto Universitario Olandese di Storia dell’Arte: 15.9.-5.11.2006), Florenz 2006.
[2] Vgl. Schölzel, Christoph: „…Eine Zeichnung […] so schön, dass jeder Mensch sich in Deine Arbeit verlieben wird.“ Zur Praxis der Unterzeichnung bei den italienischen Gemälden des 14. und 15. Jahrhunderts in der Dresdener Gemäldegalerie, S. 20-25.
[3] Dem Aufsatz- und Katalogteil sind ferner zwei Bestandsverzeichnisse zur tre- und quattrocentesken Malerei (Gemäldegalerie) und quattrocentesken Zeichnung (Kupferstichkabinett) angefügt. Letzteres versteht sich als Ergänzung und Aktualisierung zu Lorenza Mellis Katalog von 2006.
[4] Vgl. Melli, Lorenza: I disegni a due punte metalliche di Filippino Lippi. Una scelta funzionale, in: Faietti, Marzia/ Melli, Lorenza/ Nova, Alessandro (Hgg.): Le tecniche del disegno rinascimentale. Dai materiali allo stile, atti del convegno internazionale, Firenze, Kunsthistorisches Institut – Max-Planck-Institut, 22.-23.9.2008 (Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 52.2008 [2010], 2/3, S.88-108; Tannimoto, Satoko/ Verri, Giovanni: A note on the examination of silverpoint drawings by near infrared-reflectography, in: Studies in Conservation 54.2009, S. 106-116.
[5] Das Diktum geht auf den ehemaligen Direktor der Dresdner Gemäldegalerie, Friedrich Matthäi, zurück.

Staatliche Kunstsammlungen Dresden: An der Wiege der Kunst. Italienische Zeichnungen und Gemälde von Giotto bis Botticelli, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014
ISBN-13: 978-3-422-07290-9, 224 p., EUR 24,90

Recommended Citation:
Marion Heisterberg: [Review of:] An der Wiege der Kunst. Italienische Zeichnungen und Gemälde (Dresden) (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Residenzschloss, Oct 29, 2014–Jan 18, 2015). In: ArtHist.net, Nov 29, 2014 (accessed Oct 15, 2024), <https://arthist.net/reviews/9004>.

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