REV 01.07.2005

Wolfgang Voigt/Ingeborg Flagge (Hgg.): Dominikus Böhm

Rezensiert von Gabriele Wiesemann
Redaktion: Rainer Donandt

Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main konnte im Jahr 2003 den persönlichen zeichnerischen Nachlaß des Architekten Dominikus Böhm (1880-1955) von der Familie Böhm erwerben. Zu dem umfangreichen Konvolut gehörten 548 originale Skizzen und Zeichnungen des Architekten, darunter etliche der für Böhm typischen virtuosen und mit dramatischen Effekten arbeitenden großformatigen Kohlezeichnungen, sowie Planreproduktionen, Architekturfotografien von Hugo Schmölz und eine Sammlung von zeitgenössischen Zeitschriftenheften und Presseartikeln über Böhm.

Aus den Beständen dieses Ankaufs ist unter der Leitung von Wolfgang Voigt eine erste Ausstellung erarbeitet worden, die Böhms Hauptwerk, die Kirchenbauten der zwanziger und frühen dreißiger Jahre präsentierte (bis 19. Juni 2005). Der begleitende Katalog weist über die Ausstellung hinaus, indem er „den ganzen Böhm“ beschreibt.

In seinem einleitenden Aufsatz stellt Wolfgang Voigt die Biographie Böhms vor. Voigt gibt Einblicke in Böhms Aufstieg von einem wenig bekannten Zeichen- und Architekturlehrer in der Provinz (Baugewerkschule in Bingen ab 1907; Technische Lehranstalten in Offenbach ab 1908) zu einem der bedeutendsten Kirchenbaumeister der katholischen Kirche in Deutschland. Böhms große Karriere als Architekt begann nach dem Ersten Weltkrieg, im Alter von 40 Jahren. Für ihn, den tief gläubigen Katholiken, waren Kirchenbauten schon zuvor von zentralem Interesse gewesen; 1919/20 konnte er mit der Notkirche in Offenbach seinen ersten Sakralbau errichten. Im folgenden Jahrzehnt sollte Böhm mit seinen ausdrucksstarken und in ihren Formen völlig neuen Kirchen die Aufbruchstimmung im deutschen Katholizismus begleiten. Er gab den fortschrittlichen Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche ihre Gotteshäuser und gestaltete die Liturgiereform, deren spirituelles Haupt der katholische Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini (1885-1968) war. Der Priester Johannes von Acken (1879-1937) gab in seiner Schrift „Christozentrische Kirchenkunst“ von 1922 detaillierte Anleitung zum Bau der neuen Kirchen und illustrierte seine Gedanken mit Abbildungen von Böhms Kirchenentwürfen. Weit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil machten Böhms Kirchen eine völlig neue Art des Gottesdienstes möglich: der Altar stand nicht länger weit vorne im Chor der Kirche sondern in ihrer Mitte, die Gemeinde versammelte sich um den Altar und wurde aktiver Teil der Liturgie, statt wie zuvor den auf Latein gelesenen Messen lediglich beizuwohnen. Dafür entwarf Böhm „Einräume“: er plante Zentralbauten oder ließ bei Basiliken die Seitenschiffe sehr schmal werden, um das Mittelschiff zu betonen.

Seine Bauten hätten alleine, ohne die vielen begleitenden Veröffentlichungen ihre Wirkung nicht in derselben Weise entfalten können: Böhms Kirchen waren in Bauzeitschriften und in der Zeitschrift „Die christliche Kunst“ immer wieder präsent. Während Böhm in den zwanziger Jahren seinen Bekanntheitsgrad ausbauen konnte, 1926 als Professor für religiöse Kunst an den Kölner Werkschulen berufen wurde und auch seine Bauten von hohen kirchlichen Würdenträgern mit Interesse zur Kenntnis genommen wurden, wendete sich das Blatt für ihn in den dreißiger Jahren. Die Weltwirtschaftskrise nahm ihm die Aufträge, 1934 schied er aus den Kölner Werkschulen aus, indem er sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen ließ, und auch seine gewaltigen, stimmungsvollen Formerfindungen, die 1930-32 in den parabolischen Bögen der Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl ihren vorläufigen Höhepunkt fanden, wurden in Kirchenkreisen - vom Kölner Generalvikariat und sogar von Papst Pius XI. selbst - scharf kritisiert. Als es im Verlauf der dreißiger Jahre wieder Aufträge für Böhm gab, verzichtete er auf Extravagantes und entzog sich mit seinen nun stärker von romanischen Formen und Volumen inspirierten Bauten jeglicher Kritik.

Böhm auf ein Schlagwort zwischen „Moderne“ und „Tradition“ festzulegen, ist immer schwer gefallen, und hier liegt wohl auch der Grund dafür, dass es bisher kaum kunsthistorische Arbeiten über ihn gibt - solchen formal disparaten Oeuvres nähert man sich erst jetzt langsam an. Selbstverständlich war Böhm „modern“: die Liturgiereform war geradezu eine innerkirchliche Revolution, die dem neuen, dem modernen Menschen gerecht werden wollte. Die Grundrisse seiner Kirchen waren ebenso innovativ wie die konstruktiven Lösungen etwa für die Gewölbe. Mit seinen virtuosen Formerfindungen war Böhm dem künstlerischen Aufbruch verpflichtet, ohne allerdings nur die „Weiße Moderne“ zu vertreten. Die Anbindung an die Traditionen des Kirchenbaus stellte für ihn dazu keinen Gegensatz dar. Ganz selbstverständlich schöpfte er aus dem reichen Fundus historischer Vorbilder, in seinen Kirchen findet man „romanische Westwerke“, „gotisch-spitze Gewändeportale“, „hochgotische Netzgewölbe“ und anderes mehr. In Anlehnung an ein Zitat Böhms prägt Wolfgang Voigt für dessen Bauten der Zwanziger Jahre den Begriff der „Moderne mit Gemüt“.

Die Beziehung zwischen Dominikus Böhm und seinem 17 Jahre jüngeren Kollegen Rudolf Schwarz thematisiert Wolfgang Pehnt. [1] Auch Schwarz kam aus dem Umfeld der katholischen Reformbewegung, er war seit 1924 Burgbaumeister von Rothenfels, der katholischen Jugendburg am Main. Ende 1924 hat Böhm ihn an die Technischen Lehranstalten in Offenbach berufen. Die Künstlerfreundschaft zwischen den beiden Kirchenbaumeistern mündete in zwei gemeinsame Projekte für die Pfarrkirche in Menden 1925 und die Frauenfriedenskirche in Frankfurt am Main-Bockenheim 1926 (Wettbewerb mit fünf Beiträgen). Überhaupt unterstützten sie einander in beruflichen Dingen: Böhm verhalf Schwarz zu dessen wichtigstem Projekt, der Fronleichnamskirche in Aachen (1929/30) und förderte seine Berufung zum Direktor der Aachener Kunstgewerbeschule 1927. Schwarz seinerseits war im Schriftlichen wortgewandter als Böhm, er veröffentlichte dessen Bauten und hielt schließlich 1955 den Nachruf auf ihn.

Der mit „Vorhallen und Raumstimmungen“ überschriebene Aufsatz von Manfred Speidel enthält viel mehr, als dieser Titel vermuten ließe: eine kluge und einfühlsame werkanalytische Studie zu Böhms Kirchenbauten. Speidel verzichtet auf jegliche Rubrizierung von Böhms Oeuvre - selbst das Wort „Expressionismus“ vermeidet er (Böhm selbst wollte sich nie auf einen Begriff festlegen lassen, und es ist auch bis heute in der Architekturgeschichtsschreibung noch keine Einigung erzielt, was darunter zu fassen sei und was nicht). Es geht Speidel darum, Böhms künstlerische Absichten zu erkennen, und er nähert sich dem beschreibend und analysierend. Anhand von Böhms reichlich überlieferten Studienzeichnungen lässt sich der Entwurfsprozeß nachvollziehen, Böhm untersuchte etwa die Wirkung verschiedener Eingangssituationen, bis er sich schließlich für die effektvollste Lösung entschied. Er wollte mit ästhetischen Mitteln eine Wirkung auf den Betrachter ausüben, ihn schon mit der Eingangssituation beeindrucken, so dass er sich in die Kirche hineingezogen fühlt, und ihm dann beim Eintritt in das Gotteshaus eine Raumstimmung zu verschaffen, die ihm religiöse Andacht ermöglicht. Böhm stand fest auf dem Boden seiner Traditionen und bediente sich aus ihnen. Eine horizontverengende Präferenz hatte er dabei nicht: es konnte das Mausoleum von Sultan Hassan 1361 in Kairo ebenso Vorbild sein wie die deutsche Burgenarchitektur.

In einem zweiten Aufsatz widmet sich Speidel der Planungsgeschichte von Böhms umfangreichstem Projekt, der seit 1928 ausgeführten städtebaulichen Planung zum Montagsmarkt im oberschlesischen Hindenburg (heute Zabrze), die nur teilweise realisiert worden ist. In der Hindenburger Südstadt konnte Böhm mit St. Josef (1929-31) seinen größten Kirchenbau verwirklichen.

Einen bisher übersehenen Aspekt der Wirkungsgeschichte von Böhm beleuchtet Kathleen James-Chakraborty in ihrem Aufsatz „Dominikus Böhm in Amerika“. Durch Publikationen vor und auch nach dem Zweiten Weltkrieg war Böhm mit seinen Bauten in der amerikanischen Architekturszene präsent. Bewundert und rezipiert wurden insbesondere die kühne Schalenkonstruktion von St. Engelbert in Köln-Riehl (1932) und St. Josef in Hindenburg (1929-31). Die Rezeption umfasste zum einen die leicht nachvollziehbaren Formenübernahmen, wie die auf St. Engelbert zurückgehende Prior Chapel, Creve Coeur, Missouri, USA des Architekten Gyo Obata in den 1950er Jahren. Zum anderen, und dies betont James-Chakraborty zu Recht und belegt es mit Beispielen, ließen sich die Architekten in der Neuen Welt gerne von Böhms Raumstrukturen und -stimmungen inspirieren und verarbeiteten dies zu Eigenem.

Das Verhältnis des Architekten zu den angewandten Künsten behandelt Christian Welker. Böhm wurde 1910 Mitglied des drei Jahre zuvor gegründeten Deutschen Werkbundes, und seine Entwürfe etwa für Möbel entsprachen der zeitgemäßen Werkbund-Ästhetik. Sie wiesen einfache klare Formen auf und waren sparsam mit Ornamentik ausgestattet. Den Werkbund-typischen Anspruch umfassender Gestaltung „vom Sofakissen zum Städtebau“ vertrat Böhm in seinen Kirchen ganz offensichtlich, die architektonische Hülle war ihm ebenso wichtig wie die Materialien im Innenraum und die Ausstattungsstücke. Mit einigen Malern oder Bildhauern arbeitete Böhm bevorzugt zusammen, so bezog er seit 1926 gerne Kollegen und Schüler der Kölner Werkschulen in seine Projekte ein. Kaum bekannt war, dass Böhm Glasfenster entwarf. Welker stellt sie vor: sie waren ornamental, abstrakt oder symbolisch. Johan Thorn Prikker, der Pionier der modernen Glasmalkunst, erhielt Mitte der zwanziger Jahre den Auftrag für die Fenster der Kirche in Neu-Ulm. Von ihm inspiriert entwickelte Böhm bald eigene Fensterentwürfe für seine Kirchen und wurde noch von Zeitgenossen als dem Vorbild ebenbürtig bezeichnet.

Die Werkliste, zusammengestellt von Christine Nielsen, verzeichnet die bekannten Projekte, Wettbewerbsbeiträge und ausgeführten Bauten von Böhm. Mit 388 Positionen dokumentiert sie beeindruckend den Umfang seines Oeuvres und führt die Baugeschichte der wichtigsten Projekte knapp und präzise auf.

Der Katalog lässt Böhm als Menschen und als Architekten präsent werden. An vielen Stellen verschränkt er die Entwicklungen von Biographie und Oeuvre. Alle Themen werden nahe an den historischen Quellen entlang entwickelt, viele davon sind erstmals genutzt und besprochen. Es war nicht das Ziel dieser Ausstellung und des begleitenden Kataloges, sämtliche Aspekte von Werk und Biographie Böhms zu behandeln. So fehlt beispielsweise die Einordnung von Böhms besonderer Musikalität: Böhm kam von der Musik zur Architektur, er hat zeitlebens komponiert, kleine geistliche Werke für die liturgische Feier und Kinderlieder für seine Söhne und Enkel. Böhm war selbst der Ansicht, seine kleinen geistlichen und weltlichen Kompositionen könnten seine Bauten besser erläutern, als er es mit Worten vermöge. [2] Die künftige Böhm-Forschung wird hinter den Anspruch und das Niveau dieses Buches nicht zurück können.

Anmerkungen:

[1] Pehnt hatte bereits 1997 die Ausstellung zur Rudolf Schwarz im Kölner Museum für Angewandte Kunst betreut. Wolfgang Pehnt, Hilde Strohl: Rudolf Schwarz 1897-1961. Architekt einer anderen Moderne, Ostfildern-Ruit 1997.

[2] Einige Kompositionen von Böhm sind unlängst auf einer CD eingespielt worden. Dominikus Böhm: Kompositionen. Kinderlieder, geistliche Musik und Chormusik. Hg. von Paul Böhm. Regensburg: Schnell und Steiner 2005 - ISMN M-000-0110-7, dazu ein Notenband unter ISBN 3-754-1752-X.

Voigt, Wolfgang; Flagge, Ingeborg; (Hrsg.): Dominikus Böhm. 1880 - 1955, Tübingen [u.a.]: Ernst Wasmuth Verlag 2005
ISBN-10: 3-8030-0651-1, 200 S, EUR 49.90, sfr 85.50

Empfohlene Zitation:
Gabriele Wiesemann: [Rezension zu:] Voigt, Wolfgang; Flagge, Ingeborg; (Hrsg.): Dominikus Böhm. 1880 - 1955, Tübingen [u.a.] 2005. In: ArtHist.net, 01.07.2005. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/90>.

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