REV 15.02.2011

Rune Frederiksen; Eckart Marchand (Hrsg.): Plaster casts

Rezensiert von Astrid Fendt, Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin
Redaktion: Karin Leonhard
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Gipsabgüsse fanden in den vergangenen Jahren ein wachsendes wissenschaftliches Interesse, sei es in ihrer Funktion als Kunst- und Ausstellungsobjekte oder als Medien für Künstler und Wissenschaftler. Erforscht wird das Herstellen, Sammeln, Restaurieren, Präsentieren und Zerstören von Gipsabgüssen. Der von Rune Frederiksen und Eckart Marchand herausgegebene Sammelband ist aus einer Tagung im Jahr 2007 in Oxford hervorgegangen. Sie ist Teil einer Trilogie von Konferenzen zu Gipsabgüssen. Die anderen Tagungen fanden – jeweils mitorganisiert von Marchand – in Reading (2005) und London (2010) statt. Vorliegender Band deckt epochen- sowie regionenübergreifend sehr unterschiedliche Themenfelder ab. Dementsprechend befinden sich unter den Autoren Archäologen, Kunst- und Wissenschaftshistoriker, Kuratoren, Restauratoren, Sammler und Künstler.

Chronologisch und thematisch geordnet umfasst der Band 36 Beiträge, die einen Bogen von der Antike bis in die heutige Zeit spannen. Den ersten Teil gestalten Artikel, die den Umgang mit und die Bedeutung von Gipsabgüssen in verschiedenen Epochen beleuchten. Dabei befassen sich die ersten beiden Beiträge mit der Funktion von Gips und Gipsabgüssen als Material und Modelle für Künstler in der Antike. Rune Frederiksen legt dar, welche Rolle Gipsmasken, -modelle und -abgüsse von altägyptischer bis römischer Zeit vor allem im Arbeitsprozess von Künstlern spielten. Sie konnten einen einzelnen Arbeitsschritt auf dem Weg hin zum endgültigen Kunstwerk ebenso wie die Kopie des Originalmodells als Grundlage für weitere detailgetreue Vervielfältigungen darstellen. Letzteres vertieft Christa Landwehr in ihrem Beitrag über die fragmentarisch erhaltenen Gipsabgüsse von lebensgroßen Bronzestatuen aus klassisch-griechischer Zeit, gefunden in Baiae/Italien.

Die folgenden drei Beiträge beschäftigen sich mit dem Material Gips sowie dem Aufkommen von Gipsabgüssen in der Renaissance. Eckart Marchand zeichnet das künstlerische Umfeld und die bis ins Mittelalter zurückreichenden bauplastischen Traditionen nach, unter welchen die ersten Gipsabgüsse von antiken Skulpturen sowie Gipsnachbildungen im renaissancezeitlichen Italien erstellt wurden. Die Kenntnisse vom Umgang mit dem Material für freiplastische Arbeiten und Reproduktionen wurden in den Maler- und Bildhauerateliers tradiert. Dort war Gips eines von mehreren Materialien, die vor allem zur Imitation anderer, wertvollerer Materialien herangezogen wurden. Walter Cupperi vertieft die Frage nach den Anfängen der Herstellung und Distribution von Gipsabgüssen antiker Skulpturen am Beispiel der ersten Gips- und Bronzeabgüsse von berühmten Großplastiken aus dem Vatikan durch die Ateliers von Francesco Primaticcio und Leone Leoni um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Den Aspekt der Bauplastik aus Gips beleuchtet Martin Biddle am in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erbauten Nonsuch Palace von König Heinrich VIII. in Surrey/Großbritannien.

Die drei sich anschließenden Beiträge widmen sich der Herstellung und Verteilung von Gipsabgüssen vom 18. bis 20. Jahrhundert. So wurden in Mitteldeutschland im späteren 18. Jahrhundert Gipsabgüsse von antiken Statuen aus italienischen Sammlungen über Zwischenhändler wie die Gebrüder Ferrari aus Mailand oder den Leipziger Kunsthändler Carl Christian Heinrich Rost verbreitet (Charlotte Schreiter). In London hingegen stellten im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert neben den vielen dort ansässigen italienischen Gipsgießern sich auch rein englische Familienunternehmen Gipsabgüsse her (Peter Malone). Jan Zahle geht in seinem Beitrag anhand von Beispielen aus Skandinavien der komplexen Frage nach, welche verschiedenen Versionen von Gipsabgüssen des Laokoon seit dessen Auffindung 1506 im Umlauf waren und wie diese in Abhängigkeit von den diversen Ergänzungsphasen des Originals ebenfalls materiellen Veränderungen unterlagen.

Der zweite Teil des Tagungsbandes ist thematisch organisiert. Die ersten drei Beiträge konzentrieren sich auf die Sammlungspolitik in Kunstakademien wie der Französischen Akademie in Rom, deren Präsident, Nicolas Vleughels, die Abguss-Sammlung 1725 neu arrangierte und dadurch die Künstlerausbildung nachhaltig beeinflusste (Tomas Macsotay). Claudia Sedlarz stellt den Aufbau der Gipsabguss-Sammlung an der Akademie der Künste in Berlin dar. Elisabeth Fuentes Rojas beschäftigt sich mit der seit 1791 bestehenden Sammlung antiker und nachantiker Gipsabgüsse in der Academia de San Carlos in Mexico City. Die Abgüsse wurden zunächst über die Real Academia de San Fernando in Madrid, dann Mitte des 19. Jahrhunderts über den Bildhauer Pietro Tenerani in Rom und schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Akademie in Paris bezogen.

Einen breiten Raum nimmt in dem Sammelband der Umgang mit Gipsmodellen und
-abgüssen in Künstlerateliers ein. Acht chronologisch angeordnete Beiträge widmen sich dem Thema, beginnend mit Werkstätten im 17. und 18. Jahrhundert in Antwerpen und Brüssel (Léon E. Lock). Eine wegweisende Rolle spielte das Atelier von Antonio Canova im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Dort etablierte sich das Gipsmodell als ‚Originalmodell’ im Werkprozess (Johannes Myssok). Der Frage nach der Rolle des Gipsmodells im Diskurs um die ‚Originalität’ einer Skulptur geht auch Matthew Greg Sullivan am Beispiel der sich im Ashmolean Museum/Oxford befindlichen Sammlung der Gipsmodelle des Bildhauers Sir Francis Chantrey nach. Jean-François Corpataux beschäftigt sich mit dem Phänomen der Lebendabgüsse am eigenen Körper im Werk der französischen Bildhauerin Marcello (2. Hälfte 19. Jh.). Sharon Hecker zeichnet nach, wie der italienisch-französische Bildhauer Medardo Rosso in seinem an der Wende zum 20. Jahrhundert geschaffenen Œuvre die traditionelle Rolle von Gips als Hilfsmittel im Werkprozess auflöste zugunsten eines eigenständigen Materials für Skulpturen. Die abschließenden Beiträge untersuchen den Stellenwert von Gips bei dem italienischen Futuristen Umberto Boccioni (Maria Elena Versari) und in der zeitgenössischen Kunstproduktion (Sue Malvern, Jane McAdam Freud).

Mit der Konservierung, Restaurierung und Magazinierung von Gipsabgüssen beschäftigen sich Artikel zur polychromen hochmittelalterlichen Stuckplastik in der Halberstädter Liebfrauenkirche (Daniela und Torsten Arnold, Elisabeth Rüber-Schütte) sowie über die Sammlung von Gipsmodellen und -abgüssen griechischer Künstler des 20. Jahrhunderts in der Nationalgalerie in Athen (Maria Kliafa, Michael Doulgeridis). Ángeles Solís Parra, Judit Gasca Miramón, Silvia Viana Sánchez und José María Luzón Nogué stellen die Ankaufmodalitäten und die aktuelle Restaurierung von zwei Gipsabgüssen antiker Figuren vor, die Diego Velázquez um 1650 in Rom für den spanischen Hof erwarb. Diese Statuen weisen unzählige Oberflächenschichten auf und geben in ihrer ursprünglichen Anlage den Zustand der heute aufgrund von späteren Restaurierungsmaßnahmen veränderten Originalfiguren Mitte des 17. Jahrhunderts wider.

Drei weitere Beiträge gehen dem Thema der antiken Architekturmodelle und der Gipssammlungen von Gemmen- und Kameenabdrücken in Göttingen (Daniel Graepler) sowie Oxford (Claudia Wagner, Gertrud Seidmann) nach. Valentin Kockel beschreibt, wie seit Mitte des 18. Jahrhunderts antike Architektur zunächst in dreidimensionalen Kork- und Gipsmodellen, dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausschnittartig als Gipsrekonstruktion im Maßstab 1:1 nachgebaut wurde.

Sieben Beiträge untersuchen die Rolle der Gipsabguss-Sammlungen von Skulptur und Architektur vor allem im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert in Nationalmuseen wie dem Victoria and Albert Museum in London (Diane Bilbey, Marjorie Trusted), dem Musée de Sculpture Comparée in Paris (Axel Gampp), dem Nationalmuseum in Prag (Dana Stehliková), dem Pushkin Museum in Moskau (Tobias Burg) und dem Auckland War Memorial Museum (Ian Cooke). Stephen L. Dyson zeichnet den Weg nach, auf dem Gipsabgüsse im 19. Jahrhundert zunächst als Instrumentarium für Künstler, dann über Universitätssammlungen in die USA gelangten. Malcom Baker beschäftigt sich mit Gipsabgüssen als eines von verschiedenen Reproduktionsmedien in den Museen des 19. Jahrhunderts.

Abschließend beleuchten vier Beiträge historische und aktuelle Gipsabguss-Ausstellungen wie die Sammlung von Sir John Soane in London (Helen Dorey), den in den 1930er Jahren konzipierten Museumsneubau an der Universität Padua für antike und zeitgenössische Gipsabgüsse (Alessandra Menegazzi) und die aktuellen Präsentationen von Gipsabgüssen im Musée de Louvain-la-Neuve in Belgien (Bernhard van den Driessche). James Perkins stellt seine rund 3000 Objekte umfassende Gipsabguss-Sammlung vor, die heute in einem privaten Umfeld in dem Herrenhaus Aynhoe Park in Oxfordshire/Northampton präsentiert wird.

Insgesamt bietet der vorliegende, sehr lesenwerte Tagungsband einen umfangreichen Einblick in aktuelle Fragestellungen und Forschungen vor allem zu historischen Gipsabguss-Sammlungen, aber auch zum künstlerischen Umgang mit dem Material Gips. Die thematische Untergliederung der Kapitel ordnet die Fülle der Artikel sinnvoll. Vor allem in den ersten beiden Sektionen des Bandes zur Funktion von und zum Umgang mit Gipsabgüssen in der Antike und der Renaissance bieten die einleitenden Beiträge einen guten historischen Überblick, in den sich die daran anschließenden Fallbeispiele einordnen lassen. Die übrigen Kapitel bestehen aus Einzelbeiträgen, deren Tragweite sich oft erst dann vollständig erschließt, wenn man mehrere der Beiträge gemeinsam und aufeinander bezogen liest. Der geographische Schwerpunkt der Artikel liegt naturgemäß auf dem mitteleuropäischen Raum, wenn auch Studien zu Sammlungen in Amerika und Australien versuchen, diesen Fokus zu erweitern.

Rune Frederiksen; Eckart Marchand (Hrsg.): Plaster casts. Making, collecting and displaying from classical antiquity to the present (= Transformationen der Antike; Bd. 18), Berlin [u.a.]: Walter de Gruyter 2010
ISBN-10: 3-11-020856-3, XII, 752 S, Euro 129,95

Empfohlene Zitation:
Astrid Fendt: [Rezension zu:] Rune Frederiksen; Eckart Marchand (Hrsg.): Plaster casts. Making, collecting and displaying from classical antiquity to the present (= Transformationen der Antike; Bd. 18), Berlin [u.a.] 2010. In: ArtHist.net, 15.02.2011. Letzter Zugriff 18.04.2024. <https://arthist.net/reviews/899>.

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