REV 30.06.2005

Anna Minta: Israel bauen

Rezensiert von Ita Heinze-Greenberg, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich ETH
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Am 14. Mai 1948 rief David Ben Gurion offiziell den Staat Israel aus. Ihm war damit die Umsetzung von Theodor Herzls zionistischer Utopie „Altneuland” in die Wirklichkeit gelungen. Bei den Graduiertenfeierlichkeiten am Technion Haifa im Sommer 1962 ehrte die Architekturfakultät ihn mit einem Doktor h.c. für seine Verdienste als Erbauer der Nation. Dem architektonischen und städtebaulichen „nation building” unter Ben Gurions Aegide widmet sich nun eine ebenso umfassende wie bemerkenswerte Arbeit von Anna Minta. Es ist die überarbeitete Version ihrer vor gut zwei Jahren im Fach Kunstgeschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eingereichten Dissertation. Die Publikation kommt zu einem Zeitpunkt, da die Entwicklung des Staates Israel wieder einmal mehr im Brennpunkt des Interesses der deutschen Öffentlichkeit steht.

Anlass für zahlreiche seit Anfang des Jahres laufende Ausstellungen, Film- und Vortragsreihen, sowie etliche TV- und Radioprogramme über Geschichte, Politik und Kultur des modernen Israel sind die Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Jubiläum deutsch-israelischer Beziehungen, die auf die intensiven Bemühungen Ben Gurions und Adenauers zurückgehen. Die sicher umfangreichste Schau in diesem Zusammenhang zeigt der Berliner Martin-Gropius-Bau mit der im Mai eröffneten Ausstellung „Die neuen Hebräer. Hundert Jahre israelische Kunst“ (20.5.-5.9.2005).[1] In ihr wird einmal mehr deutlich, wie sehr Kunst in Israel grundsätzlich mit Politik zu tun hat. Während sie in der Aufbauphase fast ausschließlich im Dienste nationaler Ziele stand, hat sie sich in den letzten drei Jahrzehnten als scharfe Kritikerin politischer Machenschaften im eigenen Land und Tabubrecherin der nationalen zionistischen Narration etabliert.

Vor diesem Horizont nimmt die Architektur Israels ebenfalls eine pointiert ambivalente Position ein. Sie erfüllt ihre ureigenste, schützende Aufgabe, die Bergung der Bedrängten und Bedrohten, die Schaffung eines (neuen) Heims für Flüchtlinge. Aber sie okkupiert auch und besetzt, und zwar durchaus im „militärischen“ Sinn: Sie definiert Grenzen und territoriale Ansprüche, sie setzt Fakten.[2] Beide Aspekte – Schutz und Waffe – liegen in schockierender Nacktheit Israels letztem und größtem architektonischen Projekt, dem Bau der Mauer zugrunde.[3] Sie ist die ultimative Manifestation der Erstarrung des Dialogs zwischen Arabern und Juden, vor der der Architekt Erich Mendelsohn schon in den Dreißiger Jahren gewarnt hatte. Er propagierte eine Ost-West-Synthese, [4] und was er darunter verstand, zeigte er in der Villa für Chaim Weizmann von 1935. Sie war, wenn man so will, der erste Staatsbau, das „White House“ des ersten Präsidenten-in-spe im Staate Israel-in-spe.

Bei den offiziellen Staatsbauten, die nach der Gründung Israels 1948 entstanden, ist grundsätzlich von einem sensiblen Dialog mit dem Genius loci, bzw. mit der lokalen arabisch-semitischen Kultur oft nur noch wenig spürbar. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Phase unmittelbar nach der Staatsgründung entscheidend durch die Erfahrungen des Holocaust, des Unabhängigkeitskrieges, sowie der permanenten Konflikte mit den Nachbarländern geprägt wurde. Die sich daraus entwickelnde israelische Sichtweise, dass die Welt prinzipiell feindlich und antisemitisch, und dass keinem Außenstehenden zu trauen sei, führte zu der Überzeugung, dass allein eine selbstsichere Politik der Stärke und Macht das Überleben des jüdischen Volkes und des Staates Israel garantieren könne. Diese Haltung wurde in kaum einer Disziplin so direkt und unmittelbar ausgedrückt wie in Architektur und Städtebau des Landes.

Mit diesen Überlegungen nähert sich Mintas Recherche und Analyse der Architektur, Stadtplanung und Denkmalpolitik in Israel. Als zeitlichen Rahmen hat sie die Phase zwischen 1948/49 und 1967, also zwischen Unabhängigkeitskrieg und Sechs-Tage-Krieg gewählt, die wesentlich von nationaler Identitätskonstruktion und selbstbewusster Darstellung territorialer Ansprüche geprägt war. Zwei Städte stehen im Fokus, die von besonderer historischer Relevanz und politischer Brisanz sind: Jerusalems Entwicklung zur Landeshauptstadt sowie Beer Shevas Renaissance als Wüstenoase.

Die Einleitung – das erste von insgesamt fünf Kapiteln – gibt einen kurzen Abriss der ideologischen Grundlagen des modernen politischen Zionismus mit einem interessanten Exkurs über den Legitimationsstifter Bibel zur Verortung des modernen Eretz Israel. Die ab 1908 einsetzenden zionistischen Siedlungsaktivitäten legen die Grundlagen für die nationale Raumplanung nach 1948, die im Mittelpunkt des nächsten Kapitels steht. Eine zentrale Rolle übernahm hier der Bauhaus-Schüler Arieh Sharon, der ein dem Arbeitsministerium unterstelltes Team von zeitweise bis zu 170 Fachkräften leitete, dessen Aufgabe die Erstellung eines Nationalplans war. Bei der strategischen Umsetzung einer möglichst gleichmäßigen Besiedlung des Landes wurden Ideen von Ebenezer Howard, Raymond Unwin, Patrick Geddes und Lewis Mumford rezipiert.

Die Entwicklung Jerusalems zur Hauptstadt Israels – Thema des dritten Abschnitts – steht unter dem Zeichen der Planung neuer nationaler Institutionen sowie der Schaffung von kulturhistorischen Symbolen als kollektive Bedeutungsträger. Die großen staatlichen Bauaufgaben wie das Israel Museum, das Regierungsviertel mit Parlament, sowie Yad Vashem in Verbindung mit dem Berg der Erinnerung und dem Wiederaufbauprojekt des jüdischen Viertels der Altstadt nach 1967 legen ein beredtes Zeugnis vom politischen Selbstverständnis Israels ab. Neben der Bibel wird immer wieder der Holocaust als Legitimations- und Identitätsstifter für den neuen Staat bemüht und instrumentalisiert. Minta legt dies besonders anschaulich an der programmatischen Verknüpfung zwischen Yad Vashem und dem Knessetgebäude dar, die über ihr symbolisches Skulpturenprogramm die Zerstörung des jüdischen Volkes in der Diaspora und seine Auferstehung im Staate Israel thematisieren. Dieses Kapitel gewinnt vor dem Hintergrund des am 10. Mai eröffneten Holocaust Mahnmals von Peter Eisenman im Berliner Regierungsviertel an besonderer Aktualität. Dass keine Erinnerung in die Welt tritt, die nicht zugleich Gegenwartsinteressen dient, läßt sich gerade im Vergleich des differierenden Umgangs mit dem Shoa-Andenken in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands verdeutlichen.[5]

Neben Jerusalem wird unter Ben Gurion vor allem die Entwicklungsförderung Beer Shevas betrieben. Die Wüstenstadt im Negev, deren Ursprünge sich bis in biblische Zeit zurückverfolgen lassen, erhält im nach 1948 erstellten Nationalplan eine zentrale kulturpolitische Bedeutung. Sie lässt sich unter der schlagkräftigen zionistischen Parole von der Umwandlung der Wüste in einen Garten Eden einordnen. Beer Sheva wird zum Experimentierfeld neuer Bau- und Siedlungsformen, die, wie Minta nachweist, immer auch unter geopolitischen Prämissen stehen.

Für Ben Gurion waren Siedlungs- und Kulturpolitik eng miteinander verbunden. Die Schaffung ausreichender Bildungseinrichtungen beurteilte er als maßgeblich für den erfolgreichen Aufbau einer Staatsnation. Minta nimmt dies zum Ausgangspunkt, in ihrem Abschlusskapitel auf Planung und Bau der Universitätscampi und ihre Bedeutung im Kontext der nationalen Identitätskonstruktion einzugehen.

Minta hat in ihrer Arbeit eine unglaubliche Menge an Material und Informationen verarbeitet. Über eine sorgfältige Literaturrecherche hinaus basiert ihre Studie auf umfangreichem, oft bislang unpubliziertem Archivmaterial sowie, was besonders hervorzuheben ist, auf zahlreichen Interviews mit maßgeblichen israelischen Architekten und Planern, unter ihnen Moshe Safdie und Ram Carmi, sowie mit politischen Entscheidungsträgern wie z.B. Jerusalems ehemaligem Bürgermeister Teddy Kollek. Alle Kapitel sind durch gutes Abbildungsmaterial angereichert, das vielfach aus schwer zugänglichen Privatsammlungen stammt.

Mintas Studie ist nicht nur eine äußerst umfassende, grundlegende Dokumentation, sondern darüber hinaus ein Vorstoß in Neuland. Sie kommt zwei in Kürze zu erwartenden Veröffentlichungen israelischer Kollegen über ähnliche Themenkomplexe um einige Monate zuvor, und zwar Alona Nitzan-Shiftans „Israelizing Jerusalem: The Politics of Architecture and Beauty in a Contested City” sowie Zvi Efrats „The Israeli Project: Building and Architecture 1948-1973”. [6] Wie Minta setzen beide israelische Architekturhistoriker ihr Hauptaugenmerk auf die Bedeutung von Architektur und Städtebau in Israel als geo- und kulturpolitische Instrumentarien.

Mintas Arbeit ist dem so genannten postzionistischen Ansatz verpflichtet. Sie ist damit eine der ersten, die die Ende der Achtziger Jahre aufkommende Methode der israelischen „Neuen Historiker” auf die Kunst-, bzw. Architekturgeschichte überträgt. Die auch unter der Bezeichnung Postzionisten bekannte Gruppe (nach 1948 geborener) israelischer Historiker hat die Geschichte des modernen Zionismus sowie das Werden des Staates Israel einer umfassenden Prüfung und Korrektur unterzogen. Bis dato tabuisierte Gründungsmythen des Staates Israel, so zum Beispiel die freiwillige Migration der arabischen Bevölkerung, wurden revidiert. Grundlegend für ihre Forschungen wurde ein Perspektivwechsel, der Israels Politik nicht mehr unter der Prämisse des Leidträgers, sondern des Machthabers interpretiert. In Israel selbst lösten ihre provozierenden Thesen einen leidenschaftlich bis aggressiv geführten Historikerstreit aus. [7]

Im deutschen Kontext wird die Rezeption dieser Debatte als nicht unproblematisch gesehen, zumal die Thesen der „Neuen Historiker” bisweilen dankbar von rechtsextremistischen oder anitzionistischen Gruppen aufgegriffen werden. Ein potentieller Missbrauch sollte jedoch grundsätzlich kein Hinderungsgrund für die Publikation fundierter Forschungsergebnisse sein. Einer emotional aufgeladenen Polemik versucht Minta durch einen äußerst sachlichen, akademisch-wissenschaftlichen Duktus ihrer Ausführungen entgegenzuwirken, der ihrer Studie einen etwas unterkühlten Ton und distanzierten Standpunkt verleiht.

Die Gestaltung des Buchcovers ist für den Ansatz ihrer Forschungsarbeit programmatisch. Es zeigt eine farbige Luftaufnahme des Jerusalemer Regierungsviertels. Im Vordergrund befindet sich das Israel Museum, dessen weiße Rechtecke und Quadrate in keilförmiger Formation in eine ocker bis goldbraun getönte Landschaft vorstoßen. Aus dem Helikoptercockpit gesehen vermittelt der Bau den Eindruck eines Fremdkörpers und widerspricht so dem Image, dessen er sich allgemeinhin in Israel erfreut, nämlich von sensibel in die Landschaft eingefügter Architektur. Diese Sicht jedoch mag sich nur aus einem Blickwinkel auf gleicher Augenhöhe einstellen.

[1] Ausstellungskatalog: Die Neuen Hebraeer. 100 Jahre Kunst in Israel ist von Doreet LeVitte Harten in Zusammenarbeit mit Yigal Zalmona. Berlin 2005. Neben exzellentem Abbildungsmaterial enthält er wichtige Beiträge israelischer Wissenschaftler zu den Kernthemen aus Politik, Kunst und Kultur.
[2] Siehe hierzu: Rafi Segal, Eyal Weizman (Hg.), A Civilian Occupation. The Politics of Israeli Architecture, Tel Aviv/London/New York 2003.
[3] Eyal Ofer (Hg.), Israel – Palästina. Die Mauer. Dreieich 2004.
[4] Erich Mendelsohns politisches Credo Palestine and the World of Tomorrow ist in dt. Übersetzung nachzulesen in: Ita Heinze-Greenberg, Regina Stephan (Hg.), Erich Mendelsohn. Gedankenwelten. Unbekannte Texte zu Architektur, Kulturgeschichte und Politik, Ostfildern-Ruit 2000.
[5] Siehe hierzu: Moshe Zuckermann, Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1999.
[6] Beide Arbeiten stehen kurz vor ihrer Fertigstellung, bzw. Publikation. Alona Nitzan-Shiftan ist Dozentin an der Architekturfakultät des Technion Haifa und arbeitet seit einigen Jahren an ihrer Studie über Jerusalem, mit deren Fertigstellung in Kürze zu rechnen ist. Zvi Efrat ist der Leiter der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem. Sein Buch wurde kürzlich im Tel Aviv Museum vorgestellt; vgl. Esther Zandberg, „Set in Concrete“, in: Haaretz vom 18.3.2005.
[7] Einen Überblick inklusive Übersetzung der wichtigsten Schriften zur Thematik bietet: Barbara Schäfer (Hg.), Historikerstreit in Israel. Die „neuen“ Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, Frankfurt a.M./New York 2000.

Minta, Anna: Israel bauen. Architektur, Städtebau und Denkmalpolitik nach der Staatsgründung 1948, [Berlin]: Dietrich Reimer Verlag 2004
ISBN-10: 3-496-01318-4, 462 S, EUR 59.00, ca. CHF 100.00

Empfohlene Zitation:
Ita Heinze-Greenberg: [Rezension zu:] Minta, Anna: Israel bauen. Architektur, Städtebau und Denkmalpolitik nach der Staatsgründung 1948, [Berlin] 2004. In: ArtHist.net, 30.06.2005. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/89>.

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