REV 03.03.2015

Niehr, Klaus (Hrsg.): Historische Stadtansichten aus Niedersachsen und Bremen 1450-1850

Rezensiert von Lena Thiel, Universität Kassel
Redaktion: Livia Cárdenas
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Bereits in den 1970er Jahren hatte sich die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen zum Ziel gesetzt, Bildzeugnisse der Orte im Land zu sammeln. Durch eine geglückte Kooperation mit dem Kunsthistorischen Institut der Universität Osnabrück schritt das Projekt in den letzten Jahren gut voran, wobei die Ansichten in einer Datenbank erfasst wurden, die inzwischen über mehr als 2000 Einträge verfügt. Einen Meilenstein in der Projektgeschichte setzt nun der vorliegende Sammelband, denn er präsentiert erstmals eine Auswahl dieser Stadtansichten in Katalogform. Um die Fülle des publizierten Materials sinnvoll einzugrenzen, legten die Projektbeteiligten sowohl formale als auch inhaltliche Kriterien an. Demnach wurden nur Ansichten aufgenommen, die einen Ort als Ganzes erfassen sowie als Malerei oder Grafik vorliegen. Zudem galt es, weniger populäres und vor allem seltenes Material zu präsentieren und dafür auf Altbekanntes beispielsweise aus Matthäus Merians Werkstatt zu verzichten. Der Einführung zufolge liegt der Publikation ein kulturwissenschaftlicher Bildbegriff zugrunde, der die vielschichtige Aussagekraft des Mediums betont und nach Funktionen fragt, die die Bilder oft schon im Zuge ihrer Entstehung erfüllen sollten. Sieben Autorinnen und Autoren machen diese Definition und das Aussagepotential von Stadtansichten anschließend in Essayform für ihren fachlichen Zugriff fruchtbar.

An erster Stelle steht der Beitrag von Klaus Niehr, der sich aus kunsthistorischer Sicht mit der Entstehung, Funktion und Verwendung des Bildformats auseinandersetzt. Er verdeutlicht Vielschichtigkeit und Wandel des Genres, das sich seit dem 13. Jahrhundert als eine Art Hybrid aus Plänen und Silhouetten entwickelte. Die Stadtansicht wird damit als Ergebnis künstlerisch-ästhetischer Vorlieben, erforderlicher Funktion und Interessenlage sowie pragmatischen Entscheidungen hinsichtlich Form und Technik definiert. Welchen Einfluss politische Ereignisse und komplexe Zusammenhänge auf bildliche Darstellungsweisen ausüben konnten, erörtert Niehr u.a. anhand einer Ansicht Oldenburgs von 1671, in der die Stadt kleinmaßstäbig im Hintergrund präsentiert wird, während im Vordergrund der Landesherr Graf Anton Günther das Bild dominiert, um die Unterwerfung des Ortes demonstrativ zu inszenieren. Solche historisch-politisch aufgeladenen Perspektiven wurden ab 1800 durch vorrangig ästhetisch bestimmte Landschaftswahrnehmungen ersetzt, weshalb das Jahr 1850 auch den Endpunkt der Studie markiert.

Städte in Regionalkarten des 16. bis 18. Jahrhunderts stehen im Zentrum von Beate-Christine Fiedlers Archivstudie, deren zeitgenössischen Kontext sich intensivierende landesherrliche Verwaltungsstrukturen bilden. Fiedler erläutert anhand von Augenscheinkarten, die vor allem in juristischen Kontexten, beispielsweise bei Grenzstreitigkeiten, eingesetzt wurden, den Wandel von detaillierten Veranschaulichungen hin zur pragmatischen Reduktion auf Charakteristika der jeweiligen Orte. Dieses Verhältnis von Detailreichtum und ausgewählten Akzenten greifen auch zwei weitere Beiträge auf: Der Pflanzenökologe Hansjörg Küster beleuchtet die Aussagekraft von Stadtansichten zur zeitgenössischen Landschaftstopographie. Er kann festhalten, dass Nutzungsweisen des städtischen Raums, wie stadtnah gelegene Viehweiden, individualisiert in die Abbildung integriert wurden. Bettina Schleier betrachtet Frühdrucke mit dem Ergebnis, dass sich zwar Wirtschaft und alltägliche Abläufe der Städte widerspiegeln, aber die Ansichten vor allem markante Inhalte mit Wiedererkennungswert in Szene setzten, ohne die Einzelheiten besonders zu gewichten.

Festungsanlagen demonstrierten die städtische Wehrhaftigkeit, so dass sich – wie Ulrich Schütte dokumentiert – ihre verschiedenartigen Bauformen gut in Bildformate integrieren ließen. Anhand einer Auswahl von Stadt- und Befestigungsplänen, die von mittelalterlichen Stadtmauern bis hin zu bastionären Anlagen des 17. Jahrhunderts reichen, belegt er die im Zuge einer Modernisierung der Wehrtechniken vollzogenen baulichen Anpassungen. Norbert Fischer beleuchtet aus kulturhistorischer Sicht die neuzeitlichen Veränderungen von Städten in Richtung eines öffentlichen Raums, der Möglichkeiten zur Herausstellung von Bürgerlichkeit als Lebensstil bot. Zur Erläuterung dient ihm das Beispiel der Friedhöfe: Mithilfe von Stadtplänen verdeutlicht Fischer, dass diese Orte im 16. und 18. Jahrhundert oft aus Platzmangel außerhalb der Stadtmauern verlagert und zu repräsentativen, parkähnlichen Anlagen umgestaltet wurden, die letztlich das Bürgertum als landschaftlichen Fluchtraum nutzte. Abschließend wirft der Historiker Thomas Vogtherr einen umfassenden Blick auf die vielfältigen Wandlungsprozesse frühneuzeitlicher Städte, beispielsweise im Zuge der Reformation. Dabei reflektiert er die von Kontroversen geprägte Forschung zur frühneuzeitlichen Stadt, die lange Zeit im Sinne eines Autonomieverlusts gegenüber den fürstlichen Autoritäten erzählt wurde. Die skizzierten Auseinandersetzungen über die Wiederherstellung frühneuzeitlicher Stadtbilder machen deutlich, dass dieser Abschnitt der städtischen Geschichte auch heutzutage noch Aktualität besitzt.

Der auf die Essays folgende Katalogteil präsentiert alphabetisch geordnet 235 Stadtansichten in adäquater Größe und hochwertigem Druck. Neben Angaben zu Titel, Autor, Maßen sowie zur Provenienz ergänzt jeweils ein kurzer Text die Ansichten. Außer einer Bildbeschreibung liefert er auch Informationen zur jeweiligen Ortsgeschichte sowie zur Art des Darstellungstyps und dessen Entstehungskontext. Das Beispiel Braunschweig, für das der Katalog sowohl Kupferstiche, u.a. von Franz Hogenberg, als auch Vogelschauen und einen Stadtplan beinhaltet, eignet sich, um den unterschiedlichen Darstellungstechniken, wie Stich oder Handzeichnung, sowie verschiedenen Perspektiven auf die Stadt nachzuspüren. Die zusätzlichen Informationen im Begleittext ermöglichen es zudem, die zeitgenössische Bedeutung der jeweiligen Ansicht für Repräsentation oder Verwaltungszwecke zu erkennen und einzuordnen.

Insgesamt bietet der Band eine gelungene Mischung aus fundierten Beiträgen zur Bedeutung von Stadtansichten, die auch über den Raum Niedersachsen und Bremen hinaus verweisen, sowie einen klar strukturierten Katalogteil, dessen kompakte Beschreibungen hilfreiche Informationen liefern. Die Handhabung des Bandes ist jedoch komplex, weil die Verweise auf einzelne Stadtansichten nicht immer im beigefügten Katalogteil, sondern oft nur über die Online-Datenbank greifbar sind, die jedoch während der Abfassung dieser Rezension noch nicht verfügbar war. Die Publikation offeriert dennoch allen (kultur)historisch arbeitenden WissenschaftlerInnen anregende Zugänge und reiches Quellenmaterial. Aufgrund der ästhetisch gelungenen Präsentation dürfte sie auch für ein nicht-wissenschaftliches Publikum interessant sein. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister und ein AutorInnenverzeichnis runden das Werk ab.

Niehr, Klaus (Hrsg.): Historische Stadtansichten aus Niedersachsen und Bremen 1450-1850, Wallstein Verlag 2014
ISBN-13: 978-3-8353-1534-1, 364 S., EUR 29,90, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Lena Thiel: [Rezension zu:] Niehr, Klaus (Hrsg.): Historische Stadtansichten aus Niedersachsen und Bremen 1450-1850, 2014. In: ArtHist.net, 03.03.2015. Letzter Zugriff 16.04.2024. <https://arthist.net/reviews/8433>.

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