REV 17.05.2005

John Onians (Hg.): DuMont-Weltatlas der Kunst

Rezensiert von Christoph Otterbeck
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Was alles fällt in den Zuständigkeitsbereich der Kunstgeschichte? Auch wenn sich die Praxis dieser akademischen Disziplin meist auf eine handvoll mehr oder minder kleiner Kulturregionen beschränkt, so ist diese Frage in Zeiten der fortschreitenden Globalisierung höchst umstritten. Im vergangenen Jahr erschien nun der gewichtige „Atlas of World Art“ von John Onians als Plädoyer für einen universalen Blick auf die Kunst und ihre Geschichte. Eine deutsche Übersetzung dieses groß angelegten Werks liegt unter dem Titel „DuMont Weltatlas der Kunst“ vor und bietet dem hiesigen Kunstpublikum einen neuartigen Überblick, bei dem die geographischen Dimensionen der Kunstgeschichte im Vordergrund stehen. Einbezogen wurde vom Herausgeber und seinen zahlreichen Autorinnen und Autoren das weite Spektrum der Kunst aller Kontinente, von den frühesten Spuren künstlerischer Gestaltung in der Steinzeit bis zu den Auktionshäusern der Gegenwart.

Der Kunsthistoriker John Onians leitet die „World Art Studies“ an der englischen University of East Anglia in Norwich und verspricht im Hinblick auf seinen Atlas, dass dieser es ermögliche, „jeden beliebigen Ort der Welt unter kunstgeschichtlichen Gesichtspunkten in den Blick zu nehmen“. Präsentiert wird die Kunstgeschichte in sieben Zeitabschnitten: 40000-5000 v. Chr., 5000-500 v. Chr., 500 v. Chr. - 600 n. Chr., 600-1500, 1500-1800, 1800-1900 und die Jahre 1900-2000. Zur Darstellung jeder dieser Epochen der Kunst wird eine Art imaginäre Erdumrundung vorgenommen, einer festgelegten geographischen Orientierung folgend: Nordamerika, Südamerika, Europa, Afrika, Asien, Australien und Ozeanien. Erklärtes Ziel dieser zunächst schematischen Zeit- und Raumaufteilung ist die gleichberechtigte Repräsentation der Kunst aller Völker. Mit Nachdruck wird betont, dass „keine Population, Gesellschaft oder Kultur (...) irgend bevorzugt behandelt“ wird. Dieses selbst gesteckte Ziel wird allerdings nicht erreicht, wie die weitere Unterteilung der geographischen Räume unschwer erkennen lässt. Einmal ist die kleinste behandelte Einheit ein ganzer Kontinent (Südamerika, Australien), dann handelt es sich um kulturelle Großregionen (Südostasien), oder aber es sind einzelne Länder (Niederlande). Insgesamt kommt dem kleinsten Erdteil Europa in allen sieben Kapiteln die deutlich größte Aufmerksamkeit zu.

Trotz dieser Arbeit mit sehr verschiedenen räumlichen Maßstäben werden in dem neuen Weltatlas der Kunst die außereuropäischen Kontinente erheblich stärker berücksichtigt als in allen bisherigen kunsthistorischen Überblickswerken, die mit einem Band auskommen. Zudem werden die Kulturen, beispielsweise Indiens oder Chinas, nicht nur mit ihrer Kunst der Vergangenheit vorgestellt, sondern immer auch bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Insgesamt präsentiert das großformatige Buch also 149 Raum/Zeit-Einheiten auf ebenso vielen Doppelseiten, an deren Erarbeitung annähernd 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt waren. Die thematisierten Einheiten heißen beispielsweise „Japan und Korea 600-1500“, „Südamerika 1500-1800“ oder „Nordafrika 1800-1900“ und „Italien 1900-2000“. Der Vorstellung dieser Kunstregionen dienen jeweils zwei Landkarten, zwei Abbildungen von Kunstwerken (in jedem Falle mit einigen Sätzen der Erläuterung) und ein Text, der die verbleibende Fläche füllt. Der Atlas ist also kein reines Kartenwerk. Die Texte und Abbildungen lassen den Atlas durchaus in der Tradition der kunsthistorischen Gesamtdarstellungen erscheinen. So hatte zum Beispiel Ernst Gombrich 1950 mit „The Story of Art“, eine meisterlich erzählte Geschichte vorgelegt, die allerdings nach den ersten Kapiteln sich weitgehend auf die europäische Kunstgeschichte beschränkt, mit Ausnahme des siebten Kapitels, das treffend den Titel „Blick nach Osten“ trägt und der Kunst der islamischen Länder und Chinas gewidmet ist. Hugh Honour und John Fleming legten 1982 „A World History of Art“ in einem Band vor, in dem sich in jedem der fünf großen Teile Seitenblicke auf außereuropäischen Kunst finden. Der „Atlas of World Art“ nimmt nun noch einmal eine Erweiterung vor, führt zu einer Vielzahl von bisher wenig beachteten Schauplätzen der Kunst, gibt aber die einheitliche Erzählperspektive auf.

John Onians selbst erläutert in der Einleitung die Perspektive seines Projekts. Dargestellt werden sollen mit der Kunst: Topographie und Rohstoffvorkommen, die Herstellung der Kunst, die Entwicklung von Traditionen und Stilrichtungen, zusätzlich die Beziehungen zu ethnischen, sprachlichen und religiösen Gemeinschaften sowie zu sozialen Einrichtungen. Diese Forderungen an die Mitarbeiter sind so umfassend wie unerfüllbar. Es wundert also kaum, dass die Beiträge jeweils nur einen Teil des Programms berücksichtigen, und selbst dabei bleibt kaum Raum für eine gründliche Vorstellung.

Verzeichnet werden auf den Landkarten zum einen Orte der Kunst im weitesten Sinne (wie Abbaustätten von Rohstoffen, archäologische Fundstätten, Bauwerke, Institutionen des Kunstbetrieb), zum anderen Bewegungen in der Kunstwelt (wie Handelswege, Künstlerreisen, „Einflüsse“ der Kunstgeschichte). Auf die Dynamik dieser künstlerischen Prozesse verweisen die großen bunten Pfeile im Kartenbild, deren Vorbilder offensichtlich die graphische Visualisierung von Feldzügen und Schlachten in alten Geschichtsatlanten oder Büchern über die Fahrten der Eroberer und Entdecker waren.

Für die Landkarten wird in diesem Atlas leider nie der zur Verfügung stehende Raum des großformatigen Buches genutzt. Die Karten müssen sich meist mit einem Viertel der Doppelseite begnügen, wenn sie nicht sogar noch kleiner sind. Dementsprechend ist die Darstellung auf den Karten bisweilen sehr gedrängt, die verwendeten Zeichen sind oft nicht dort eingetragen, wo das von ihnen Bezeichnete geographisch zu finden wäre. Dünne Linien oder Zahlen verweisen an den gemeinten Ort, und für einen Überblick über die geographische Verbreitung des Eingezeichneten sind diese Karten dann schwer brauchbar.

Es gibt Karten, auf denen nur sehr wenig eingetragen ist (Architektur und Denkmalkunst in Spanien und Portugal 1900-2000) und andere, die sich wegen ihrer Überfülle nur schwer entschlüsseln lassen (Italien 1500-1600). Einige Zeichen werden in dem Buch an vielen Stellen verwendet, andere beziehen sich nur auf eine einzige Karte. Verwirrend wird es dann, wenn das gleiche Zeichen in unterschiedlichen Karten mit verschiedener Bedeutung gebraucht wird. Ein kleiner Pinsel mit Farbspur etwa soll einmal ein „Zentrum künstlerischer Ausbildung“ anzeigen und wenige Seiten später meint er „Künstlerwohnhaus/Rückzugsort“. Insgesamt fehlte es an Anstrengung und Phantasie zu einer überzeugenden, einheitlichen graphischen Gestaltung.

Verwunderlich ist, dass der Weltatlas der Kunst die Grenzen der Kontinente als Grenzen der Darstellbarkeit der Kunst verwendet. In den Texten wird zwar auf Beziehungen hingewiesen, die es zwischen dem Orient und Europa, oder zwischen Europa und Amerika gab, die Karten aber zeigen das nicht. Es fehlen also Karten, welche die weite Ausstrahlung etwa des Islam oder des Habsburgerreiches deutlich machen könnten. Weltkarten wurden nur in Bezug auf steinzeitliche Funde und der von der UNESCO als gefährdet eingeschätzten Kunststätten der Gegenwart gezeichnet. Interkulturelle Austauschprozesse zwischen den Ländern und Kontinenten konnten so nur unzureichend angedeutet werden. Zwar appelliert Onians in seiner Einleitung an die Nutzer, sich stets zu vergegenwärtigen, „dass die Erde in Wirklichkeit nahezu kugelförmig ist“. Die Karten aber bringen ausschließlich streng genordete, rechteckige Flächen auf der Basis der Zylinderprojektion, die wegen ihrer starken Verzerrungen seit langem in der Kritik steht, besonders weil Europa und der Norden überproportional groß erscheinen gegenüber den Ländern der südlichen Hemisphäre. Dass es auch anders geht, zeigen einige Karten des schon 1988 von Chris Scarre herausgegebenen „Past Worlds, The Times Atlas of Archaeology“ (eine deutsche Ausgabe erschien 1990 unter dem Titel „Weltatlas der Archäologie“), die eine konkrete räumliche Vorstellung ermöglichen und ungewohnte Perspektiven bieten. Ähnliche Möglichkeiten werden in Onians Kartenwerk nicht genutzt, trotz seines erklärten Zieles, neue Blickwinkel zu ermöglichen und gegenüber überkommenen Konventionen in Distanz zu gehen. Die jeweiligen Leistungen der einzelnen Beiträge im Weltatlas der Kunst sind sehr verschieden. Zum Teil wird eine Art Einführung in die genannte Epoche gegeben, in anderen Fällen sind die Texte ohne Vorwissen kaum verständlich. In einigen Texten wird versucht, auch der Perspektive von Minderheiten gerecht zu werden, und es finden sich kritische Anmerkungen zu den Aneignungspraktiken, deren sich die Dominanzkulturen bedienten. Sicherlich enthält der Atlas in großer Zahl Hinweise auf nicht allgemein bekannte Sachverhalte der Kunst, oft aber kommt man mit den gelieferten Informationen nicht sehr weit und muss bereit sein, selbst an anderer Stelle weiterzusuchen. Das ist vielleicht der Preis, den man beim Versuch eines Blicks auf das Ganze zu zahlen hat.

Die schwierigste Frage für jeden Bearbeiter von Karten ist sicherlich diejenige, was im Kartenbild gezeigt wird und was weggelassen werden muss. Auf der Europakarte zum 20. Jahrhundert findet sich in Spanien, Italien und Deutschland jeweils nur ein Museum mit moderner Kunst eingetragen. Es trägt in jedem Falle den Namen „Guggenheim“ und befindet sich in Bilbao, Venedig bzw. Berlin. Die Deutschlandkarten zum 20. Jahrhundert bieten kaum einen brauchbaren Überblick über die darin thematisierte Kunst. Dresden gilt als Zentrum des Dadaismus, Murnau liegt im Norden von München, und zwischen Murnau und Köln - mit einem Hinweis auf Max Ernst - bleibt der Raum ganz leer. Eingezeichnet sind als einzige Ausstellungen im deutschsprachigen Raum nicht etwa – um einige mögliche Beispiele zu nennen - „Der Blaue Reiter“, „Neue Sachlichkeit“ oder die „documenta“, sondern allein die einzelnen Stationen der nationalsozialistischen Propagandaschau „Entartete Kunst“, die nach Informationen des Atlas auch in der Schweizer Gemeinde Waldenburg (Kanton Basel Landschaft) gezeigt worden sein soll -– ein peinlicher Fehler, denn sie war tatsächlich 1941 im schlesischen Waldenburg (dem heute polnischen Walbrzych) zu sehen. Nach solch zugegebenermaßen enttäuschenden Blicken auf einen im wörtlichen Sinne nahe liegenden Kulturraum bleibt nur die Hoffnung, dass die Experten in Bezug auf andere Gebiete sorgsamer gearbeitet haben, denn einzeln überprüfen kann der Nutzer diese Karten schließlich nicht.

Für viele Sachverhalte der Kunst gibt es sicherlich bessere Karten als in diesem Weltatlas der Kunst. Das betrifft nicht nur die alten Kernbereiche der Kunstgeschichte, zum Beispiel karolingische Pfalzen, die Pilgerwege nach Santiago de Compostela, die Ausbreitung der Zisterzienser oder Renaissance-Villen, sondern auch Kunststätten am Nil, Heiligtümer Japans oder die Felsbilder Australiens. Mit dem hier besprochenen Atlas liegt nun ein Versuch der Zusammenfassung zu einem Buch vor, aber leider wurden die bisher von vielen Forscherinnen und Forschern erbrachten kartographischen Leistungen nicht in genügendem Maße berücksichtigt. Insgesamt leuchtet in diesem Atlas das alte enzyklopädische Verlangen nach einer umfassenden Abbildung der Welt auf. Wenn die Geschlossenheit der graphischen Oberfläche auf den ersten Blick auch vielleicht eine Art Versprechen der Vollständigkeit suggeriert, so kann dieses niemals eingelöst werden. Es bleibt notwendigerweise bei einem Blick aus der Distanz. Das mag für eine erste Orientierung genügen, mehr aber nicht.

Onians, John (Hrsg.): DuMont-Weltatlas der Kunst, Köln: DuMont Buchverlag 2004
ISBN-10: 3-8321-5333-0, 350 S., ca. EUR 49.90, CHF 86.00

Empfohlene Zitation:
Christoph Otterbeck: [Rezension zu:] Onians, John (Hrsg.): DuMont-Weltatlas der Kunst, Köln 2004. In: ArtHist.net, 17.05.2005. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/82>.

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