REV 14.03.2005

Angela Fischel (Hg.): Instrumente des Sehens

Rezensiert von Claudia Blümle, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Im Rahmen des Forschungsprojektes „Das technische Bild“ am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin erscheint im Akademie Verlag halbjährlich das von Horst Bredekamp und Gabriele Werner herausgegebene kunsthistorische Jahrbuch für Bildkritik. Nach den bisher erschienenen Bänden „Bilder in Prozessen“, „Oberflächen der Theorie“ und „Bildtechniken des Ausnahmezustandes“ widmet sich die neueste, von Angela Fischel konzipierte Ausgabe den epistemischen Dimensionen des Bildes innerhalb von Kunst und Wissenschaften. Unter dem Titel „Instrumente des Sehens“ geht der vorliegende Band anhand von historischen wie zeitgenössischen Materialien der Frage nach, in welcher Weise optische Instrumente, wissenschaftliche Modelle des Sehens und künstlerische Bildtechniken sich gegenseitig bedingen und überlagern. Eine Fragestellung, an deren Entwicklung Kultur- und Kunstwissenschaftler sowie Wissenschaftshistoriker wie Friedrich Kittler, Svetlana Alpers, Jonathan Crary, Lorraine Daston, Peter Galison, Horst Bredekamp und Barbara Stafford maßgeblich beteiligt waren. Ausgehend von dieser Debatte und ihrer Fokussierung optischer Medien wie Thaumatrop, Laterna magica, camera obscura oder Photographie, stellt der vierte Band der „Bildwelten des Wissens“ das Mikroskop in seiner Eigenschaft, weder Bildtechnik noch Speichermedium zu sein, ins Zentrum des Interesses.

Verschiedene Beiträge berichten davon, wie die Naturwissenschaften versucht haben, das Mikroskop an Bildtechniken wie Zeichnung, Lithographie oder an Speichermedien wie Photographie und Computer anzuschließen. Eine Schlüsselposition nahm dabei, wie Erna Fiorentini in ihrem Aufsatz „Subjective Objective. The Camera Lucida and Protomodern Observers“ zeigt, die von William Hyde Wollaston um 1786 erfundene Camera Lucida ein. Sie projiziert im Gegensatz zur Camera Obscura kein äußerliches Bild, sondern ruft durch die Brechung des Lichts in einem Prisma direkt im Auge ein virtuelles Bild hervor, das dann, dem Nachbildeffekt vergleichbar, auf ein Blatt Papier übertragen werden kann. In Verbindung mit dem Mikroskop kam dieses Verfahren bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei der Herstellung wissenschaftlicher Abbildungen zum Einsatz. Gleichzeitig diente die Camera Lucida als Hilfsmittel, um Bilder nach der Natur zu zeichnen und zu malen, wie die von Pierre Henry de Valenciennes um 1800 verfasste Einführung in die Handhabung der Camera Lucida für Künstler zeigt. Der Einsatz dieser Technik führte zur Konstitution eines „protomoderne[n] Beobachter[s]“ (S. 64ff.), dessen Auge durch seine physiologischen Eigenschaften Objektivität und Subjektivität visueller Prozesse zusammen fallen lässt.

In „Das Versprechen der Retina. Zur Mikrofotografie Robert Kochs“ erläutert Franziska Brons, wie die Kopplung von Photoapparat und Mikroskop zu einer veränderten Theorie des Sehens führte. Die mikrophotographische Bildgenese steht bei Koch nicht einfach für die Repräsentation eines Gegenstandes, sondern für dessen Realpräsenz; sie wird nicht als Medium, sondern als „unmittelbar sehendes Auge“ (S. 26) verstanden. Anders als Descartes, der in die Camera Obscura ein Ochsenauge als Linse eingesetzt hatte, behandelte Willy Kühnes Versuch von 1877 den Bulbus (Augapfel) eines Kaninchens selbst als Kamera. Nach dreiminütiger Exposition im Sonnenlicht und mittels einer Behandlung mit Alaunlösung konnte er im Kaninchenauge selbst ein „scharf berandetes, nahezu quadratisches helles Bild“ (S. 24-25) erkennen. Auch wenn bei dieser Technik des sogenannten Optogramms im Gegensatz zur Photographie kein Abzug von der exponierten Retina hergestellt werden konnte und infolge dessen als Lithographie abgebildet werden musste, steht dieses Experiment dennoch exemplarisch für die Gleichsetzung von Retina und photographischer Platte.

Neben der gelungenen Mischung von Aufsätzen, Buchrezensionen und Projektvorstellungen hat der vorliegende Band auch in gestalterischer Hinsicht einiges zu bieten. So beginnt und endet „Instrumente des Sehens“ mit doppelseitigen Tafeln, die ähnlich wie Aby Warburgs Atlas Bilder aus unterschiedlichsten Bereichen versammeln und auf diese Weise überraschende formale Zusammenhänge herstellen: So findet man neben Beleuchtungslinsen und Fernrohren eine Augenmaske gegen das Schielen, und Galileo Galileis Mondzeichnungen rücken neben die runden Projektionsscheiben einer Laterna Magica. Faksimileblätter mit mikroskopischen Bildern gefärbter Präparate aus der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt Universität entsprechen ebenfalls ganz dem Konzept der Herausgeber. Die Bildserie, die einen Einblick in die„Geschichte der Präparations-, Fixierungs- und Färbetechnik in der Lichtmikroskopie der letzten 150 Jahre“ (S. 50) gewährt, ist ein schönes Beispiel für die von Hans-Jörg Rheinberger benannte Phänomenotechnik. [1]

Mikroskopische Bilder bildeten auch den Ausgangspunkt für Sigmund Freuds frühe Schriften zur organischen Neurologie, deren ästhetische Dimension den kommenden Psychoanalytiker zu entscheidenden Einsichten führte, wie Susanne Deicher in ihrem Aufsatz „Mikroskopische Bilder der Nervensysteme in Sigmund Freuds Publikationen der 70er und 80er Jahre“ nachweist. Das unter dem Mikroskop entstehende bewegte Bild der Nervenfunktionen verunmöglichte aufgrund seiner fehlenden Statik eine Beschreibung. Dieses Scheitern einer Bildbeschreibung war für Freud Anlass, sich von Anatomie, Physiologie und der Analyse mikroskopischer Bilder abzuwenden und brachte ihn dazu, das Unbewusste als „unsichtbare[n] Ursprungs- und Zielpunkt der psychoanalytischen Methode“ (S. 5) zu verstehen.

Der Beitrag „Augen wie Blindenhunde. Diderot im Salon“ von Peter Bexte handelt davon, wie die durch optische Instrumente ermöglichten neuen Wahrnehmungen nicht nur die Bildbetrachtung und -beschreibung, sondern auch das Verständnis von Raum und Sehen prägten. So habe Denis Diderot 1763 Gemälde von Claude-Joseph Vernet und Jean-Baptiste Greuze durch Lunetten (Operngläser) hindurch betrachtet, was Rahmen und Malweise zum Verschwinden brachte und dadurch das Gemälde in reine Natur verwandelt habe: Nicht mehr Nachahmung der Natur ist Thema, sondern die Erprobung der Blicke durch optische Instrumente, um die Wahrnehmung von Natur und Kunst zu erforschen. Dabei gelingt der Lunette mittels dem „sensualistische[n] Effekt geschliffener Gläser“ die „optische Distanz bei Unterbrechung taktiler Kontakte“ (S. 73) zu überbrücken.

Gerade der Blick durch das fremde und neue Bildwelten eröffnende Mikroskop kann heute Anlass für die Frage sein, ob die Theorie dem Bild vorausgeht oder umgekehrt. Wie kommt es jeweils dazu, dass gewisse Dinge gesehen und ins Bild übersetzt werden? Berühmtheit hat in diesem Zusammenhang der Streit zwischen Dalenpatius und Leeuwenhoek erlangt, den Karin Leonhard anhand einer kurzen Bildbesprechung zu den Homunculus- und Spermatozoenzeichnungen in Erinnerung ruft. Und wie das Interview mit den Biologen Randolf Menzel und David Poeppel zeigt, hat auch die Gegenwart ihren biologischen Bilderstreit. Die Diskussion mündet in die Frage, ob man sich der Evidenz des Bildes aus heuristischen Gründen zunächst anvertrauen müsse. Und wenn das Bild die Basis der wissenschaftlichen Arbeit darstellt, ist es diesseits einer Theorie oder Interpretation angesiedelt?

Als Argument ins Feld geführt, können Bilder auch zu verheerenden Missverständnissen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit führen. Mit der Popularisierung wissenschaftlicher Bilder am Beispiel der Verbindung von Mikroskop und Computer beschäftigt sich Jochen Hennig in seinem Beitrag „Vom Experiment zur Utopie. Bilder in der Nanotechnologie“. Anhand eines Experiments mit einem Tunnelmikroskop sollte die Verschiebung einzelner absorbierter Atome visualisiert werden. Das dabei entstandene Bild zeigt die drei Buchstaben IBM und machte in der Zeitschrift „Nature“ Furore: „War das Logo ursprünglicher Teil einer wissenschaftlichen Veröffentlichungsstrategie, so ist es schnell zum Teil einer Werbestrategie geworden.“ (S. 16) Naturwissenschaftliche Forschung, so kann man resümieren, wird nach David Poeppel heute mehr denn je „bildgetrieben konzipiert und exekutiert“ (S. 96).

In welcher Weise optische Instrumente im wissenschaftlichen Diskurs bislang elidiert wurden, macht zuletzt Christian Schaus an der Person Joseph von Fraunhofers deutlich. Aus der Biographie des berühmten Instrumentenerfinders geht hervor, wie Joseph Baader und andere Mitglieder der Bayerischen Akademie der Wissenschaften um 1820 zu verhindern suchten, dass der „Instrumentenmacher“ wissenschaftlich anerkannt und in die Akademie aufgenommen wurde. Spätestens zum Zeitpunkt der Rede Hermann von Helmholtz‘, 1887 anlässlich des 100. Geburtstags von Fraunhofer gehalten, setzte eine Aufwertung der „Kunst der praktischen Mechanik“ ein, wie sie nun auch im Mittelpunkt des vierten Bandes der „Bildwelten des Wissens“ steht.

Dabei erscheint das Verhältnis von Bildern, Bildtechniken und Theorien des Sehens als ein Forschungsfeld, auf dem die Kunstgeschichte noch zahlreiche Entdeckungen machen kann. Einzig hinsichtlich der Frage der „Handlungsregeln“, deren Thematisierung in der Einleitung als notwendige Erweiterung der techné (im Sinne von Maschinen, Apparaten und Instrumenten) eingefordert wird, hätte man sich mehr Klarheit gewünscht. Im Hinblick auf die Geschichte des Mikroskops und seine ästhetischen wie epistemischen Folgen bereitet dieser Band jedoch ein großes Lesevergnügen, so dass man auf die nächsten Bände des Jahrbuches für Bildkritik gespannt sein darf.

Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu auch Rheinberger, Hans-Jörg: „Präparate - ‚Bilder‘ ihrer selbst. Eine bildtheoretische Glosse“, in: Horst Bredekamp und Gabriele Werner (Hg.): „Oberflächen der Theorie“, (= Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, hg. v. ders., Band 1,2, Berlin: Akademie-Verlag, 2003, S. 9-19).

Fischel, Angela (Hrsg.): Instrumente des Sehens, Berlin: Akademie Verlag 2004
ISBN-10: 3-05-004063-7, 107 S., EUR 29.80

Empfohlene Zitation:
Claudia Blümle: [Rezension zu:] Fischel, Angela (Hrsg.): Instrumente des Sehens, Berlin 2004. In: ArtHist.net, 14.03.2005. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/75>.

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