Im Folgenden sind zwei hochbedeutsame Neuerscheinungen zu illuminierten Handschriften der Gotik und Spätgotik vorzustellen, die den Rezensenten zunächst vor das Problem stellen, wie sie überhaupt bibliografisch zu erfassen und im Alltag von Forschung und Lehre zu benutzen sind. Die beiden Bücher müssten von vornherein abgekürzt zitiert werden. Leider gibt es jedoch in unserem Fach keine Institution, die verbindliche Abkürzungen entwickelt und durchsetzt. Deshalb seien zunächst die Titel in aller Ausführlichkeit wiedergegeben:
1. A Survey of Manuscripts Illuminated in France. Teil II: Alison Stones: Gothic Manuscripts 1260-1320, 2 Bände: Band I: Text & Illustrationen, 153 S., dazu 838 Schwarz-Weiß-Abbildungen und 77 Farbtafeln; Band II: Katalog, 598 S.; drei Abteilungen: Abt. I: Paris, die königliche Domäne und die Erzdiözese Sens: Kat.-Nr. 1-64, S. 1-141. – Abt. II: Herzogtum Normandie und Erzdiözese Rouen: Kat. Nr. 1-9, S. 142-152. – Abt. III: Erzdiözese Reims, die Grafschaften Champagne, Artois, Hennegau (kaiserliches Lehen), Vermandois, Soissons, Noyon: Kat. Nr.1-131, S. 152-598.- ISBN 978-1-909400-06-1 London (Harvey Miller) & Turnhout (Brepols) 2013.
2. Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch- historische Klasse, Denkschriften, Nr. 435; & Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Veröffentlichungen zum Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, Reihe I, hg. von Otto Kresten.- Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der österreichischen Nationalbibliothek. (Fortsetzung des beschreibenden Verzeichnisses der illuminierten Handschriften der Nationalbibliothek in Wien), hg. von Gerhard Schmidt †, Bd. 14: Mitteleuropäische Schulen V (ca. 1410 – 1450), Wien und Niederösterreich, bearbeitet von Katharina Hranitzky, Veronika Pirker-Aurenhammer, Susanne Rischpler, Martin Roland, Michaela Schuller-Juckes sowie von Christine Beier, Andreas Fingernagel und Alois Haidinger, unter Mitarbeit von Margit Elsigan, Michael Fleischmann, Martin Haltrich, Irina v. Morzé, Anna Reisenbichler, Georg Schendl, Friedrich Simader und Maria Stieglecker. - 1. Teil: Textband: XXXIII S. Titelei etc., und Einleitung von Andreas Fingernagel, 402 S. Text und 93 Vergleichsabbildungen, Redaktion: Susanne Rischpler. 2. Teil: Tafel- und Registerband, 39 Farb- und 647 Schwarz-Weiß-Abbildungen, bearbeitet von Martin Roland, Anna Reisenbichler und Irina v. Morzé. - ISBN 978-3-7001-7066-2, Wien 2012 (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften).
Die beiden Kataloge verfolgen ein ähnliches Ziel, ein zeitlich und örtlich begrenztes Gebiet zu erfassen. Doch waren die Wiener begünstigt, weil sie nur 179 Handschriften zu bearbeiten hatten, die zudem innerhalb von 40 Jahren in einem eng umgrenzten Gebiet geschaffen worden sind. Im übrigen haben die meisten nur spärlichen Buchschmuck. Die beiden Bände von Alison Stones hingegen haben 204 Katalognummern aus 80 Jahren, obendrein verstreut über die ganze Welt; auch ist dies nur der erste Teil des Katalogs. Ein zweiter Katalogband ist angekündigt.
Vor allem musste sie ihre Epocheneingrenzung erst entgegen der allgemeinen Meinung neu definieren. Sie legt die Zäsur an das Ende der kapetingischen Herrschaft um 1320. In der Kunstgeschichtsschreibung insbesondere der Bildhauerkunst ist diese Ziehung der Epochengrenzen neu, überzeugt jedoch. Die an italienischen Vorbildern orientierte Kunst Jean Pucelles bedeutet einen Neuanfang epochalen Ausmaßes in der Malerei, aber auch der Skulptur um 1320. Sie steht in Verbindung mit einem Aufschwung der höfischen Luxuskünste, wie dem transluziden émail de plique, der Seidenstickerei und der Verwendung des Silbergelb in der Glasmalerei. Dies endgültig geklärt zu haben, ist ein außerordentliches Verdienst.
Alison Stones hat in vier Jahrzehnten rastloser, weltweiter Forschung ein von Grund auf neuartiges und schlüssiges Konzept dieser Kunstepoche geschaffen, sozusagen die Cheops-Pyramide der gotischen Malerei. Doch fehlen zur Vollendung noch der zweite Katalogband, die Register der behandelten Handschriften, der Ikonographie usw. Dieses opus magnum wird zum Umdenken auch der Skulpturenforschung und der übrigen Gattungen der Malerei führen; deshalb ist die Anschaffung für alle wissenschaftlichen Bibliotheken ein Muss! Der allzu bescheiden als „introduction“ bezeichnete Text ist eine knapp gefasste Geschichte der Buchmalerei dieser Epoche und enthält viele Informationen zu Auftraggeber(inne)n und deren konkreten Wünschen (S. 17-50), berührt aber auch die allgemeinen Verhältnisse. Er kann als Ersatz für die fehlende Kunstgeschichte dieser Zeit dienen.
Das Urkonzept des survey ging von einer viel kleineren Zahl und einer anderen Auswahl der Handschriften aus. Alison Stones änderte nicht nur die Epochenvorstellungen, sondern förderte auch durch ihre Zähigkeit und ihre Bemühungen so viele, bisher unbekannte bzw. zu wenig beachtete Handschriften zutage, dass sie den Rahmen sprengte, ausgebreitet wird ein großes Panorama der Handschriftenproduktion auf allen Gebieten, für Medizin und Geschichte ebenso wie für Drolerien und Buchpreise, bis zum didaktischen Schema, so dass sich der Betrachter ein Bild machen kann von Intellektuellen Leben dieses Zeitalters insgesamt. Vierzig Jahre am selben Thema zu sitzen – derartige Beharrlichkeit würde hierzulande bei der derzeitigen Kurzatmigkeit und der Verachtung von Einzelforschung sicher nicht solange Förderung finden.
Wertvoll sind der äußerst gründlich gearbeitete Katalog sowie die Listen. Die Autorin beginnt mit einer summarischen Aufzählung derjenigen Manuskripte, die dem 3. Bd. vorbehalten sind. Offenbar hat Alison Stones Bedenken, noch das Ganze vollenden zu können. Davon unterscheiden sich die Listen der datierten und datierbaren Manuskripte, sodann die Aufzählungen der Buchmaler und Ornamentspezialisten, der Auftraggeber, der Erst- und Zweitbesitzer, der Schreiber und Buchgestalter.
Der künstlerische Schwerpunkt der Wiener Bände sind die Handschriften der österreichischen Herrscher der ersten Hälfte des 15 Jahrhunderts, vor allem Miniaturen des Meisters Martin aus Regensburg, der gern wegen der berühmten Inschrift auf der ersten Seite des Troja-Romans Martinus Opifex genannt wird, obwohl opifex zu übersetzen ist mit: Schöpfer des Werks.
Das Wiener-Team hatte es leichter. Die zu behandelnden Objekte waren weitgehend bekannt, einige sogar gut erforscht. Man war dadurch vor Überraschungen gefeit, die bei Feldforschungen gelegentlich zu nicht immer erwünschten Umwegen führen. Außerdem war die Epocheneingrenzung als Arbeitsgrundlagen durch die klugen und umsichtigen Planungen von Gerhard Schmidt richtig gelegt. Auch die Spezialisierung einzelner Mitarbeiter auf bestimmte Bereiche war durchaus hilfreich. Der Nachteil derartiger Vorhaben ist, dass die meisten jüngeren Kollegen nur Verträge für ein oder zwei Jahre bekommen und dadurch nicht nur zu viel Zeit für die Einarbeitung verloren geht, sondern oft auch das Projekt verlassen müssen, wenn sie anfangen, sich auszukennen.
Doch garantierten der hohe Stand der Ausbildung bei dem Wiener Team sowie die gegenseitige Kontrolle eine ähnlich hohe Qualität der Forschung. Es entstand ein Werk, das versucht, alle Aspekte einer Handschrift perfekt zu meistern und einen neuen, hohen Standard für ähnliche Arbeiten zu setzen. Andererseits könnte jemand fragen, ob eine Katalognummer von über 40 Seiten, wie diejenige zum Troja-Roman des Meisters Martin, noch wahrgenommen wird, ob zudem eine so große Genauigkeit einen entsprechenden Ertrag bringt oder nicht. Mir scheint die hier als „Tiefenerschließung“ bezeichnete genaueste Erfassung der Meisterwerke durch den Erkenntnisgewinn gerechtfertigt; doch könnte die zeitraubende Inventarisierung bei zweitklassigen Werken zum Hemmschuh für die Bearbeitung ärmerer Sammlungen mit weniger homogenen und bedeutenden Beständen werden.
Stones, Alison: Gothic manuscripts. 1260 - 1320 (= A Survey of Manuscripts illuminated in France), London: Harvey Miller 2013
ISBN-13: 978-1-872501-95-6, 1130 S., 250,00 EUR
Hranitzky, Pirker-Aurenhammer, Rischpler u.a. (Bearb.): Mitteleuropäische Schulen V (ca. 1410-1450). Wien und Niederösterreich, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2012
ISBN-13: 978-3-7001-7066-2, Textbd. 401 S., 93 Abb., Tafel-Bd. 89 S., 647 Abb., 229,00 EUR
Empfohlene Zitation:
Robert Suckale: [Rezension zu:] Stones, Alison: Gothic manuscripts. 1260 - 1320 (= A Survey of Manuscripts illuminated in France), London 2013; Hranitzky, Pirker-Aurenhammer, Rischpler u.a. (Bearb.): Mitteleuropäische Schulen V (ca. 1410-1450). Wien und Niederösterreich, Wien 2012. In: ArtHist.net, 10.06.2014. Letzter Zugriff 30.12.2024. <https://arthist.net/reviews/6467>.
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