REV 01.09.2004

Friedrich Polleroß (Hg.): Reiselust und Kunstgenuss

Rezensiert von Herbert Karner
Redaktion: Claudia Sedlarz
Click to enlarge

Anfang des Sommers 2004 erschien im Michael Imhof Verlag - nicht zufällig in Zusammenhang mit der Osterweiterung der Europäischen Union - ein schöner und qualitätvoll bebilderter Band über barocke Lust am Reisen und eben solchen Genuß an der Kunst. Der dem Kunsthistoriker wie dem Bildungstouristen unserer Tage in der Regel vertraute lustvolle Zusammenhang von Kunst und Reisen wird transferiert in eine Epoche, in welcher er nur äußerst kleinen Eliten bekannt war. Genau von dieser Gesellschaftsschichten handelt das Buch in insgesamt sechzehn Beiträgen: Von Künstlern und adeligen wie geistlichen Auftraggebern in Österreich, Böhmen, Mähren, Schlesien und teilweise auch in Ungarn, einem Teil Mitteleuropas also, dem die habsburgische Vergangenheit gemeinsames Erbe ist.

Der Herausgeber Friedrich Polleroß (Wien) vermittelt in seinem Beitrag eine Vorstellung von den Wegen, die Kunst-Reisen und Kunst-Handel im 17. und 18. Jahrhundert genommen haben; Zdenek Kazlepka (Brno/Brünn) macht mit dem 1610 geborenen Stilllebenmaler Gottfried Libalt einen Vorreiter der barocken Künstlermigranten bekannt; Petr Fidler (Innsbruck) referiert den für Wien und Mähren so bedeutenden, aus dem Como-Gebiet stammenden Architekten Giovanni Pietro Tencalla; Hellmut Lorenz (Wien) konzentriert sich auf die Italienreise des Johann Bernhard Fischer von Erlach; Huberta Weigl (Wien) versucht der Vita des zeitgleichen Klosterarchitekten Jakob Prandtauer nennenswerte Reisen zu entlocken; Ryszard Holownia (Wroclaw/Breslau) führt ein in die geographische wie künstlerische Umtriebigkeit des Jesuiten und Pozzo-Epigonen Christoph Tausch; Wolfgang Prohaska (Wien) gibt dem comaskischen Maler Carlo Innocenzo Carlone Kontur als mitteleuropäischen Wanderkünstler ersten Ranges; Pavel Preiss (Prag) bringt mit dem kaum bekannten, aus dem Waldviertel stammenden Maler Jakob Anton Pink einen böhmischen Kleinmeister ins Bewußtsein; Andreas Gamerith (Wien) ergötzt sich am Schaffen des berühmten Südtirolers Paul Troger, Ingeborg Schemper-Sparholz widmet sich dem mitteleuropäischen Aspekt des Tiroler Bildhauers Jakob Christoph Schletterer; Jiri Kroupa (Brno/Brünn) diskutiert aufschlußreich den Brünner Plansammler und Architekten Franz Anton Grimm; Michael Grünwald (Stift Göttweig) erklärt die Kunsttransporte des in Krems ansässigen Tiroler Malers Martin Johann Schmidt, Anna Jávor (Budapest) nimmt sich engagiert der Bedeutung des spätbarocken, aus Wien stammenden Malers Johann Lucas Kracker an; Monika Dachs (Wien) zeigt die unternehmerisch-logistischen Qualitäten des großen Franz Anton Maulbertsch auf; Petra Pe¨ka (Wien) stellt die für die barocke Raumwirkung so elementare Tätigkeit der Marmorierer am Beispiel des Johann Ignaz Hennevogel in den Mittelpunkt; Lubomír Slavícek (Brno/Brünn) schließt den Reigen mit einer Betrachtung des 1807 verstorbenen mährischen Maulbertsch-Schülers Joseph Winterhalder.

Auf jeden der sechzehn Beiträge einzugehen ist aus Platzgründen nicht möglich. Deren gemeinsame Schnittmenge führt aber recht unmittelbar zur allgemeinen Charakteristik des Bandes, die es zu erörtern gilt. Befragt man das Verhältnis zwischen den inhaltlichen Vorgaben, die der Titel macht, und den Ausführungen der Beitragenden, ergibt sich ein relativ einheitliches Bild. Dabei ist der Bezug von Titel und Vorgaben a priori nur schwer erkennbar, zu sehr ist der Titel auf hedonistische Assoziationen angelegt: „Reiselust und Kunstgenuß“ liegt nahe bei Gaumenfreuden und Genußmitteln,Rezeptbüchern und Reiseführern. Ungerechtfertigt gerät da das Buch in Gefahr, in der Abteilung für leicht Verdaubares zu landen und für eine Klientel gemacht zu sein, der Kunst vorrangig schön und Lust erregend zu sein hat. Die Entscheidung für den populistisch geratenen Titel erklärt sich wohl aus dem sonst nicht weiter relevanten Umstand, daß der Band Begleitbuch einer Ausstellung gleichnamigen Titels, aufgeteilt auf die Stifte in Geras (Niederösterreich) und Nová Rí¨e (Mähren) ist.

Wie Friedrich Polleroß hinweist, ist das Thema des Reisens, des Austauschs und der Migration im barocken Zeitalter in den vergangenen Jahren mehrfach Gegenstand von Tagungen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz gewesen. Mobilität, so die Quintessenz der Ergebnisse, haben nicht nur Künstler und Auftraggeber gezeigt, sondern auch Ideen und deren Träger. Der Transfer von Entwürfen und Konzepten, der Austausch von Stil und Programm, aber auch die länder- und sprachübergreifende Wirksamkeit von Gruppenidentität (etwa jener von Ordensgemeinschaften) und daraus resultierenden Kunstabsichten zählen zu den wichtigen Strukturkonstanten der künstlerischen Entwicklung im barocken Zeitraum, also spätestens ab Mitte des 17. bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts.

Polleroß greift diesen Ansatz auf und entwickelt mit einer Dichte von aus der historischen, besonders auch aus der sozialgeschichtlichen Literatur gezogenen Fakten eine Vorstellung von der Bandbreite des Themas. In losem Zusammenhang läßt er Beispiele der Grenzüberschreitung durch Personen und Kunstobjekte paradieren: Prälaten und Diplomaten, welche sich ihrer internationalen Beziehungen (Familien, Orden) zugunsten ihrer Auftraggeberschaft und ihrer Sammeltätigkeit bedient haben, sowie religionspolitische „Asylanten“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ (welch historisch fragwürdige, weil mit unschönen Assoziationen mit den Problemen unserer Tage belastete Bezeichnung für einen Domenico Sciassia oder einen Carpoforo Tencalla!) zeichnen verantwortlich für das Festsetzen barocker Kultur im mitteleuropäischen Raum.

Die anderen AutorInnen folgen dieser Spur unterschiedlich und zuweilen zögerlich. Das liegt zum Teil daran, daß „ihre“ Künstler ausgesprochene Reisemuffel waren oder aus deren Biographien wenig Kenntnis über maßgebliche Reiseunternehmungen zu gewinnen ist, aber auch und vor allem an einem fast durchgehend gültigen werksmonographischen Erzählansatz. Nahezu jede/r der AutorInnen kennt „ihren/seinen“ Künstler schon sehr lange und hat sich viel mit ihm beschäftigt. Aus dem daraus resultierenden umfangreichen Wissen haben sie wohl temperierte Kurzmonographien hergestellt, mit Präsentation der wichtigsten Lebensstationen und Werke, unter besonderer Berücksichtigung von etwaigen Reisen und angereichert mit mehr oder wenig treffenden Zitaten.

Zwischen dem so lebensverändernden Abgang des jungen Fischer von Erlachs von Graz nach Rom, wo er etwa sechzehn Jahre seines Lebens verbracht und seine künstlerische Formatierung erhalten hat, und einem Baustellenbesuch im Weinviertel, den der reisefaule Jakob Prandtauer von St. Pölten aus widerwillig unternommen hat, wird da nicht unterschieden. Auch ein Ortswechsel, wie er z.B. für die zahllosen comaskischen Künstler oft lebensnotwendig war und über Generationen hinweg vorgenommen werden mußte, wird dem Anlaßwort „Reisen“ subsumiert. Die Skizze etwa einer Typologie des Reisens im Dienst der Kunst - um nur eine mögliche und methodisch wahrscheinlich fruchtbare Annäherung ans Thema zu nennen - wäre ein vielleicht lohnendes und alle beteiligten Kräfte zu einer vermehrt kollektiven Anstrengung motivierendes Ziel gewesen.

Trotz dieser methodischen Schwäche ist der Band lehrreich, wichtig und unentbehrlich für jede private wie öffentliche Bibliothek, die sich mit dem Phänomenen der barocken Kunst im allgemeinen und der mitteleuropäischen im besonderen auseinandersetzt. Er besticht durch die Breite der Informationen, durch den mikroskopischen Blick auf eine ehemals sehr international strukturierte Kunstlandschaft. Das unverbundene und wenig konzertierte Nebeneinander von in sich geschlossenen Beiträgen über Maler, Architekten, Bildhauer und Marmorierer verblüfft in Summe durch eine ungeheuer detailreiche Zusammenschau des mitteleuropäischen Barock, seiner Bedingungen und Mechanismen in den Bereichen der Künstlerschaft, der Auftraggeber, der Sammler und des Marktes. Mitverantwortlich dafür ist eine ausgewogene Auswahl der behandelten Künstler, beginnend vor Mitte des 17. Jahrhunderts und endend mit dem Ausklang des 18. Jahrhunderts. Neben Heroen wie Fischer von Erlach, Paul Troger und Franz Anton Maulbertsch und anderen etablierten Größen wie Jakob Prandtauer und Carlo Innocenzo Carlone wird etwa ein Giovanni Pietro Tencalla ins rechte Licht gerückt, der zwar in der österreichischen und mährischen Architekturgeschichte des 17. Jahrhunderts seit langem verankert ist, dessen tatsächliche Bedeutung sich aber erst allmählich konturieren läßt. Ausreichend Platz wird auch den weniger bekannten Künstlern wie Jakob Anton Pink oder Johann Ignaz Hennevogel eingeräumt, deren Kenntnis und Wertschätzung erst die Feinstruktur des barocken Kunstgeschehens wirklich verstehen läßt.

Es ist die Stärke des Buches, den Mikrokosmos einer im europäischen Vergleich kleinen, aber höchst vitalen Kunstlandschaft auf unkomplizierte und gut portionierte Weise sichtbar zu machen. Weil viele der Beiträge aus der unmittelbaren wissenschaftlichen Beschäftigung der AutorInnen kommen, sind sie auf dem neuesten Wissenstand und geben (mit den enthaltenen Literaturhinweisen) Basis für weitere Beschäftigung. Dass das Buch zusätzlich auch bibliophilen Erwartungen entspricht, ist dem Verleger Dr. Imhof zu verdanken. Die Attraktivität der Publikation verdankt sich nicht unwesentlich seiner Bereitschaft zur äußerst reichen und qualitätvollen Bebilderung.

Polleroß, Friedrich (Hrsg.): Reiselust & Kunstgenuss. barockes Böhmen, Mähren und Österreich ; [Begleitband zur gleichnamigen Zweiländerausstellung in den Stiften Geras (Niederösterreich) und Nová Ří¨e (Mähren)], Petersberg: Michael Imhof Verlag 2004
ISBN-10: 3-937251-39-1, 240 S, EUR 22.00

Empfohlene Zitation:
Herbert Karner: [Rezension zu:] Polleroß, Friedrich (Hrsg.): Reiselust & Kunstgenuss. barockes Böhmen, Mähren und Österreich ; [Begleitband zur gleichnamigen Zweiländerausstellung in den Stiften Geras (Niederösterreich) und Nová Ří¨e (Mähren)], Petersberg 2004. In: ArtHist.net, 01.09.2004. Letzter Zugriff 18.04.2024. <https://arthist.net/reviews/64>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^