REV 10.05.2004

Achim Stiegel: Berliner Möbelkunst

Rezensiert von Matthias Hahn
Redaktion: Claudia Sedlarz

Berlin war im späten 18. Jahrhundert Berlin neben Wien das bedeutendste Zentrum der Möbelherstellung im deutschen Sprachraum. Dieser in Vergessenheit geratenen Tatsache widmet sich Achim Stiegel, und legt mit seinem Buch zum ersten Mal eine Monographie über die "Berliner Möbelkunst" vor. Dabei kommt es der Darstellung zugute, daß sich in der Person des Autors Kunsthistoriker, Kenner und Möbelrestaurator vereinen. Der Leser wird nicht nur von dem beeindruckenden Kenntnisreichtum des Autors allumfassend informiert, sondern gleichzeitig auch für die Gegenstände der Betrachtung sensibilisiert.

Stiegel hat eine Kulturgeschichte der Berliner Möbelproduktion in all ihren relevanten Facetten für den Zeitraum von 1790 bis 1848 geschrieben. Im Zentrum dieser Kulturgeschichte stehen die Möbelstücke selbst, denen am Beispiel der "Berliner Schreibmöbel" ein gesondertes und sehr umfängliches Kapitel gewidmet ist. Eingerahmt wird dieses Herzstück des Buches von Darstellungen zur künstlerischen, technologischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung für den Untersuchungszeitraum in Berlin. Auf diese Weise gelingt Stiegel eine Rekonstruktion der Entwicklung einer Berliner Möbelkunst, die nicht nur die stilistischen Merkmale der hier entstandenen Möbel untersucht, sondern vor allem die Produktionsbedingungen als deren Voraussetzung und Grundlage begreift. Erst diese Kontextualisierung ermöglicht es, die komplexen Entstehungsbedingungen, die vielschichtige Entwicklung und die hohe kunsthandwerkliche Qualität der Berliner Möbelproduktion zwischen 1790 und 1848 zu begreifen, die der Autor als präzis sezierender Chronist in allen Teilen vorzüglich lesbar auffächert.

Den Beobachtungszeitraum unterteilt Stiegel in fünf Phasen, die jeweils nicht nur durch einen graduellen stilistischen Wandel charakterisiert sind, sondern auch durch sich verändernde Produktionsbedingungen bestimmt werden. Für die erste Phase (1790-1805) konstatiert Stiegel ausgehend von den handwerksgeschichtlichen Rahmenbedingungen, daß die Auflösung des Zunftmonopols und die damit verbundenen Freigabe des Meisterstückentwurfs insbesondere in Berlin die Entwicklung des Tischlerhandwerks äußerst begünstigte. Denn wie er ausführt, waren hier nicht nur zahlenmäßig die meisten, sondern aufgrund der Bemühungen des preußischen Staates um eine angemessene ästhetische Ausbildung der Kunsthandwerker auch die qualifiziertesten Gesellen und Meisteranwärter ansässig. Damit sie am Markt bestehen konnten, mußten sie nicht nur hoch verfeinerte Handwerksarbeit anbieten, sondern auch die aktuellen Stiltendenzen rezipieren. Wollte der neu etablierte Meister sein Meisterstück oder weitere Fabrikate an einen Kunden bringen, so mußte er auf die Konkurrenzsituation reagieren. Nicht nur die Herstellung, auch die Entwurfstätigkeit war wettbewerbsgeleitet. Darüber hinaus führte die Neubewertung des Entwurfs bzw. der Entwurfszeichnungzeichnung dazu, daß ein Wissenstransfer einsetzen konnte, der sowohl die ästhetischen Kenntnisse als auch das technologische Wissen insgesamt verbessern sollte.

Dieses wiederum war notwendig geworden, weil sich die rechtlichen und ökonomischen Parameter des Handwerks insofern verändert hatten, daß in weiten Teilen das traditionellen Handwerksverständnis zur Disposition stand. Es fand eine prinzipielle Umordnung der Werkstattorganisation statt, bei der ein arbeitsteiliges Produktionsprinzip verstärkt Anwendung fand. Die offensichtlichen Vorteile lagen dabei vor allem in der Spezialisierung und der damit verbundenen absatzgarantierenden höheren Qualität. Die zweite folgenreiche Veränderung für das Handwerk bestand in der allmählichen Etablierung der "Möbelmagazine", da mit ihnen nicht nur der Vertrieb aus der Werkstatt heraus verlagert wurde, sondern damit auch ein ganz und gar neues Verhältnis von Produzenten und Kunden etabliert wurde. Wie mit dem handwerksgeschichtlichen Umbruch der Anschluß an die aktuellen europäischen Stiltendenzen einherging, wird von Stiegel in beeindruckender Weise vorgeführt.

Daß auch die politische Entwicklung in Preußen einen nicht unmaßgeblichen Anteil an der Herausbildung einer spezifischen Berliner Möbelkunst gehabt hat, verdeutlicht der Autor am Beispiel des in zwei Phasen unterteilten Zeitraums von 1805 bis 1815. Denn trotz der wirtschaftlich eher ungünstigen Situation während und infolge der Napoleonischen Besetzung begann die Möbelproduktion sich gerade in jenen Jahren (1805/06) stilistisch deutlicher als Berliner Möbelkunst zu konturieren. Stiegel stellt auf der Basis einer fast detailbesessenen kunst- und kulturhistorischen Analyse die Voraussetzungen zu einer Herausbildung neuer Stilvorstellungen dar: man erfährt, daß die neuartige Schlichtheit des Mobiliars, der Verzicht auf kostbare Beschläge und die Verwendung einheimischer Furnierhölzer nicht allein aus einem Mangel infolge der Kontinentalsperre zu erklären seien, sondern ganz im Gegenteil von den Möbelproduzenten als eine bewußt gewählte neue und eigenständige ästhetische Qualität begriffen wurden. Vergleichbares ließe sich auch über die charakteristische Formensprache jener Möbel sagen. Ihre strenge architektonische Form ist ein Bekenntnis zu den aktuellsten Tendenzen der neuen lokalen Architektengeneration. Daß Berlin für die Hervorbringung einer eigenständigen stilistischen Qualität Berlin geeignet war, führt Stiegel auf jene spezifische Mischung aus hervorragenden Künstlern, innovativen Handwerkern und sachverständigen Interessenten zurück und darüber hinaus auf die progressiven wirtschafts- und kulturpolitischen Maßnahmen des preußischen Staates.

Den eigentlichen Durchbruch dieser neuen Entwicklung verortet der Autor in einer vierten Phase (1816-1830/31), die er selbst als "Zeit des langen Aufstiegs" charakterisiert. In jener Phase, vor allem in den 1820er Jahren, die zum qualitativen Höhepunkt der Berliner Möbelkunst führten, veränderten sich die Anforderungen an die Produzenten von Möbeln stark. Zum einen waren jetzt erst die Auswirkungen der preußischen Gewerbepolitik vollends zu spüren, zum anderen führte die wieder ansteigende Prosperität dazu, daß Konsumenten mit neuen Ansprüchen auftraten. In jenen Jahren entstand ein Ideal für die Zimmereinrichtung, das zur Etablierung eines festen Kanons von Möbeln führte. Wie eine typische Wohnungseinrichtung jener Jahre aussehen konnte, zeigt Stiegel anhand von ausgewählten Berliner Beispielen. Um auf die neuartigen Herausforderungen adäquat reagieren zu können, bedurfte es flexibler und bedarfsorientierter Strategien. Angesichts der neuen Marktsituation bedeutete das für die Produzenten, daß die Möbelentwürfe unter Verzicht auf einen Solitärstatus in ein Möbelensemble integrierbar sein mußten. Die Vorteile davon lagen auf der Hand. Einerseits konnten jetzt Möbel gefertigt werden, die nicht mehr nur für einen speziellen Standort konzipiert werden mußten und die darüber hinaus in den "Möbelmagazinen" anonymen Kunden angeboten werden konnten. Andererseits stand es den Konsumenten frei, nach und nach ihre Wohnungseinrichtung zu komplettieren - was letztlich auch den Absatz garantierte - ohne dabei den Gesamtcharakter ihrer Einrichtung riskieren zu müssen. Als Resultate dieser Entwicklung beherbergten die "Möbelmagazine" eine reiche Anzahl von Objekten, bei denen unter Berücksichtigung einer insgesamt kleineren Dimensionierung die vormals strenge architektonische Form zugunsten einer delikateren Formensprache geopfert wurde. Daß sich bei diesem Wandel gleichermaßen bedürfnisorientierte und ästhetische Ursachen die Waage hielten, wird vom Autor betont. Insgesamt eine Bereichung in diesem Zusammenhang stellt unzweifelhaft die Tatsache dar, daß der Autor wohldurchdacht den allzuoft strapazierten und schwammigen Begriff des "Biedermeiermöbels" vermeidet, indem er stattdessen den kunsthistorisch treffenderen Begriff des "klassizistischen Möbels" dafür setzt.

Daß eine relative Standardisierung und Typisierung des Entwurfs und die damit einher-gehende Vorfabrikation des einzelnen Gegenstandes gleichzeitig auch einen negativen Aspekt beinhalten kann, macht der Autor am Beispiel der von ihm gesetzten fünften Phase deutlich, die die Jahre von 1830/31 bis 1846/48 umfaßt und den Abschluß des gesetzten Untersuchungszeitraums bildet. In dieser Periode setzte eine vorindustrielle Fertigungsweise ein, durch die sich das einzelne Möbel zum beliebig reproduzierbaren Objekt entwickelte. Infolgedessen wurden in jenen Jahren zahlenmäßig viele Möbel gefertigt, deren Qualität aber proportional dazu nachließ. Damit ist ein Problem angesprochen, dem sich Stiegel prinzipiell über den gesamten Beobachtungszeitraum immer wieder widmet. Die im Zentrum stehende Fragestellung nach der Umsetzung der "Gestaltungsvorstellung" eröffnet dabei vielfältige Perspektiven. So wird der Leser nicht nur detailliert über die konkrete Enwurfspraxis und den organisatorischen Alltag innnerhalb der Werkstätten informiert, sondern er erfährt darüber hinaus auch Vieles über die Marktmechanismen. Um dieses Beziehungsgeflecht der einzelnen Faktoren offenzulegen, bietet Stiegel wie stets eine Fülle von Material auf und läßt dabei kaum einen Aspekt unberücksichtigt. Ebenfalls profitieren kann der Leser immer wieder aufs Neue von Stiegels verblüffender Kennerschaft, bei der neben seinen stichhaltigen Analysen auch seine langjährige Erfahrung als Möbelrestaurator durchblitzt.

Vollends zum Tragen kommt diese Erfahrung in dem Teil des Buches, das unter der Überschrift "Berliner Schreibmöbel" gleichsam sein Gravitationszentrum bildet. In diesem Kapitel entwickelt nun der Autor auf 168 Seiten anhand exemplarischer Einzelstücke ein Panorama, das dem Leser anschaulich den Kosmos der Berliner Möbelproduktion vor Augen führt. Nach einer sehr instruktiven einführenden Definition der verschiedenen Möbeltypen widmet sich der Autor in einem daran anschließenden Katalogteil der Vorstellung von siebenunddreißig aufwendigen Schreibmöbeln, die in Text und Bild beschrieben werden. Die ungewohnte Ausführlichkeit der Beschreibungen stellt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Probe. Wenn auch das Ziel des Autors, "die Vielfalt der Gestaltungsfragen darzustellen", anerkennswert ist, wäre ein wenig mehr Ökonomie nicht von Schaden gewesen. Ebensolches ließe sich für jene Exkurse des Buches anführen, die der technologischen Entwicklung bei der Furnierherstellung oder den Beschlägen an Berliner Möbeln gewidmet sind. Inklusive eines lexikalischen Kapitels über die für den damaligen Tischler zur Verfügung stehenden Holzarten repräsentiert dieser Teil immerhin knapp die Hälfte des Buches. Dieser zweite Teil richtet sich wohl hauptsächlich an ein spezialisiertes Fachpublikum, obwohl dank Stiegels bewunderswerter Sprachfähigkeit, auch der weniger Sachkundige jene Passagen mit Gewinn lesen und durchaus seinen Nutzen daraus ziehen kann - wenn er sich auf die Ausführlichkeit einläßt.

Achim Stiegels Verdienst besteht darin, daß er eine atemberaubende Fülle von Quellenmaterial erschlossen hat, dieses unter einer einheitlichen kunsthistorischen Fragestellung zuzuspitzen wußte, um dadurch erstmals auf einem wissenschaftlichen Fundament die Zeugnisse einer Berliner Möbelkunst monographisch zu erfassen. So verfügt man fortan über ein Standardwerk, das als Handbuch seine Gültigkeit über Jahrzehnte hinaus bewahren wird. Es ist nicht nur allein für den Berliner Kontext unverzichtbar, sondern seine methodische Exaktheit kommt einer Aufforderung gleich, die Möbel anderer Regionen und Zeiten unter erweiterten Fragestellungen erneut zu untersuchen, um ihnen ihren Platz innerhalb der Geschichte des Kunsthandwerks zuweisen zu können.

Stiegel, Achim: Berliner Möbelkunst. vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (= Kunstwissenschaftliche Studien), München [u.a.]: Deutscher Kunstverlag 2003
ISBN-10: 3-422-06379-X, 637 S

Empfohlene Zitation:
Matthias Hahn: [Rezension zu:] Stiegel, Achim: Berliner Möbelkunst. vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (= Kunstwissenschaftliche Studien), München [u.a.] 2003. In: ArtHist.net, 10.05.2004. Letzter Zugriff 22.09.2024. <https://arthist.net/reviews/61>.

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