REV 08.04.2004

Michael Zinganel: Real crime

Rezensiert von Bettina Klix
Redaktion: Claudia Sedlarz

Verbrechen lohnt sich

Der Architekturtheoretiker, Kurator und Künstler Michael Zinganel untersucht in seinem Buch „Real Crime“ die Produktivkraft des Verbrechens. Darunter fällt für ihn all schon das, was die Gesellschaft als abweichendes Verhalten definiert. Er geht von einer Aufzählung Karl Marx' in der „Abschweifung über produktive Arbeit“ aus, in der das genannt wird, was der Verbrecher zusätzlich, abgesehen vom Verbrechen selbst, produziere: „...das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält (...) ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker(...) Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehen, wenn es keine Diebe gäbe?“

Zinganel hat sich in seiner Studie besonders auf die Folgen in der Architektur, der Sicherheitstechnik und der Stadtplanung konzentriert. Die Angst vor realen oder imaginierten Verbrechen baut die Städte um. Wo es klassisch modern einmal hieß: „form follows function“ (Henry Louis Sullivan) so passt heute „form follows fear“ (Nan Ellin). Zinganel besucht die Orte des realen und imaginierten Verbrechens in Vergangenheit und Gegenwart. Er arbeitet die Rolle der Medien und die gesuchte Qualität der „Unheimlichkeit“ heraus und ihre Ausbeutung, z.B. in der Literatur. Diese Ergebnisse in Buchform werden dann an sicheren Orten von Lesern konsumiert.

Ein wichtiges Kapitel ist dem Verfall der Innenstädte, besonders dem Aufstieg und Niedergang von Detroit gewidmet. Wie jedem Abschnitt ist auch hier ein treffendes Bildmotto vorangestellt. Hier sind es Fotos von Zersägungen des Künstlers Gordon Matta-Clark im New Yorker Stadtteil Bronx (1972-73), der damit nach Meinung des Autors kriminelle Praktiken in der Realität vorwegnahm.

Das Kapitel über New Urbanism wird eröffnet von einem Foto der Sprengung der ersten modernen Wohnsiedlung, in St. Louis, 1972. Dieser Moment markierte für den Architekturtheoretiker Charles Jencks den Anfang vom Ende der Moderne. Das Kapitel befasst sich mit den neuen Einschließungen und Ausschließungen. Im Jahr 2000 sollen in den USA bereits 9 Millionen Menschen in abgeschlossenen Wohnanlagen, ‚Gated Communities' gewohnt haben. Dort sind sie von der sozialen Umwelt draußen abgeschirmt, es gelten aber auch nach innen strenge Regeln. Verboten ist es zum Beispiel, die Hauswände selbst zu streichen oder das Auto vor der Garage zu waschen, alles, was ein „low class“-Aussehen haben könnte. Die Siedlung Seaside in Florida, 1980 gebaut, das Pionierprojekt des New Urbanism, ist aus dem Film „Truman Show“ (USA 1998) bekannt. Es ist ein reiner Ferienort am Meer, der nur zeitweise bewohnt wird und in seiner Unwirklichkeit die perfekte Behausung für den unfreiwilligen Überwachungs-Star Truman Burbank. Der Film, der seine Hauptfigur aber zum Schluss entkommen lässt, wird eingehend im Kapitel über die Kontrollgesellschaft behandelt.

Das Buch macht unangenehme politische Zusammenhänge mit Beispielen aus Filmen, Büchern, Kunst, Werbung, in Wort und in zahlreichen Abbildungen, fassbar. So bringt ein Comic-Ausschnitt (von Gary Trudeau) auf den Punkt, was Gentrification bedeutet. Da wird ein fiktiver „developer“ von einem Radioreporter gefragt, ob er den Hörern Nachhilfe geben könne. Er antwortet freundlich: „...Es funktioniert folgendermaßen: ein Investor kauft ein verfallendes Haus in einer heruntergekommenen Nachbarschaft. Er renoviert es und verkauft es an ein junges Paar aus der Mittelschicht. Dieses ermutigt dann auch andere bessergestellte Leute (gentry) sich in der Nachbarschaft einzukaufen, und über kurz boomt der Immobilienmarkt auch dort, wo es bisher keinen gab!“ „Aber was geschieht mit den einkommensschwachen Mietern, die verdrängt wurden? Kümmert sich jemand um sie?“ „Aber natürlich! Wir kümmern uns selbst um sie. Denn diese Leute sind für den Gesamtprozeß sehr wichtig!“ „Bitte? Wie denn?“ „Diese Leute ziehen dann ja weiter, um in einem anderen Stadtteil das Vermögen und die Grundstückspreise zu entwerten. Ohne ihre Mithilfe würde das komplette System der gentrification zusammenbrechen!“

„Real Crime. Architektur, Stadt und Verbrechen“ entstand noch vor dem 11. September, der Autor hat die Folgen dieses Ereignisses aber in einem Postscriptum einbezogen. Im Vorwort stellt er etwas Offensichtliches, aber trotzdem Bemerkenswertes fest: Die Terroristen hatten sich ein Gebäude als Angriffsziel ausgesucht. Ein „konventionelles“ Ziel also und damit ausgewählt entgegen solchen Prophezeiungen, dass sich das Verbrechen immer mehr in den virtuellen Bereich verlagere.

Der sympathische Eindruck des Buches wird komplett, wenn der Autor zum Schluss sich selbst zu der Liste der Nutznießer des Verbrechens hinzufügt, zumal er seit 9/11 als Fachmann noch gefragter geworden sei.

[Eine kürzere Fassung dieses Textes wurde in der „Jungen Welt“ publiziert.]

Zinganel, Michael: Real crime. Architektur, Stadt und Verbrechen ; zur Produktivkraft des Verbrechens für die Entwicklung von Sicherheitstechnik, Architektur und Stadtplanung, Wien: edition selene 2003
ISBN-10: 3-85266-122-6, 353 S

Empfohlene Zitation:
Bettina Klix: [Rezension zu:] Zinganel, Michael: Real crime. Architektur, Stadt und Verbrechen ; zur Produktivkraft des Verbrechens für die Entwicklung von Sicherheitstechnik, Architektur und Stadtplanung, Wien 2003. In: ArtHist.net, 08.04.2004. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/59>.

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