REV-EX 01.05.2001

SchattenRisse - Silhouetten und Cutouts (München)

Kunstbau Lenbachhaus, München, 03.02.–27.05.2001

Rezensiert von Barbara Lauterbach
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Der Schatten hat im Zeitalter der Entkoerperlichung von Information und Bildern Konjunktur. So nahm die Staedtische Galerie im 'Kunstbau' des Muenchener Lenbachhauses eine verstaerkt zu beobachtende Auseinandersetzung zeitgenoessischer Kuenstler mit Schattenrissen und Scherenschnitten zum Anlass, das Thema in einer inspirierten Ausstellung mit begleitendem Katalog auszubreiten. Der von Marion Ackermann konzipierten Ausstellung "SchattenRisse - Silhouetten und Cutouts" gelingt es, eine kurze, bewusst Luecken in Kauf nehmende und daher umso praegnantere Geschichte des Mediums auszubreiten, und seine Veraestelungen und Ausfransungen hin zu Photographie und aktuellster Kunstproduktion aufzuzeigen.

Die Ausstellungsinszenierung veranschaulicht das Konzept der Ausstellung. Werke des 20. und 21. Jahrhunderts rahmen in dem langgestreckten Ausstellungsraum die historischen Beispiele,die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden sind. Letztere werden in einer Flucht von mehreren, in der Raumachse geoeffneten "white cubes" in der Laengsachse des Ausstellungsraums praesentiert, wodurch sinnfaellige Querbezuege zur Moderne sichtbar werden. Die Ausstellung gliedert sich thematisch in drei Schwerpunkte: 1. historische Scherenschnitte und Physiognomiermode, 2. der Reflex der fruehen Photographie auf diese Werke, und 3. die Wiederaufnahme des Themas in der zeitgenoessischen Kunst.

Die Ausstellung beginnt mit den Werken Johann Caspar Lavaters als den Programmschriften der Physiognomiermanie, die das Europa der Aufklaerung erfasst hatte. Die Schattenrisse erscheinen hier nicht in ihrer kuenstlerischen Eigenwertigkeit, sondern so, wie sie Lavater verstand: als Rohmaterial fuer seine Untersuchungen zur Charakterkunde. Das Schattenbild von einem Menschen sei "das getreueste, weil es ein unmittelbarer Abdruck der Natur ist, wie keiner, auch der geschicktetste Zeichner, einen nach der Natur von freyer Hand zu machen im Stande ist." Naturgemaess gipfelte das Erkenntnisinteresse des Theologen Lavater in der Analyse des Antlitzes Christi und anderer biblischer Gestalten. Johann Wolfgang Goethe war Lavaters zweitwichtigstes Untersuchungsobjekt. Claudia Schmoelders decouvriert in ihrem Katalogbeitrag jedoch Lavater als einen Forscher, der die groesstmoegliche Suende des Wissenschaftlers beging: einen Beweis zu fuehren, der sich in sich selbst erfuellt. Im Falle von Lavaters Analyse des Goetheschen Profils also: Hineinsehen, was angeblich Herausgesehen werden kann. So nennt Lavater als die wichtigsten Eigenschaften, die den mit ihm befreundeten Dichter auszeichnen, "Genie und Liebe". Letzteres verbindet Goethe wiederum mit dem Gottessohn, dessen Darstellung, so legt es Schmoelders nahe, im vierten Band der 'Physiognomischen Fragmente zur Befoerderung der Menschenkenntniss und Menschenliebe' erstaunliche Aehnlichkeiten mit der Darstellung Goethes im dritten Band aufweist. Ob nun der Stecher Johann Heinrich Lips in einem Akt vorauseilenden Gehorsams oder auf Empfehlung Lavaters das Christusbild den Zuegen des verehrten Goethe annaeherte, ist eine offene Frage. Weder Katalogbeitrag noch Ausstellung beantworten sie, doch wird hier besonders deutlich, wie nicht nur die Projektion des Lichtes das Schattenbild konstituiert, sondern auch die Projektion im uebertragenen Sinne, der Anteil des Betrachters.

Lavaters Antipode Georg Christoph Lichtenberg durchschaute diesen Mechanismus und karikierte ihn in einer literarischen Satire, die Ulrich Joost in seinem amuesant-gewitzt geschriebenen Katalogbeitrag als "vielleicht seine zuendendste ueberhaupt" bezeichnet. In dem kurzen Traktat "Fragment von Schwaenzen" (1783), das der Katalog dankenswerterweise vollstaendig dokumentiert, ueberzog der Anti-Physiognom Lavaters Methode mit vernichtendem Spott. Die hehre Kunst, aus der menschlichen Silhouette den Charakter zu lesen, wurde von Lichtenberg an solch niederen Objekten wie den Silhouetten von Hunde- und Schweineschwaenzen exerziert und in pseudowissenschaftlichem Tonfall dargelegt. Als genuegte das nicht, uebertrug er die so gewonnen Erkenntnisse auf die Zoepfe maennlicher Studenten, wobei die phallischen Implikationen eine weitere Ebene der Provokation ausmachten.

War Lavater als 'Anwender' von Schattenrissen hier also einerseits Gegenstand einer literarischen Karikatur, so zog er andererseits auch Gewinn aus gezeichneten Karikaturen, in besonderem Masse aus jenen eines der beruehmtesten Silhouettisten und Karikaturisten seiner Zeit, Jean Huber. Der Genfer Huber wurde durch die Portraits des Philosophen Voltaire bekannt. Die karikierenden Scherenschnitte, ab Ende der 1750er Jahre entstanden, wurden mit der Zeit fast beruehmter als ihr Modell, wie Voltaire mokant angemerkt haben soll: "C'est donc Huber qu'on vient voir Ferney & non pas moi!" Dem erst durch Garry Apgars Dissertation (Garry Apgar: L'art singulier de Jean Huber. Voire Voltaire. Paris 1995) wieder in die Diskussion gebrachten Kuenstler durch zahlreiche Exponate den gebuehrenden Platz einzuraeumen, gehoert zu den besonderen Verdiensten der Ausstellung. Mehrere Erfindungen machen Huber, wie Claudia Denk in ihrem Katalogessay ausfuehrt, zu einem der zentralen Erneuerer der Silhouettierkunst. Erstens bereicherte er die zu einem Gesellschaftsspiel buergerlicher Dilettanten herabgesunkenen Technik um grossformatige szenische Scherenschnitte, deren Motive den hoeheren Gattungen Mythologie und Historie entnommen waren. Auch die Form der Praesentation aenderte sich durch Hubers Kunst, da er fuer seine Kompositionen weisses Papier verwendete. In einem abgedunkelten Raum vor der Lichtquelle zwischen zwei Glasscheiben installiert, hatte ihre Praesentation ereignishaften Charakter, daemmerten Erscheinungen im flackernden Kerzenlicht auf. Weiter emanzipierte sich Huber von dem vorher benutzten Silhouettierstuhl und schnitt aus der freien Hand. Letzeres eroeffnete ihm die Moeglichkeit, den Freund Voltaire in virtosen kleinformatigen Scherenschnitten zu begleiten. Huber loeste die Kontur der Darstellung in nervoese kleine Buckel auf, und setzte damit das vielfach bezeugte energetische Auftreten Voltaires in eine Linie um,die in ihrer vibrierenden Spannung wohl weit mehr ueber Voltaire erzaehlt als es ein noch so genauer Riss vermag. Dennoch grenzen diese kleine Blaetter an Karikatur, wenn Huber Voltaire tanzend darstellte, Arme und Beine in exaltierten Bewegungen vom Koerper abgespreizt, in der Linie keinen Unterschied machend zwischen flatterndem Gewand oder schlaffem Fleisch der Gliedmassen. Lavater dagegen, wohl wissend, dass es sich bei Hubers Schnitten, aber auch bei dessem beruehmten Blatt mit den 35 Varianten von Voltaires Mienenspiel, um Karikaturen handelt, analysierte diese Artefakte und kam ueber den von ihm als "geistreich geistlosen Erzschalk" bezeichneteten Voltaire zu der Erkenntnis: "Nicht ganz klug ist die Stirne des Klugen, das Nasloch nicht ganz klug, aber das ganze verkuendigt den Mann doch von klugem Charakter." Wie zuvor schon bei Goethe, fuehrte Lavater seine eigene Methode ad absurdum, indem er die europaweit bekannten Eigenschaften des Philosophen in die karikierte Silhouette hineinsah bzw. sie daraus hervor physiognomierte.

Als Antithese zur Silhouettiermode und dem sie begleitenden Freundschaftskult stellen sich die floralen Weissschnitte Philipp Otto Runges dar. Die beruehmten Blumensilhouetten, um 1805 entstanden, werden in dem Muenchener Projekt in einem neuen Kontext praesentiert, der zunaechst einleuchtet, bei kritischer Betrachtung aber zunehmend problematisch erscheint. Ausstellungsinszenierung und Kataloglayout suggerieren, dass Analogien zwischen den Pflanzenportraits Runges und den vegetabilen Photogrammen der Pioniere der Lichtbildnerei zu beobachten seien, die ueber die blosse Motivaehnlichkeit hinausgehen. Schon die vordergruendigste Tatsache - dass naemlich die bildgebende Technik fundamentale Unterschiede erzeugt - erfaehrt keine Stellungnahme. Bleibt der Akt des Abbildens bei den fruehen Photogrammen weitestgehend an den noch risikoreichen photochemischen Vorgang gebunden, so ist es bei Runge und anderen Silhouettisten ja die Hand des Kuenstlers, die die Transformation vollzieht. Auch die Behandlung des Motivs offenbart grundlegende Differenzen. So attestiert Ortrud Dreyer in ihrem Katalogbeitrag zwar einerseits der Rungeschen Naturaneignung "Unbefangenheit, Natuerlichkeit und kindliche Naivitaet", macht aber andererseits klar, dass Runges Bestreben, "den Blumen Sprache zu verleihen, wie sie ihnen als reinen Naturwesen nicht gegeben ist" sich in der ornamenthaften Abstraktion vom gesehenen Pflanzenbild aeussert. Diametral entgegengesetzt jedoch muss, entgegen der Ausstellungsdramaturgie, das Erkenntnisinteresse der Autoren der fruehen Photogramme gedacht werden. Die Inkunabeln der Photographik dienten primaer einem wissenschaftlichem Interesse, bestand doch eine ihrer wesentlichsten Qualitaeten darin, dass sie ihre Objekte in 'Lebensgroesse' abbildeten. Zudem unterlagen Motivwahl und -behandlung deutlich ablesbaren Kriterien. Um die Systematik des Pflanzenwuchses zu erforschen und um die objektiven Gesetzmaessigkeiten der Natur zu begreifen, untersuchte man ueberwiegend Pflanzen, z. B. Farne, deren regelmaessige Gestalt die frontale Projektion in die Flaeche befoerderte. Runge dagegen waehlte erkennbar Pflanzenformationen, deren raumgreifender Wuchs bei der Ueberfuehrung in die Flaechigkeit eines Scherenschnittes Ueberschneidungen erzeugt, die die Identifizierung des Objekts erschweren. Das Entziffern der derart abstrahierten Pflanzenchiffren fordert vom Betrachter also ein einfuehlendes, imaginierendes Sehen, ein Rueckfuehren der Flaeche ins Volumen.

Adolph von Menzel thematisierte in seinen zwischen 1828 und 1845 entstanden Scherenschnitten die Raumhaltigkeit der Silhouetten ungleich direkter. In den bisher unbekannten, im Berliner Kupferstichkabinett entdeckten und in Muenchen erstmals ausgestellten Portraitsilhouetten markierte Menzel die Binnenlinien und -flaechen durch Schnitte in den weissen Papiergrund. Volumen wird nicht nur erahnbar, sondern durch Positiv-Negativ-Effekte anschaulich gemacht, wobei letztere wiederum erst in der Betrachtung gegen eine Lichtquelle, somit im Umkehrverfahren, die gewuenschte Illusion ergaben. Menzels uebte sich also in seinen fruehen Scherenschnitten in einer Darstellungsweise, die er, wie der Katalogbeitrag Marie Ursula Riemann-Reyhers nahelegt, in seinen spaeteren revolutionaeren Holzschnitten perfektionieren sollte.

Aus der Fuelle der in Ausstellung und Katalog weiter vertretenen Kuenstler, z. B. Hans Christian Andersen, Hannah Hoech, Pablo Picasso, Henri Matisse, Mario Merz und Christian Boltanski sei zuletzt als Vertreter der juengsten Zeitgenossen auf Stefan Saffer verwiesen, der auf die Urspruenge der Silhouette rekurriert: Zeichnung und Riss. Saffer zeichnet auf fluoreszierendes Papier, schneidet aber dann um die gezeichneten Linien herum das 'ueberfluessige' Material weg. Das Dazwischen, bei einer herkoemmlichen Zeichnung in unterschiedlichem Masse akzentuiert, wird so einerseits radikal negiert, andererseits als wesentlich bildkonstituierendes Element erfahrbar. Nichts und Etwas sind untrennbar aneinander geklammert, erst die Struktur der netzartig verbundenen Papierstege ermoeglicht den Zusammenhalt der Gesamtkomposition. In geringem Abstand vor der Wand installiert, weisen die Objekte mit ihrer Rueckseite zum Betrachter, waehrend die Vorderseite zartfarbige Schatten an die Wand wirft. Diese Schatten wiederum sieht Saffer als "dritte Zeichnung" gleichberechtigt mit den zwei anderen seinen Scherenschnitten zugrundeliegenden Zeichnungsarten: der Vorzeichnung mit dem Stift auf das Papier und der Zeichnung mittels der Schere in das Papier hinein. Somit wird hier von Saffer das Papier - bei der klassischen Silhouette Medium der Fixierung des Schattens eines Subjekts - selbst zum Subjekt erhoben, das seinerseits einen eigenen Schatten werfen kann.

Den weiten Bogen von zeitgenoessischen Positionen wie jener Saffers bis zurueck zu Lavater gespannt zu haben, macht den besonderen Stellenwert von Ausstellung und Katalog aus. Dem Besucher bleibt lediglich zu bedauern, dass darauf verzichtet wurde, im Ausstellungsraum Platons Hoehle nachzubilden. Im 'Kunstbau', dem unterirdischen Ausstellungsraum der Muenchner Staedtischen Galerie im Lenbachhaus, mit seiner verglasten Front zum belebten U-Bahnhof hin, haetten die idealen Voraussetzungen dafuer bestanden.

Ackermann, Marion; Friedel, Helmut (Hrsg.): SchattenRisse. Silhouetten und cutouts, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2001
ISBN-10: 3-7757-1021-3, 323 S

Empfohlene Zitation:
Barbara Lauterbach: [Rezension zu:] SchattenRisse - Silhouetten und Cutouts (München) (Kunstbau Lenbachhaus, München, 03.02.–27.05.2001). In: ArtHist.net, 01.05.2001. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/532>.

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