Er wurde der "goettliche Raffael" und der "sterbliche Gott" genannt. Dass Raffael taetsaechlich ueber Jahrhunderte unsterblich blieb und weit mehr als Michelangelo oder Leonardo zum Inbegriff des Renaissancemalers und Protagonisten der italienische Kunst ueberhaupt wurde, verdankt er seinem innovativen und ueberaus irdischen, geschaeftstuechtigen Einsatz der Druckgraphik. Diese eigens produzierte Raffael-Graphik sowie die Reproduktionsgraphik nach seinen Fresken und Gemaelden bilden das zentrale Thema einer Ausstellung der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart mit dem Titel "Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk in Zeitaltern seiner graphischen Reproduzierbarkeit" (bis 22. 7.) Das von Corinna Hoeper zu diesem Anlass vorgelegte Handbuch mit dem umfassenden Bestandskatalog geht weit ueber die Anforderungen an einen Ausstellungskatalog hinaus. Angeregt wurde die Ausstellung durch den Ankauf einer anonymen Zeichnung, die den etwas umstaendlichen Titel "Gott erscheint Isaak, der um die Schwangerschaft Rebeccas bittet" traegt. Ihre Zuschreibung an Raffael laesst erneut ueber die Aufgaben der Werkstatt und das alte Problem der "Haendescheidungen" reflektieren, denen sich Corinna Hoeper im einleitendes Kapitel widmet.
Die Zeichnung gehoert zu einer Gruppe von Kompositionszeichnungen fuer die Loggien des Vatikan. Da Raffael in Rom mit einer Werkstatt zusammenarbeitete, zu der Giulio Romano, Pierino del Vaga und Giovanni Francesco Penni gehoerten, die er offenbar auch in den Entwurfsprozess mit einbezog, ist die Zuschreibung problematisch. Giulio Romano und Pierino del Vaga bildeten einen eigenen Stil aus und leiteten nach dem Tod Raffaels eigene Werkstaetten, Penni aber ist als Kuenstlerpersoenlichkeit nicht fassbar. Detaillierte Stilvergleiche des Stuttgarter Blattes mit weiteren Zeichnungen fuer die Loggien - "Gott scheidet Licht und Finsternis", "Jakobs Traum von der Himmelsleiter" und der "Bethlehemitische Kindermord" (alle London, British Museum) sowie "Esau vor Jakob" (Chatsworth) - zeigen praezise Uebereinstimmungen. Dieses sowie ein weiteres noch nie publiziertes Blatt aus Baseler Privatbesitz, das die Erschaffung Evas darstellt, weisen den gleichen von Blicken und Gebaerden geschaffenen Raum, die gleiche Plastizitaet der Figuren und Architekturen und die gleiche Technik auf. Aufgrund ihrer hohen Qualitaet wurden die Zeichnungen aus London, Chatsworth und Stuttgart von Konrad Oberhuber und Achim Gnann anlaesslich der Ausstellung "Raffael und der klassische Stil in Rom", Mantua/Wien 1999 alle Raffael zugeschrieben. Kennzeichnend fuer die Problematik der Haendescheidung ist die Tatsache, dass keine der Legenden der Ausstellung mehr mit den Namen auf den Passepartouts der ausgestellten Blaetter uebereinstimmt. Auf den Passepartouts erscheint mehrfach der Name von Giovanni Francesco Penni, den Vasari "il fattore", den Macher, nannte, von dem es jedoch nicht ein gesichertes Werk gibt. Der umtriebige Kuenstler war fuer die Uebertragung der Zeichnungen auf Kartons zustaendig. Da es den Zeichnungen von Penni an der fuer Raffael typischen Raumerzeugung durch die Kommunikation von Gesten und Blicken sowie an anatomischer Praezision und pointierten Akzenten fehle, so folgert Corinna Hoeper, seien die beiden Neuentdeckungen diesem Kuenstler nicht zuzutrauen. Weil aber bis heute keine Zeichnung Pennis gesichert ist, bleiben auch Hoeper berechtigte Zweifel, ob man Penni nicht Unrecht tue, indem man ihm, dem "fattore", die schwaecheren Blaetter zuschreibe. Die Qualitaet des neuen Stuttgarter Blattes und seine Zugehoerigkeit zu der genannten Gruppe von Kompositionszeichnungen aber werden ueberzeugend deutlich gemacht.
Eine weitere Zuschreibung einer Federzeichnung an Raffael, "Zwei nach rechts eilende Juenglinge von rueckwaerts gesehen" (Kat. Nr. II. 2), ist hingegen nicht nachzuvollziehen. Das Blatt muss weder ein Original sein, wie Corinna Hoeper postuliert, noch von Raffael selbst stammen. Dazu ist die Zeichnung in der Strichfuehrung definitiv zu kleinteilig und unentschlossen, in der Proportion des rechten Armes des rechten Laeufers zu schwach. Gerade die anatomische Sicherheit ist ein Kriterium fuer die Zuschreibung an Raffael selbst (Hoeper S. 35 f.), sie zeichnet auch die Federzeichnungen aus, z. B. die Studie eines Mannes und eines Buecher tragende Juenglings in Lille oder "Mercur im Fluge" aus Koeln (Kat. Nr. I, 11). Zwar zeigen sich Parallelen in der Koerperhaltung mit der zum Vergleich herangezogenen Zeichnung eines Kriegers aus Florentiner Zeit (Venedig, Galleria dell'Accademia), nicht aber in der Technik, die eher verdeutlicht wie sicher Raffael bereits um 1506 als Zeichner war.
Das eigentliche Anliegen von Corinna Hoeper aber ist die Druckgraphik, die in einem zweiten grossen Kapitel eingehend analysiert wird. Zwar gab es im Raffael-Jahr 1983 eine Reihe von Ausstellungen der Graphik, die aber vom Motivischen gepraegt waren, nicht jedoch auf das Medium im Zusammenhang mit Raffael eingingen. Neben der Malerwerkstatt existierte ein zweites "Team", das die Zeichnungen des Kuenstlers in Kupferstiche uebertrug. Mit dem Kupferstecher Marcantonio Raimondi bildete Raffael eine erfolgreiche Kuenstlergemeinschaft, die die Ideen des Meisters durch Druckgraphik so weit wie moeglich zu verbreiten suchte. Die Basis ihrer guten Zusammenarbeit, in der der Kupferstecher dem Maler nur geringfuegig nachstand, war die Trennung von "invenit" und "fecit", also von der Idee, die Raffael fuer sich beanspruchte, und der Ausfuehrung, fuer die Raimondi und seine Mitarbeiter zustaendig waren. Der immense Erfolg des neuen Mediums Kupferstich trug nicht nur den Ruhm Raffaels aus den verschlossenen Gemaechern des Vatikan nach ganz Europa, sondern war auch eine ausgezeichnete Verdienstquelle, wie uebrigens auch fuer die folgenden Generationen der Reproduktionsgraphiker. Raimondi und die Werkstatt arbeiteten ausschliesslich nach Zeichnungen, weil diese "Raffael-Graphik" seine Erfindungen bewahrte, waehrend die endgueltigen Ausfuehrungen in der Malerei durch Mitsprache der Auftraggeber Veraenderungen ausgesetzt waren. So wurde beispielsweise Raffaels urspruenglicher Entwurf fuer den "Parnass" nur durch den Raimondi-Stich ueberliefert. Andere Zeichnungen, wie der "Bethlehemitische Kindermord", wurden ausschliesslich als Stichvorlage angefertigt. Die Weiterverarbeitung der von Raimondi gestochenen Blaetter erfolgte schliesslich durch die Verleger, in Rom vor allem Antoine (Antonio) Lafreri, der sonst vor allem fuer seine Veduten roemischer Ruinen bekannt ist. Corinna Hoepers Studie zur Raphael-Graphik bringt viel Bekanntes, jedoch gibt es keine vergleichbare, dermassen akribisch recherchierte und kompetente Zusammenfassung.
Die Reproduktionsgraphik, also die Arbeiten nach bestehenden Fresken und Gemaelden, wird von Corinna Hoeper zu Recht in ihrer Originalitaet als eigenstaendiges Medium verteidigt [zuletzt ein Ansatz im Ausstellungskatalog Muenster 1976, Bilder nach Bildern. Druckgraphik und die Vermittlung von Kunst]. "Kunst entsteht aus Kunst" ist der anspruchsvolle Titel der Abhandlung, die die Reproduktionsgraphik als Uebertragung eines Kunstwerkes in ein anderes, das sich in Groesse, Farbe und Technik von ihm unterscheidet. Die in der Reproduktionsgraphik auftretenden Abweichungen von der Vorlage wie auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Wiedergaben desselben Werkes lassen erkennen, welche Freiheiten sich die Stecher und Radierer nahmen und wie weit sie einen eigenen Stil auspraegten. Sie verstanden sich nicht als Kopisten, sondern als Kuenstler, die die Werke ihrer Vorbilder interpretierten, weswegen auch der Ausdruck "Interpretationsgraphik" anstelle von "Reproduktionsgraphik" verwendet wird [C. Ruemelin, Die Interpretationsgraphik von Johann Gotthard Mueller (1782 - 1816), Stuttgart 2000]. Bis ins 18. Jahrhundert hatten nur wenige Besucher des Vatikan die Gelegenheit, die dortigen Gemaelde, Fresken und Teppiche Raffaels zu sehen, dennoch erlangten diese Werke durch die Uebersetzung in Kupferstich und Radierung eine immense Verbreitung und hielten den Ruhm des Malers ueber Jahrhunderte lebendig. Auch Raffaels populaerstes Gemaelde, die "Sixtinische Madonna", war im provinziellen Piacenza verborgen und wurde erst nach dem Ankauf Augusts III. und der Ueberfuehrung in die Dresdner Gemaeldegalerie 1754 durch einen Kupferstich von Gottfried Schultze einem breiten Publikum bekannt. Seine Beliebtheit erreicht das Bild aber erst 1816 durch einen Stich Johann Friedrich Wilhelm Muellers. Andererseits wurden auch beruehmte, von Kunstkennern geschaetzte Werke, wie die "Madonna della Sedia" durch die erschwingliche Graphik demokratisiert. Zu ergaenzen waere, dass nicht nur die mangelnde Zugaenglichkeit oder der Ruhm der Raffaelwerke ueber die Verbreitung in der Reproduktionsgraphik entschieden, sondern auch das Motiv. Die Kaeufer interessierten nicht allein die schoenen Madonnen oder die Philosophen der "Schule von Athen", sondern auch die mythologischen Figuren aus der Villa Farnesina, zumeist Akte. Seit seiner Entstehung wurde der "Triumph der Galathea" reproduziert, die Darstellung der schoenen Nymphe, die schon Anfang des 16. Jahrhunderts in Rom fuer Aufsehen sorgte. Auch die nackten Goettinnen und Goetter aus der Loggia della Farnesina gehoerten zu den meist verbreiteten Kupferstichen nach Raffael.
Der "Gang durch die Jahrhunderte" demonstriert, welche Autoritaet sich Raimondi und seine Werkstatt mit der "Raffael-Graphik" bei Generationen von Kupferstechern erwarb. Raimondis Stich nach der von Penni (?) kopierten Raffael-Zeichnung der heiligen Caecilie, der von dem Gemaelde in Bologna abweicht, wurde zum Vorbild fuer Marco Dente, schliesslich fuer den barocken Stecher Philippe Thomassin und noch fuer Lithographen des 19. Jahrhunderts, deren grosse Blaetter einen Schlusspunkt der Druckgraphik setzen. Eindrucksvoll zeichnen sich aber auch die Kuenstlerpersoenlichkeiten in ihren eigene Stilepochen und Kunstlandschaften ab. Pieter van Sompels Stich nach der "Schluesseluebergabe an Petrus" steht Peter Paul Rubens naeher als Raffael, der von Nicolas Dorigny erinnert an Poussin.
Der enorme Bestandskatalog von etwa 2000 Blaettern der Druckgraphik von und nach Raffael lenkt die Konzentration von den Zeichnungen ab, was bei der Qualitaet der hochkaraetigen Blaetter und der diffizilen Diskussion um die Zuschreibung zweier neuer Zeichnungen bedauerlich ist. Ueberhaupt ist die Fuelle des Materials sowohl im Handbuch wie in der Ausstellung kaum zu bewaeltigen, anderseits waren die Einzigartigkeit und Qualitaet der Rezeption Raffaels in diesem Masse noch nicht untersucht. Nicht einmal so beruehmte Stecher wie Marcantonio Raimondi wurden von der kunsthistorischen Forschung naeher beruecksichtigt, ganz zu schweigen von den weiteren 370 Stechern und Radierern, die nach dem Handbuch die Apotheose Raffaels betrieben. Die Ausstellung und der Bestandskatalog leisten auch in diesem Bereich Pionierarbeit. Zu bemaengeln waere hoechstens, dass viele der Abbildungen zu klein sind, um die Arbeiten ausreichend beurteilen zu koennen.
Der Katalog versteht sich als Handbuch, wie Corinna Hoeper im Vorwort anmerkt. Manches, wie der ausfuehrliche Abschnitt ueber die Verleger, mag dem Leser anfangs etwas langatmig vorkommen, in Zukunft aber wird jeder an Graphik Interessierte froh und gluecklich sein, eine solches Handbuch zur Hand zu haben!
Höper, Corinna; Brückle, Wolfgang (Hrsg.): Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk in Zeitaltern seiner graphischen Reproduzierbarkeit ; [dieser Bestandskatalog erscheint anläßlich der Ausstellung der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart "Raffael und die Folgen - Das Kunstwerk in Zeitaltern Seiner Graphischen Reproduzierbarkeit" 26. Mai bis 22. Juli 2001], Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2001
ISBN-10: 3-7757-1035-3, 604 S, DM 148.-
Recommended Citation:
Sabine Poeschel: [Review of:] Raffael und die Folgen (Stuttgart) (Staatsgalerie Stuttgart, May 26–Jul 22, 2001). In: ArtHist.net, Jun 19, 2001 (accessed Dec 2, 2024), <https://arthist.net/reviews/530>.
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