REV-EX 05.12.2001

Hilka Nordhausen: "Montags Realitaet herstellen." (Hamburg)

Hamburger Kunsthalle, 16.11.2001–10.02.2002

Rezensiert von Claudia Sedlarz, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, CVMA Potsdam

Wer kennt Hilka Nordhausen? Auch diejenigen, denen zu ihrem Namen die "Buch Handlung Welt" einfaellt, wissen sonst wenig ueber sie. Nordhausen verstarb 1993 mit 44 Jahren. Seitdem gab es einige Erinnerungen an sie, vor allem anlaesslich der Ausstellung und Publikation "dagegen dabei" [1]. Auch dort aber lag der Fokus auf der Zeit zwischen 1976-1983, als in der Hamburger Marktstrasse die von Nordhausen gegruendete und geleitete "Buch Handlung Welt" ein prominenter Ausstellungs- und Anregungs-, Veranstaltungs- und Vereinigungsort war. Die kuenstlerische Arbeit Nordhausens vor und nach dieser Zeit ist dadurch noch mehr in Vergessenheit geraten.

Die Kunsthalle gibt jetzt das erste Mal einen Ueberblick ueber Nordhausens Oeuvre von ihren Anfaengen als Studentin an der Hochschule fuer bildende Kuenste in Hamburg bis zu ihren letzten schriftstellerischen Arbeiten in Berlin. Die meisten der Exponate stammen aus dem im Archiv Hilka Nordhausen aufbewahrten Nachlass. Die sorgsam konzipierte Ausstellung gibt Einblick in eine kuenstlerische Entwicklung, die mehrere Brueche aufweist. Diese Diskontinuitaet kann als Ausdruck persoenlicher Radikalitaet Nordhausens gesehen werden, die kuenstlerisch und auch sonst immer wieder bis an die Grenzen ging und dann den Weg woanders fortsetzen musste. Es wird aber sehr deutlich, dass die Brueche auch etwas mit den zeitgenoessischen kuenstlerischen Stroemungen und Stilen zu tun haben, die sich in der Zeit von 1970 (Beginn des Studiums) bis 1993 mehrfach durchgreifend veraenderten.

"Montags Realitaet herstellen", heisst die Ausstellung nach dem Titel einer Zeichung Nordhausens von 1973. Das ist programmatisch. "Normale" Realitaet gilt fuer Nordhausen nicht, die eigentliche Realitaet, diejenige die zaehlt, ist die selbstgeschaffene. Wenn allerdings alles erst geschaffen werden muss, um als Realitaet anerkannt zu werden, dann kann eine einzelne Kuenstlerin damit schwerlich fertig werden - sie muss sich notgedrungen mit einer sehr eingeschraenkten Realitaet zufriedengeben. Das war das Dilemma vieler kuenstlerischer Biographien der 70er/80er Jahre: selbst bei Anwendung eines "erweiterten Kunstbegriffs", bleibt die Kunstwelt eine Teilwelt und auf ihre Art genauso eng wie diejenige, der man entfliehen wollte. Die Dedikation an Kreativitaet als Moeglichkeit radikaler Selbstbestimmung barg gewaltige Risiken in sich. Wenn Kreativitaet nicht nur befreit ist, sondern die Aufgabe uebertragen bekommt, befreiend zu sein, kann es leicht passieren, dass man sie sich in einem paradoxen Verfahren als Leistung abringen muss.

Nordhausen studierte bei Franz Erhard Walther und Gerhard Ruehm, und am Ende ihres Studiums 1975 hatte sie eine sehr eigenstaendige Position zwischen Zeichnung und Aktionskunst gefunden. Zeichnen wurde von ihr mehrfach als oeffentliche Aktion ausgefuehrt. Zeichnen gilt als die intimste, zarteste, auch direkteste Kunstform. Nordhausen nimmt dem Zeichnen genau diese Eigenschaften und macht einen mechanischen Vorgang daraus. Ihre zeichnerischen Handlungen richten sich nach einem selbst vorgegebenen Regelsystem: eine bestimmte Flaeche, z.B. eine ganze Wand war mit Strichen zu bedecken, oder der Rhythmus der Zeichenbewegungen war durch ein Metronom bestimmt. Die Spannung dieser vor Publikum ausgefuehrten Zeichenaktionen lag darin, dass einerseits die Kuenstlerin ihren Koerper sozusagen als eine Zeichenmaschine einsetzte, das Zeichnen also weitgehend entindividualisierte, andererseits aber die Regisseurin dieser Selbstaufgabe war: Maschine und Maschinistin, Dienerin und Herrin in einem. - Nordhausen nannte einen Block dieser Arbeiten "Untersuchungen zum Zeichenvorgang", d.h. die Zeichung wurde nicht zur Selbsterforschung eingesetzt - was einer traditionellen Idee ensprochen haette -, sondern in einer tautologisch-pseudowissenschaftlichen Anordnung wurde der Zeichenvorgang DURCH den Zeichenvorgang gleichzeitig untersucht und die Untersuchung - als Auf-Zeichung - dokumentiert. Trotzdem durch diesen Rahmen eine weitere Distanzierung zu allem Affekthaften und Subjektiven, das durch die Zeichnung transportiert werden kann, behauptet wird, besitzen die in der Kunsthalle ausgestellten und die im Katalog abgebildeten grossformatigen Zeichen-Blaetter eine eigene Handschrift: man kann ihnen eine Energie und Praezision zusprechen, die man in Nordhausens spaeteren Werken so nicht mehr findet.

1976 begann Nordhausen einen neuen Werkabschnitt. Sie gruendete die "Buch Handlung Welt" (im folgenden abgekuerzt: BHW). Sie schuf sich einen Ort, an dem Kunst und andere Lebensrealitaeten weitgehend zur Deckung kamen. Wieder die Grundidee: "Die Arbeit: der Lebensraum kommt nicht von selbst, er muss erzeugt werden" - "wichtig, die aktuellen Zeitprobleme und das Zeitempfinden. die Verwicklung der einbezogenen Multiplikatoren und Kuenstler. durch nichtkommerzielles Vorgehen ein Angebot zu schaffen das neue Verknuepfungen und Ereignisse moeglich macht. zielt darauf, Grenzbereiche zu oeffnen, zielt auf Austausch und Kommunizierbarkeit der unterschiedlichen Bereiche"[2]. So beschrieb Nordhausen das Programm der BHW aus der Rueckschau.

In der BHW trafen ehemalige Kommilitonen der HfbK auf damals schon beruehmte Helden der Subkultur und solche, die erst spaeter beruehmt wurden. Es gab Lesungen, Konzerte, monatlich wechselnde Wandbilder und viel Diskussion. Die BHW war ein Gemeinschaftswerk, aber Nordhausen war die zentrale Figur und Entscheiderin. Je groesser der Kreis um die BHW wurde, desto weniger konnte Nordhausen sich den Anforderungen an sie entziehen. Die Gleichsetzung von Kunst- und Lebensraum bedeutet auch: es gibt keinen Aussenraum mehr. Arbeit, Beziehungen, Sexualitaet, Rausch alles liegt innerhalb der Sphaere der Kunst. Das wurde fuer Nordhausen (wie in ihren Tagebuechern dokumentiert) nach und nach ein Problem, fuer das sie einen Ausweg suchen musste.

Die BHW-Zeit war die Zeit, in der New Wave und "Wilde Malerei" begannen. Auch Nordhausen hatte begonnen zu malen. 1979 - 1985 uebermalte sie insgesamt ueber 100 Exemplare der Zeitschrift "Stern" Seite fuer Seite. Diese Arbeiten stellen eine eigenartige Mischung aus den in den 60er Jahren noch provozierend aggressiv wirkenden Buchuebermalungen ihres Lehrers Gerhard Ruehm und der ironischen 80er Jahre "Wilde"-Naivitaet dar. Es gibt aber eine Parallele zu den Zeichnungen Nordhausens, die in der Betonung des Motorischen liegt. So wie die Zeichenbewegungen durch bestimmte Vorgaben reguliert waren, werden hier die Bewegungen des Pinsels vom vorgefundenen Layout geleitet. Im Vergleich zur Praezision der Zeichungen wirken aber die Uebermalungen recht verwaschen und beliebig, man koennte auch sagen: lieblos gemacht. Sie waren kein klar definiertes kuenstlerisches Vorhaben, sie druecken hoechstens die Suche nach einem solchen aus. Offenbar fehlte Nordhausen ab einem gewissen Zeitpunkt die Energie, diese Suche energisch genug zu betreiben.

Nordhausen gab 1983 die BHW endgueltig auf und zog nach Koeln ins neue Malermekka. Die Zeit in Koeln muss sie sehr verunsichert haben. Sie fand in der dortigen Szene keine Anerkennung. Es laesst sich nicht ergruenden, was da Ursache und Wirkung war: fuehrte ihre kuenstlerische Verunsicherung und Unzufriedenheit mit ihren eigenen Arbeiten zu sozialer Verunsicherung? Oder war es umgekehrt, und sie wurde durch die Kraenkung blockiert, dass sie, die in Hamburg als BHW-Inhaberin "weltberuehmt" gewesen war, als Kuenstlerin nicht fuer voll genommen wurde? Eines kann man jedenfalls sagen: in den ohnehin auf strengstes Coolness-Gebot achtenden 80er Jahren entstand in Koeln eine neue marktorientierte, maennerdominierte Kunstszene mit aeusserst rigiden Verhaltensregeln, denen Nordhausen sich nicht anpassen konnte und wollte. Sie war bereits Mitte dreissig, also um einige Jahre aelter als die gehypten "Jungen Wilden", sie war nicht besonders schick, ausserdem trank sie zuviel und nervte dann. Das waren genug Gruende fuer einen Ausschluss.

Ihr blieb eigentlich nichts uebrig als das Feld zu raeumen. 1986 erfolgte ein weiterer Umzug: nach Berlin. Nordhausen kehrte wieder zu konzeptuelleren und vor allem literarischen Arbeiten zurueck. Unter anderem stellte sie zwei Diaschauen zusammen, die Szenen aus der BHW, Reisen, Lesungen an anderen Orten dokumentieren. Sie hatte einen Hang zum Sammeln und genauem Aufzeichnen; man kann wohl sagen, dass sie auch hier versuchte, nachtraeglich "Realitaet herzustellen". Eine der Diaschauen wird in der Ausstellung gezeigt. Ihre Erzaehlungen sind in dem Band "Melonen fuer Bagdad" gesammelt, der 1990 erschien. In ihrem Todesjahr erschien: "Gluecklichsein fuer Doofe. Das Ende einer Obsession". 1993 starb Nordhausen an Krebs.

Der von Petra Reichensperger kuratierten Hamburger Ausstellung gelingt es, die verschiedenen Stationen des Nordhausenschen Lebens und Werks sehr uebersichtlich darzustellen. Reichensperger verbrachte zur Vorbereitung viele Wochen im Archiv Hilka Nordhausen, um den umfangreichen Nachlass durchzusehen. Mit sicherer Hand hat sie eine Auswahl aus der Fuelle des Materials getroffen, und dabei Dinge beruecksichtigt wie einen fruehen Text Nordhausens, "sieben versuche mit einer polaroid", der jetzt von Glauner/Butzmann zu einer "auditiven Performance" vertont wurde, die man in der Ausstellung anhoeren kann. Sehr schaetzenswert an der Ausstellung und dem zugehoerigen, sehr informationsreichen Katalog ist auch, dass voellig darauf verzichtet wird, die "subversive" Aesthetik etwa der im BHW-Umkreis entstandenen Fanzines nachzuahmen - im Zeichen des 80er-Jahre Revivals haette das durchaus nahegelegen. Die Ausstellung hat nicht das Anliegen, an einem Mythos zu basteln - wozu die Figur Nordhausens sich grundsaetzlich schon eignete -, sondern sie stellt die Arbeit einer wichtigen Kuenstlerin erstmals umfassend vor und wuerdigt sie.

Anmerkungen:
[1] dagegen dabei. Texte, Gespraeche und Dokumente zu Strategien der Selbstorganisation seit 1969. Hg. v. Hans-Christian Dany, Ulrich Doerrie, Bettina Sefkow. Hamburg 1998. 1994/95 fand in Hamburg eine gleichnamige Ausstellung statt.
[2] "Statement", 9. Maerz 1988, abgebildet im Katalog "Montags Realitaet herstellen", Katalog zur Ausstellung, Hamburg 2001, S. 120)

Reichensperger, Petra (Hrsg.): Hilka Nordhausen. Montags Realität herstellen ; Zeichnungen, Fotosequenzen, Diaprojektionen, Übermalungen, Künstlerbücher ; [Katalog zur Ausstellung Hilka Nordhausen ... Hamburger Kunsthalle 16. November 2001 - 10. Februar 2002], Hamburg: Selbstverlag 2001
ISBN-13: 978-3-922909-66-8, 131 S

Empfohlene Zitation:
Claudia Sedlarz: [Rezension zu:] Hilka Nordhausen: "Montags Realitaet herstellen." (Hamburg) (Hamburger Kunsthalle, 16.11.2001–10.02.2002). In: ArtHist.net, 05.12.2001. Letzter Zugriff 24.11.2024. <https://arthist.net/reviews/527>.

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