REV 03.11.2003

Raulff, Ulrich: Wilde Energien

Rezensiert von Werner Rappl

Der Titel "Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg" auf knallorangem Cover verspricht auf 150 Seiten in vier getrennten Aufsätzen ungestüme Überlegungen zu einem legendenumwobenen Wissenschaftler und richtet sich offensichtlich nicht primär an ein fachwissenschaftliches Publikum.

Zwei der vier in sich abgeschlossenen, jeweils getrennt voneinander konzipierten Abhandlungen werden hier in nur leicht veränderter Form wieder abgedruckt. "Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee. Warburg und die Vernunft in der Republik" erschien bereits in den Vorträgen aus dem Warburg-Haus und "Die sieben Häute der Schlange. Mit Warburg durch die Wüste" im anlässlich der Ausstellung von Amerika-Photographien Aby Warburgs publizierten Bildband.[1] Fußnoten berücksichtigen aktuelle Publikationen (vor allem das Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg,[2] das sich als eine wahre Fundgrube erweist) die vom Autor kurz kommentiert werden. Diese Vorgehensweise hält für den Leser in zahlreichen Passagen Déjà-vu-Erlebnisse bereit, vor allem bei Absätzen, die nahezu wörtlich nicht nur im ausgewiesenen Erstdruck, sondern auch noch in einem weiteren vor ein paar Jahren im gleichen Verlag publizierten Aufsatz Ulrich Raulffs zu diesem Thema zu lesen sind.[3]

Neben einer zusammenfassenden Übersicht über den bekannten Stand der Warburg-Forschung enthält der vorliegende Sammelband eine Fülle wichtiger Anregungen und neuer Einblicke in die umfangreiche archivalische Hinterlassenschaft Warburgs, die sowohl dem mit Warburgs Werk nicht Vertrauten als auch dem Kenner seiner Arbeiten in kurzweiliger Form anregende Fährten zur näheren Erkundung dieses noch großteils unbekannten Kontinents legen. Am besten gelingt es Raulff in der Studie, die er Warburgs Auseinandersetzung mit der politischen Symbolik der Briefmarken widmet, unbekanntes Archivmaterial zum Gesamtwerk des Gelehrten in Beziehung zu setzen.

Die Aufsätze thematisieren die bedrohlichen Energiepotentiale der Bilder und deren praktische Nutzung in politischer Propaganda (die praktischen politischen Vorhaben Warburgs im Austausch mit Politikern seiner Zeit wie Stresemann) ebenso wie theoretische Überlegungen zur Beherrschung dieser Bedrohung zum Beispiel durch den geregelten Umgang mit der Gefahr im Ritual. Sie zeigen, wie sich in fortschreitender Sublimation vom Menschenopfer über das Tieropfer bis hin zur Transsubstantiation der Eucharistie zivilisatorischer Fortschritt vollzieht, wobei sich Warburg, wie Raulff an verschiedenen Stellen ausführt, durch ein ausgeprägtes Sensorium für den damit verbundenen Verlust an Unmittelbarkeit und Energie auszeichnet und immer wieder die abgeschnürten Energieflüsse und erstarrten Formen diagnostiziert, die mit dieser Abstraktion einhergehen.

Dabei geht es nicht zuletzt auch um eine genauere Definition des Bildbegriffs, der in seiner durch Warburg angeregten erweiterten Form äußerst prekär wurde. Die von Warburg so eindringlich im Detail präsentierte und am eigenen Leib erfahrene Gefährdung durch die Schlagkraft der Bilder lässt sich zwar auf Warburgs Spuren an zahlreichen Beispielen demonstrieren, eine Definition der historischen, materiellen oder semantischen Realität dessen, was gemeint ist, wenn wir von "Bildern" reden, fehlt aber, und da in den kurzen Aufsätzen des vorliegenden Bandes kein Platz für umfassende Theorien ist, bezeichnet Raulff im Vorwort seine Überlegungen als Mosaiksteine zum Bilde Warburgs. Die Frage nach der Authentizität der Methode Warburgs in den Arbeiten und Reflexionen seiner Nachfolger, die von Georges Didi-Huberman in seinem jüngsten Werk über Warburg so treffend behandelt wurde,[4] klammert er bewusst aus und bekennt sich etwas kokett zu einem Historismus, dem es nur darum geht, Warburg aus seiner Zeit heraus zu verstehen.
Die Nymphe, eine der von Warburg bereits sehr früh formulierten Grundfiguren, die ihm in ihren Darstellungen mit "bewegtem Beiwerk", wie Warburg es nannte, zur symbolhaften Verkörperung des Wandels und der Bewegung wurde und sein gesamtes Werk durchzieht, wurde bereits in Ernst Gombrichs Biographie ausführlich dokumentiert. Im ersten Aufsatz des Bandes stellt Raulff die vom Bostoner Historiker Henry Adams um 1900 formulierte Engführung der Jungfrau und des Dynamos als Energiequellen der Antike beziehungsweise der Neuzeit der Vorstellung des von Warburg in diversen bildlichen Darstellungen der Renaissance analysierten Dynamogramms der Nympha in Form einer jungen Frau im Laufschritt gegenüber. Warburg betrachtete nicht nur die Wiedergabe einer Bewegung im Kunstwerk, sondern "begriff das Kunstwerk als ein Energiefeld", ein "virtuell bewegtes Wesen", das "Strahlen oder Pfeile aussendet" und somit "Künstler wie Betrachter bedrohen kann". Von den dynamischen Linien dieses Beiwerks zieht Raulff eine direkte Entwicklungslinie zur etwas später von Warburg im Schlangentanz der nordamerikanischen Indianer untersuchten Form der Schlange. Die aufs Äußerste verknappten sprachlichen Formulierungen Warburgs (Raulff nennt sie ein "Morsealphabet der Energie") und die Art, in der er indianische Ornamentik bespricht, sieht Raulff als Parallelen zur Abstraktion von Künstlern wie Klee und Kandinsky, durch die "eine naturalistische Darstellung zertrümmert und in ihre Formatome oder Morpheme zerfällt werden kann. Aus diesen lassen sich dann neue, 'abstrakte' Symbolsprachen aufbauen, die einer Piktogrammatik oder Form der Notation zwischen Bild und Schrift gehorchen."[5]

Entgegen seinem einleitenden Bekenntnis zum bloßen Historismus kann es sich Ulrich Raulff nicht verkneifen, Parallelen der ondulierenden Linien von Warburgs bewegtem Beiwerk zu "den kleinen Staubwolken hinter den Füßen eines davoneilenden Donald Duck" anzuführen, nicht ohne dieses Aperçu auch noch durch Warburgs Interesse für "Chap-books"[6] zu legitimieren, denen Warburg 1897 eine kurze Besprechung widmete. Dieses Detail zeigt die Schwächen dieser durchaus anregenden, aber bisweilen sehr unvermittelt nebeneinander gestellten Geistesblitze zu ausgewählten Motiven, die nach dem Motto "and now for something completely different" keine Fortsetzung finden. Vieles aus der Literatur längst Bekanntes findet sich so neben erhellenden Kommentaren zu bislang unpublizierten Teilen des Nachlasses Aby Warburgs.

Sätze wie "Es ist eine interessante Frage, weshalb der Kulturhistoriker und eifrige Nietzsche-Leser Warburg in ein und derselben Figur verschmolz, was der Philosoph als die apollinischen und die dionysischen Kräfte in Kunst und Leben der Griechen unterschieden hatte", lassen offen, inwiefern Warburg diese Kräfte denn tatsächlich verschmolz oder nicht doch eher die diesem Figurentypus innewohnenden Antagonismen zunächst im Briefwechsel mit Jolles beschreibt und später mit seinem begrifflichen Instrumentarium von "Pathosformel" bis "energetischer Inversion" analysierte. Vor allem, wenn Raulff gleich im darauffolgenden Satz selbst befindet: "Die florentinische Nymphe war eine - und sie war viele." Ratlos suchen wir nach der in der Fußnote versprochenen Aufklärung im letzten Aufsatz des Bandes, doch dort bringt Raulff zwar unbekannte Äußerungen Warburgs aus dem Tagebuch der KBW und den zahlreichen Randnotizen Warburgs in seinem Exemplar von Nietzsches "Geburt der Tragödie", die aber in Bezug auf das äußerst spannende und wenig bearbeitete Verhältnis Nietzsche - Warburg nur zur Andeutung der über das bekannte Ausmaß weit hinausgehenden Vertrautheit Warburgs mit Nietzsche führen. Gerade hier wünscht man sich eingehendere Vergleiche, die über Einflüsse und Seelenverwandtschaften belegende Zitate hinausgehen. Am Schluss des letzten Aufsatzes des Bandes findet sich dann aber doch die wichtige Unterscheidung der Bewertung des Bildes bei Nietzsche, der es der apollinischen Sphäre zuordnet, und bei Warburg, der sowohl dionysische als auch apollinische Kräfte im Bild analysiert. Eben diesen Konflikt zerreißender und vereinender Kräfte sieht Raulff auch in Warburgs Sprachstil am Werk, den er von den titelgebenden "wilden Energien" durchströmt sieht. Also konstatiert er letztlich wohl doch eher Konflikt als Verschmelzung.

Der zweite Aufsatz behandelt Warburgs Forschungsreise nach Nordamerika Ende des 19. Jahrhunderts und seinen 1923 vor den Ärzten der Kreuzlinger Nervenheilanstalt "Bellevue" darüber gehaltenen Vortrag, mit dem der seit einigen Jahren dort als Patient ansässige Warburg seine Gesundung belegen wollte. Raulff, dem das große Verdienst zukommt, den Vortrag Warburgs erstmals in deutscher Sprache publiziert und kommentiert zu haben,[7] schrieb den vorliegenden Aufsatz wie erwähnt ursprünglich für den Katalog einer Ausstellung der von Warburg bei dieser Forschungsreise gemachten Photographien und gekauften Keramiken. Über die aus diesen Publikationen bereits bekannten Tatsachen hinaus widmet sich Raulff nun den unterschiedlichen Deutungen des Vortrags durch die Wissenschaft, um seinerseits die dort unentrinnbar ineinander verwobenen psychologischen und wissenschaftshistorischen Ansätze zugunsten einer Konzentration auf das Motiv der Schlange hinter sich zu lassen. Warburg geht es dabei nicht nur um das Angst reduzierende Vermögen des Rituals, in dem die Schlange stellvertretend für den unbeherrschbaren Blitz in den Mund genommen und so dem Willen der Menschen unterstellt wird, sondern, wie Raulff in der vorliegenden Fassung seiner Studie verdeutlicht, auch um den zivilisatorischen Fortschritt der Verabschiedung des Menschen- oder Tieropfers. Das belegt ein Zitat aus dem wichtigen, bislang wenig beachteten Brief Aby Warburgs an seine Nichte Gisela vom Frühjahr 1929, in dem er diese Entwicklung von den Juden über die Christen fortschreibt: "Das Judentum hat in der Entwicklung des Opferkultus [...] eine heroische vermittelnde Aufklärungsstellung [...] eingenommen [...]. Erst die revolutionierenden Erben des Judentums, die Christen, versuchten durch imaginäre Generalablösung des blutigen Opfers, das Gotteshaus vom Qualm des Opferaltars zu reinigen."[8]

Im dritten, wie erwähnt ebenfalls bereits publiziert vorliegenden Text, "Der unaufhaltsame Aufstieg einer Idee", gelingt es Raulff in konziser Form, aus Warburgs eingehender Beschäftigung mit der Symbolkraft von Briefmarken die wechselnde Bearbeitung einzelner Motive im Gesamtwerk Warburgs zu entwickeln. Warburgs Interesse an Briefmarken ging bis hin zu eigenen Vorschlägen zur Gestaltung einer Briefmarke, die er anlässlich eines Besuchs Stresemanns in der Bibliothek Warburg diesem auch persönlich unterbreitete (was, wie Raulff aus dem Nachlass Stresemanns belegen kann, durchaus Nachhall bei Stresemanns vor dem Völkerbund vorgetragenen Überlegungen zu einer einheitlichen europäischen Währung und einer europäischen Briefmarke fand).

Die verstärkte Auseinandersetzung mit der politischen Symbolik der Briefmarke sieht Raulff als einen durch den 1. Weltkrieg bedingten Wandel der Schwerpunkte Warburgscher Forschung: "Hatte Warburgs Kritik vor dem Krieg in erster Linie Denkmälern und Wandbildern gegolten, also typisch bürgerlichen Formen der Repräsentation, so richtete sie sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre auf ephemeres Bildgut wie Briefmarken, Werbebroschüren und die Fotos der illustrierten Presse". Besonders deutlich zeigt sich dies in einer von Raulff zitierten Notiz aus dem Jahr 1926: "Wenn alle Documente verloren, genügt ein vollständiges Markenalbum zur Total-Reconstruction der Weltkultur im technischen Zeitalter." Dementsprechend nimmt Raulff die umfassenden Briefmarkentafeln Warburgs näher unter die Lupe und konstatiert, dass dieses Projekt Warburgs im Rahmen der Vorbereitung zum Bilderatlas gleichrangig als eine der verschiedenen erhalten gebliebenen Fassungen gesehen werden muss: "Dabei stellt der Briefmarkenvortrag [...] selbst ein Tafelwerk im kleinen oder einen Bilderatlas en miniature dar: gleichsam das den großen Andachtsraum ersetzende Reisealtärchen." Eine Parallele, die auch durch Warburgs Auseinandersetzung mit den Symbolen des italienischen Faschismus auf den letzten Tafeln der letzten Fassung des Bilderatlas "Mnemosyne" belegt wird. Hier gelingt es Raulff in beispielgebender Art, seine umfassende Kenntnis des im Warburg Institute in London liegenden Archivmaterials zu nutzen, um Warburgs Interesse an Technik im allgemeinen und Luftfahrt im besonderen von einem frühen Text Warburgs zu Darstellungen der Himmelsreise Alexanders des Großen über seine aus Briefen dokumentierten Versuche als Ausstatter von Luxusdampfern bis hin zu seiner allgemeinen Interpretation der technischen Beherrschung des Luftraums als Teil des Bemühens der Menschheit um Orientierung im geistigen Raum darzustellen.

Auch im Hinblick auf Warburgs Sprache gelingt es Raulff, eine Entsprechung zu Warburgs Interesse für die Luftpostmarke zu finden. Die als linguistische Analogie zum Jugendstil gesehene "florale Metaphorik des Wachsens, Aufgehens, Knospentreibens" findet sich bei Warburg ergänzt durch eine Metaphorik der Wanderwege, der übertragbaren Prägungen bis hin zu den "Bildfahrzeugen", was Raulff "als sprachlichen Widerpart zu jener bodensüchtigen Metaphorik der 'Verwurzelung' und des 'Einwachsens'" sieht, der "die deutsche Wissenschaft auf dem Weg ins völkische Lager begleitet hat." Als weitere Folge dieser Mobilisierung des Ausdrucks sieht Raulff auch die veränderbaren und transportablen Bildtafeln des Mnemosyne-Projekts mit seiner "Raum und Zeit, Stile und Genres übergreifenden Komparatistik", die sich die "Ubiquität und Dimensionslosigkeit des Kunstwerks, die dessen fotografische Reproduktion mit sich brachte" zu Nutzen machte.

Der abschließende Text des vorliegenden Bandes ("Der Teufelsmut der Juden. Warburg und Nietzsche in der Transformatorenhalle") setzt sich eingehender mit Warburgs Nietzsche-Rezeption auseinander und vermag hier auch zahlreiche wertvolle Fundstücke aus dem Nachlass zu präsentieren, die das Naheverhältnis Warburgs zu Nietzsche eindringlich belegen, insbesondere was den Energiebegriff und die aus der Naturwissenschaft (Helmholtz, Einstein, Bohr) bezogenen Anregungen zur Entwicklung einer Psychoenergetik betreffen. Und auch hier zeigt Raulff Aufgabenstellungen für lohnende zukünftige Forschungsprojekte auf, wenn er Auszüge aus dem "stark annotierten" Exemplar von Nietzsches Geburt der Tragödie aus der Bibliothek Warburg bringt oder durch Zitate aus weniger bekannten Quellen Warburgs, die sich in seiner Bibliothek finden, Leerstellen der Forschung benennt, die es zu füllen gilt, bevor sinnvoll genauere Aussagen zu Warburgs Schaffen gemacht werden können: "Warburgs naturwissenschaftliche, naturphilosophische und wissenschaftsgeschichtliche Bibliothek harrt noch der Entdeckung und Erschließung. Solange sie nicht erfolgt ist, läuft die Philologie immer wieder Gefahr, das Bild des Kulturwissenschaftlers Warburg einseitig zu verkürzen."

Dabei kommentiert er en passant auch die in letzter Zeit zu Aby Warburg erschienenen wissenschaftlichen Untersuchungen, vor allem Didi-Hubermans Werk,[9] die seit langem grundlegendste und umfangreichste Arbeit, die eigentlich nur an Ernst Gombrichs Biographie Warburgs[10] gemessen werden kann, sowie das Werk von Philippe-Alain Michaud über die Parallelen zwischen Warburgs Thematisierung der Bewegung im Bild und der gleichzeitigen Entstehung des Films.[11]

Als Wermutstropfen ist zu vermerken, dass leider auch hier Schlüsseltexte Warburgs wie seine Einleitung zum Mnemosyne-Atlas abermals nach der in der Nachfolge Gombrichs tradierten maschinenschriftlichen Fassung zitiert werden, die von Warburg bewußt geprägte und in der handschriftlichen Version eindeutig nachweisbare Wortneuschöpfungen wie "leidschaftlich" wieder zu "leidenschaftlich" normalisiert.

Die durch Fußnotenverweise nur mühsam kaschierten zahlreichen Wiederholungen hätten durch Streichungen durchaus verringert werden können. In jedem der vier Aufsätze finden sich zum Beispiel mehr oder weniger ausführliche Überlegungen Raulffs zu Warburgs eigentümlich verknapptem und mit Metaphern versetzten Sprachstil, worunter die Geschlossenheit der Darlegung leidet und eine Engführung der Argumentation erschwert bis unmöglich wird. Die Bedeutungsfülle von Warburgs überladenem "Kompreßstil", der ein Maximum an Gehalt in ein Minimum von Worten packt, und der meines Erachtens weniger einem "Vertrauen auf die epistemologische Leistung der Metapher" geschuldet ist, wie Raulff meint, sondern eher ein Leiden am Ungenügen des sprachlichen Ausdrucks verrät, kann so kaum mit der Entdeckung der Polysemie, der fundamentalen semantischen Instabilität, in Zusammenhang gebracht werden, die Raulff im Aufsatz über Warburgs Schlangenritualvortrag kommentiert hat.

So bleibt es leider in vielen Fällen bei Andeutungen, Anregungen und Einblicken in den unveröffentlichten Nachlass, die auf ein Grundproblem der Warburgforschung verweisen. Das nur in Bruchstücken veröffentlichte Werk Warburgs scheint wie wenig andere, Wissenschaftler zur Kommentierung, Analyse und mehr oder weniger inspirierten Weiterführung anzuregen. Durch die fehlenden Publikationen des Warburg-Nachlasses besteht seit geraumer Zeit die unbefriedigende Situation, dass viele Theorien auf den dünnen Beinen der vorliegenden Bruchstücke errichtet werden und die proteische Vielfalt der Ansätze Warburgs Gefahr läuft, zur Beliebigkeit zu verkommen.

Das Herausgebergremium der Studienausgabe der Gesammelten Schriften Warburgs, dem Ulrich Raulff ebenfalls angehört, hat bislang den Nachdruck der bereits kurz nach dem Tod Warburgs erschienenen Gesammelten Schriften (Bd. I.1 und I.2), den Bilderatlas Mnemosyne (Bd. II.1, mit nahezu vollständigen Legenden zu den Bildtafeln, aber ohne Warburgs fragmentarischen und im Gesamtwerk verstreuten Kommentar, ohne den der Bilderatlas unverständlich bleibt[12]) und das Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (Bd. VII) veröffentlicht, darüberhinaus aber noch nichts von jener Unmenge an Material aus dem Nachlass, dessen äußerste Ergiebigkeit sich abermals aus Raulffs vorliegendem Band ersehen läßt. Es ist zu hoffen, dass die Anregungen des Bandes den Fortschritt der Edition beflügeln können.

Anmerkungen:
[1] Ulrich Raulff, "Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee.'Idea vincit': Warburg, Stresemann und die Briefmarke" in: Vorträge aus dem Warburg Haus, Band 6, Berlin 2002; Ulrich Raulff, "Die sieben Häute der Schlange: Oraibi, Kreuzlingen und zurück: Stationen einer Reise ins Licht", in: Grenzerweiterungen. Aby Warburg in Amerika 1895 - 1896, hg. v. Benedetta Cestelli Guidi und Nicholas Mann, Hamburg-München 1999 (davor in englischer Sprache unter dem Titel "Photographs at the Frontier. Aby Warburg in America 1895 - 1896", London 1998).
[2] Aby Warburg, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (Gesammelte Schriften, 7. Abtlg., Bd. VII), hg. v. Karen Michels u. Charlotte Schoell-Glass, Berlin 2001.
[3] Dieser Effekt stellt sich in dem bezeichnenderweise "Warburg oder die Wiederholung" betitelten Text ein, der sich in dem im übrigen sehr anregend zu lesenden Band Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte, Göttingen 1999, findet, im dem ebenfalls vier Aufsätze Ulrich Raulffs versammelt sind.
[4] Georges Didi-Huberman, L'Image survivante, Paris 2002.
[5] Schon in einem frühen Aufsatz über Aby Warburg schrieb Raulff in Bezug auf Warburgs Bilderatlas sogar von einer "Denkapparatur [...], in der die Intelligibilität Bilder gleichsam in reiner Äußerlichkeit ohne Durchgang durch die reduktive Innerlichkeit eines Diskurses, sichtbar wird" Ulrich Raulff, "In Bildern denken", in: Freibeuter Nr. 12, 1982.
[6] Aby Warburg, "Amerikanische Chap-books (1897)" in: Gesammelte Schriften, Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Leipzig/Berlin 1932, Berlin 1998; Bd. 2. Warburg beschrieb die Chap-books als "billige Halbmonatsschriften kleinen Formates, in denen junge Schriftsteller und Künstler einen neuen Ton anzuschlagen sich bemühen". Warburg interessierte vor allem die Frische und Unbefangenheit der Texte und Illustrationen, die er in wohltuendem Gegensatz zur "selbstgefälligen Müdigkeit" des Fin de Siècle sah.
[7] Aby M. Warburg, Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff, Berlin 1988.
[8] Ausführliche Überlegungen zum Thema des Menschenopfers und Warburgs Sicht der Rolle des Christentums insbesondere in Hinblick auf Warburgs Mnemosnye-Projekt finden sich im Aufsatz " Gli spazi di Warburg. Topografie storico-culturali, autobiografiche e mediali nell'atlante Mnemosyne" von Gudrun Swoboda und Wolfram Pichler im soeben erschienenen Band der Quaderni Warburg Italia. L'Atlante della Memoria. Filosofia delle immagini. Per un lessico warburghiano, Florenz: Cadmo 2003.
[9] wie Anm. 4.
[10] Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg 1981, 1992 (davor in englischer Sprache: Aby Warburg. An intellectual biography, London 1970).
[11] Philippe-Alain Michaud, Aby Warburg et l'image en mouvement, Paris 1998.
[12] Ein erster Versuch, Warburgs Kommentare zu den Bildtafeln der letzten Version des Mnemosyne-Atlas zusammenzutragen und mit diesen gemeinsam zu publizieren wurde bereits in den Katalogen der in Wien, Hamburg, Siena, Florenz, Rom und Neapel gezeigten Ausstellung der rekonstruierten letzten Version des Mnemosyne-Atlas unternommen: Begleitmaterial zur Ausstellung "Aby M. Warburg. Mnemosyne", hg. v. M. Koos et al., Dölling und Galitz: Hamburg 1994 (deutsche Fassung), Mnemosyne. L'Atlante della memoria di Aby Warburg. Materiali a cura di Italo Spinelli e Roberto Venuti, Artemide: Roma 1998 (italienische Fassung).

Raulff, Ulrich: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft; 19), Göttingen: Wallstein Verlag 2003
ISBN-10: 3-89244-674-1, 151 S, 14.00

Empfohlene Zitation:
Werner Rappl: [Rezension zu:] Raulff, Ulrich: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft; 19), Göttingen 2003. In: ArtHist.net, 03.11.2003. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/525>.

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