FOCUS 1600 – 3. Aschaffenburger Symposium zur Architektur und Bildenden Kunst des Manierismus 2025: Unbegrenzte Möglichkeiten? Die Zeichnung im Manierismus
[Bericht im Auftrag der Veranstaltenden]
Der Manierismus ist und bleibt ein Faszinosum. In den langen Jahren des Gebrauchs vom Manierismus als einem Stil ist ihm viel zugemutet worden: das ‚bloße‘ Krisenphänomen der Glaubensspaltung im Norden, der Regelverstoß oder die Ausprägung eines besonders expressiven Stilidioms. Die Aura des Antiklassischen verlieh dem Manierismus nicht erst Walter Friedländer, denn schon Burckhardt prägte in seinem „Cicerone“ das Bild einer der Ausartung und der „unwürdigen Verwilderung“ sich hingebenden Kunst in der Zeit zwischen 1520 und 1620. Die rhetorische Grundfigur des Manierismus, so könnte man sagen, ist die Hyperbel.
Mitte September wartete in Aschaffenburg die Tagung „Focus 1600“ in mittlerweile dritter Auflage mit zwei material- und ideenreichen Konferenztagen auf. Das bereits seit 2021 bestehende Format wurde von Thomas Schauerte in Kooperation mit Birgit Ulrike Münch und Matthias Müller organisiert und widmet sich dem Manierismus in Bildender Kunst und Architektur. Überschrieben war das diesjährige Treffen mit „Unbegrenzte Möglichkeiten? Die Zeichnung im Manierismus“. Zum Anspruch zählte, mit einem zu eindimensionalen terminus technicus aufzuräumen und den Horizont methodologisch wie ergebnisorientiert auszuweiten, um letztlich eine schärfere Profilierung des Begriffs mit einer bewusst kulturwissenschaftlichen Perspektivierung zu erreichen. Kaum eine andere Technik ist etymologisch so sehr mit einem Epochenstilbegriff verbunden wie die Handzeichnung mit dem Manierismus, abgeleitet von „maniera“ (it.) und „manus“ (lat.) für Hand. Schon allein der Tagungsort, das von Georg Ridinger ab 1605 entworfene Schloss Johannisburg, bereitete dem Konferenzthema eine treffliche Bühne.
Den Auftakt machte ein Doppelvortrag von Lisa Hecht (Marburg) und Marie Luise Geißler (Halle) zu einem kleinen Corpus von Aktzeichnungen Pontormos, das sie einem Queer-Reading unterzogen. Anknüpfend an das heuristische Modell einer „Anachronic Renaissance“ (Nagel/Wood), wonach sich die historische Differenz von Entstehungskontext und Gegenwart des Deutungszeitpunkts als dynamisches Verhältnis von Kunstwerk und Betrachtenden beschreiben ließe, wären die sich einer binären Geschlechtsidentifizierung entziehenden Akte im Sinne einer Geschlechterambiguität zu verstehen. Überzeugende Lesehilfen bieten antike hermaphroditische Skulpturen sowie die Erzählung vom platonischen Kugelmenschen wiewohl noch die Rolle einer frühneuzeitlichen Gliederpuppe für den Zusammenhang der verrenkten, gedrehten liegenden Körper und deren Geschlechtlichkeit bedacht werden könnte.
Jürgen Müller (Dresden) unterzog Bartolomeo Passerottis Auffassung zeitgenössischer Kunsttheorie einer Autopsie. In einer im Louvre befindlichen Zeichnung des Bologneser Manieristen offenbart sich dessen Programm einer um Ausgleich und Eintracht bemühten Kunst, ausgerechnet in einer von Michelangelo und Raffael gemeinschaftlich durchgeführten Anatomiestunde. Weniger die Rivalität konkurrierender Schulen – repräsentiert durch umstehende Künstler wie Giulio Romano, Sebastiano del Piombo oder Tizian – als vielmehr das Modell einer zur Synthese fähigen Kunst, die sich gemäß des von Buonarroti sezierten Darms ‚guter Verdauung‘ verdankt, scheinen das Anliegen Passerottis gewesen zu sein.
An Fragen der imitatio-Problematik schloss der Vortrag von Simon Paulus (Stuttgart) insofern an als er eine Zeichnung des Aachener Rathauses aus der Sammlung Albrecht Haupts vorstellte, die in der Adaption alter zeichnerischer Darstellungstechniken als originelle Fälschung für ein Irritationsmoment sorgen wollte. Karina Pawlow (Florenz) präsentierte Ergebnisse ihres Dissertationsprojekts zum cristallo, jenem auf Murano gefertigten, in ganz Europa begehrten Glas, das in elaborierte Formen geblasen und gezogen wurde. Eingang fanden die anspruchsvollen Glasfigurationen auch in die Zeichnungen der Frühen Neuzeit, so etwa in das im Archivio di Stato di Venezia verwahrte Libro del Ser. Sign. Principe Luigi d’Este. Besteht für die als Gluckpokale oder Scherzgläser bezeichneten Trinkgefäße ein reizvolles Spiel aus optischen und akustischen Effekten, lösen sich die Zeichnungen vom Zweck des Glases. Ihre raffinierte Erscheinung täuscht über ihre fehlende Umsetzbarkeit hinweg.
In einer instruktiven Analyse beschäftigte sich Claudia Echinger-Maurach (Münster) mit dem Entwurfsprozess bei der Zusammenarbeit Michelangelos mit Daniele da Volterra und dessen Rezeption durch Spranger und de Vries. Ihr Interesse galt dem Verhältnis vom Adepten zu seinem Mentor unter Berücksichtigung stilistischer, ikonographischer wie narratologischer Aspekte, die die Lebendigkeit, den Witz und eine feinsinnige Erotik besonders in mythologischen Sujets zeigte. Ebenfalls dem Werdegang schöpferischer Ideen und deren Materialisierung in der Grafik widmete sich Matthias Müller (Mainz). Anknüpfend an die Studie Friedrich Teja Bachs und das metamorphotische Prinzip der Linie bei Dürer operierte der Vortrag an den Methodengrenzen des Faches: Wie materialisiert sich eine Idee als Linie im Bild? An ausgewählten Beispielen wie den Randzeichnungen im Gebetsbuch Kaiser Maximilians über Gewand- und Kissenstudien hin zur Apokalypse-Darstellung „Johannes verschlingt das Buch“ reflektierte Müller das Gestaltungsprinzip als semantisches Ausdrucksmittel, das er aus der Verbindung von deutschem und italienischem Humanismus sowie romanisch-gotischer Tradition herleitete.
Den ersten Konferenztag beschloss Stephan Hoppes (München) Abendvortrag mit einer Würdigung des Beitrags von Hans Krumpper für die Münchner Residenz. Für sein Plädoyer einer klassischen Methode der Zuschreibung durch Vergleich unter Zuhilfenahme aller zur Verfügung stehenden Dokumente und digitalen Anwendungen griff Hoppe u.a. auf den Krumpper-Nachlass im Stadtmuseum zurück und hypothesierte plausibel die architektonische Innovation aus der Italienreise des Architekten.
Den zweiten Symposiumstag eröffnete ein Referat zur Sammlungsgeschichte manieristischer Zeichnungen der Graphischen Sammlung der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach von Christina Hofmann-Randall (Erlangen-Nürnberg). In einer Funktions- und rezeptionsgeschichtlichen Einordnung konzentrierten sich Anne-Katrin Sors und Arwed Arnulf (beide Göttingen) auf ein bislang unbeachtetes, sieben Zeichnungen umfassendes Konvolut zum Speyrer Ölberg. Schlüssig rekonstruierten sie den Zweck der Zeichnungen in Vorbereitung einer Buchpublikation. Die epochalen Grenzen nahm Birgit Ulrike Münch (Bonn) ins Visier, indem sie am Beispiel von Jan van der Straets Nova Reperta-Serie, genauer dem Guaiacum, nach der Bedingung für eine manieristische Ikonographie und weniger dem manieristischen Stil als solchem fragte. Mit der um 1500 auftretenden Syphilis grassiert in Europa eine der zeitgenössischen Auffassungen nach aus der „Neuen Welt“ eingeschleppte Krankheit, für die das Guaiacum Heilung versprach. Die Genese dieser neuen Krankheitsikonographie u.a. auch aus der Tradition der ars moriendi zu begreifen, leistete einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Visualisierung der ersten frühneuzeitlichen Pandemie und der damit einhergehenden Epochenschwelle.
Ausgehend vom kriegsbedingt beeinträchtigten Überlieferungsstand der Zeichnungen Tobias Stimmers führte Thomas Schauerte (Aschaffenburg) eindrücklich die aus einer stilistischen Versiertheit erwachsende pluralistische Qualität des Schweizer Künstlers vor Augen. In einer geschickten Anwendung ikonographisch vorgehender wie stilistisch-exegetischen Methode verfolgte er eine bisher ungeklärte, ursprünglich möglicherweise zweiteilig konzipierte mythologisch-allegorische Federzeichnung nicht nur auf die Autorschaft Stimmers, sondern auch auf die Thematik des Silbernen Zeitalters zurück. Dem Desiderat eines Catalogue raisonné der Zeichnungen des vor allem als Kupferstecher bekannten, geschäftssinnigen Augsburger Lucas Kilian in Verbindung mit einer Charakterisierung dessen Zeichenkunst Vorschub zu leisten, war das Anliegen Susan Tiptons (München).
Nils Büttner (Stuttgart) entwickelte aus dem Paradox des überaus produktiven, die Selbstbezeichnung als Zeichner aber ablehnenden Peter Paul Rubens eine Funktionstypologie der Zeichnung. Das überraschende Unterfangen, sich Rubens als Manieristen anzunähern, scheint angesichts von dessen ökonomischem, zum Teil geradezu radikalen Umgang mit dem Medium Zeichnung und mehr noch dessen historistischer Arbeitspraxis einige Berechtigung zu haben. Imaginations-, Aneignungs- und Transformationsprozesse gehen den konstruierten Figuren und Darstellungen voraus und spiegeln die manieristische Denkweise des Künstlers.
Abschließend unternahm Stefan Trinks (Frankfurt/M.) eine überzeugende Rehabilitierung des für sein (angeblich fehlendes) Stilbewusstsein vielfach gescholtenen Würzburger Fürstbischofs Julius Echter. Dem wiederum kriegsbedingten Manko an Entwurfszeichnungen der von ihm beauftragten Gebäude ist indes nur mittels rekonstruierender Fantasie beizukommen. Dass dem dezidierten Stilgebrauch der früher als „Sondergotik“, später „Echter-Gotik“ bezeichneten Architektur ein ebenso kunstsinniges wie politisches Kalkül im Dienst der Gegenreformation zugrunde liegen kann, destillierte Trinks aus einer Auswahl von Echter beauftragter Bauprojekte. Nimmt man den politischen Anspruch ernst, könnte man zukünftig von „Echters marianischem Manierismus“ sprechen.
Was bleibt? Hinsichtlich der Vielzahl der Fallstudien zur europäischen Zeichenkunst ging mit dem diesjährigen Tagungsprogramm nicht die explizite, sondern die implizite Profilierung des Manierismusbegriffs einher. Positivistische oder pejorative Tendenzen der Kunstgeschichte gehören der Vergangenheit an. Vielmehr, so ist zu lernen, gewinnt eine lange Zeit unterschätzte Epoche an Kontur, wenn man vom universellsten Medium, der Zeichnung, ausgehend im selbstbewussten Umgang mit der Form sowie dem überzeitlichen wie historischen Selbstverständnis einen roten Faden erkennt – der Methodenvielfalt sei Dank.
Ein Blick auf das Tagungsprogramm lässt indes ein Nachwuchsproblem erkennen: von insgesamt 14 Vorträgen stammten trotz offener Ausschreibung nur zwei von Prae- bzw. Post-Docs. Für die Zukunft steht zu hoffen, dass sich wieder mehr Nachwuchsforscher:innen Themen der alten Kunst zuwenden, denn – wie die Tagung bewiesen hat – auch oder gerade im Bereich des Manierismus harren weiterhin zahlreiche Probleme und Aufgaben ihrer Lösung.
Recommended Citation:
Martin Lottermoser: [Conference Report of:] FOCUS 1600 – Unbegrenzte Möglichkeiten? Die Zeichnung im Manierismus (Aschaffenburg, Schloss Johannisburg, Sep 11–12, 2025). In: ArtHist.net, Oct 31, 2025 (accessed Nov 1, 2025), <https://arthist.net/reviews/51026>.
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