REV-EX Nov 20, 2002

Sand in der Vaseline. Kuenstlerbuecher II. 1980-2002 (Krefeld)

Kaiser Wilhelm Museum Krefeld (Krefelder Kunstmuseen), Oct 27, 2002–Feb 9, 2003
Darmstadt Hessisches Landesmuseum, 23.03.2003- 09.06.2003
Nürnberg Neues Museum, 19.12.2003-29.02.2004

Reviewed by Carolin Behrmann
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WIE KOMMT DER SAND IN DIE VASELINE?

Woelfe im Schafspelz, "U-Boote" im Kunstbetrieb oder "Sand in der Vaseline": in der Krefelder Ausstellung werden Kuenstlerbuecher der letzten 22 Jahre als potentiell subversives, stoerendes, ungreif- und unberechenbares Medium dargestellt.[1] Sie entziehen sich nicht nur durch bisweilen kleine Auflagen, sondern ebenso durch die dem eigentlichen Medium Buch abweichende Sprache und divergierenden Gestaltungen immer wieder einer genauen Klassifizierung. Die von Sabine Roeder kuratierte Ausstellung stellt sich als Fortsetzung zum Thema Kuenstlerbuch im Krefelder Kaiser Wilhelm Museum vor, und knuepft damit an die Vorgaengerin von vor zehn Jahren an: "[Kuenstler : Buecher I]", in welcher der Bruch mit der Tradition des Malerbuches nach 1960 thematisiert worden war.[2]

In insgesamt sechs thematisch gegliederten Kapiteln werden von rund 30 Kuenstlern gestaltete Buecher, die zumeist von privaten Sammlern zur Verfuegung gestellt wurden, gezeigt. Auf grossen an die Wand gelehnten Holzstellagen und in Holzvitrinen stehen bzw. liegen Buecher von Kuenstlern wie Kippenberger, Oehlen, Herold, Hirst, Pettibon, Mc Carthy, Feldmann, Parr, Calle, Horn, Kabakov, Barney, von denen oft die Umschlagseiten, etliche aber auch aufgeklappt zu sehen sind. Obgleich Ausstellungen zum Kuenstlerbuch Konjunktur zu haben scheinen, standen die Buecher der Periode von 1980 bis heute noch nie in dieser Weise im Zentrum einer Ausstellung, wie in Krefeld. Juengste beispielhafte Praesentationen des Mediums sah man in der Bremer "Malerbuecher - Kuenstlerbuecher"-Ausstellung (Neues Museum Weserburg)[3] oder in der Kabinettausstellung "Poetry Intermedia Kuenstlerbuecher nach 1960" in der Kunstbibliothek Berlin.[4]

Den fulminanten Auftakt der Krefelder Ausstellung bildet Candida Hoefer (Abb.1). Die Becher-Schuelerin und Fotografin von Innenraeumen, stellt im Treppenaufgang die Fotoserie der "Leseraeume" aus: grossformatige Fotografien von ehrwuerdigen Bibliotheken bis hin zu schlichten Leseplaetzen, bestehend aus Tisch und Stuhl. Man sieht kaum lesende Menschen in den Bildern, Buecher werden zu Ausstellungsgegenstaenden und von aussen betrachtet.

Kuenstlerbuecher auszustellen ist eine schwierige Angelegenheit, denn sie sind "skulptural", allansichtig und sowohl innen wie aussen gestaltet (Abb. 2). Sie sind haptische Erlebnisse, und wie jedes Buch ergeben ihre Seiten nur Sinn in der Sequenz; jedwede (Un-) Logik ist auch nur in der Betrachtung des ganzen Buches zu begreifen. Die Schwierigkeit liegt darin das exklusive Medium, das wesentlich an die "Privatheit" und Intimitaet zwischen Autor und Leser adressiert ist, oeffentlich zu machen. So wird die "Subversivitaet" eines Kuenstlerbuches allererst der Sammler oder Ausstellungsmacher erfahren, der das meist prezioese Buch in die Hand nimmt, es liest, vor- und zurueckblaettert, ertasten kann. Dem geneigten Ausstellungsbesucher bleibt nicht selten nur der Blick in die Vitrine, um, ueber das Glas gebeugt, sich in einen Ausschnitt des Buches zu vertiefen und alles andere zu erahnen. Die Krefelder Kuratoren wissen um das Problem und versuchen es mit einer eigens eingerichteten Bibliothek zu loesen, in der ein Teil der Buecher sowie Sekundaerliteratur einsehbar ist. In der Ausstellung verteilt stehen ausserdem mehrere Computer in denen einige Buecher per mouseclick durchgeblaettert oder auch Buchsequenzen ueber Dia- und Videoprojektionen angeschaut werden koennen. Doch das Gefuehl der Entbehrung stellt sich immer wieder ein, beim Blick auf die hinter Plexiglas gesetzten Buecher.

Der erste Raum, der mit "Einfuehrung ins Denken" betitelt ist, zeigt Arbeiten von Martin Kippenberger, dessen intensive Auseinandersetzung und Ideenfindung in Sachen Kuenstlerbuch hiermit einen Schwerpunkt der Ausstellung bildet.[5] Kippenbergers Persiflagen auf die Buchmarktkonventionen zeigen sich unter anderem in seinen Umgestaltungen von Reclamheftchen oder dem blossen Einschweissen eines Buches, das dadurch zu einem "echten" Kippenberger wird, und er jegliches copyright der Verleger und Autoren verlacht und unterwandert. Aus dem Kuenstlerbuch eines anderen sein eigenes zu machen heisst bei Kippenberger Vierteilen: A.R. Pencks urspruenglich mit "Die Welt des Adlers" betiteltes Buch wird in Groesse, Seitenumfang und Auflage geviertelt und neugebunden zu Kippenbergers "Welt des Kanarienvogels".

"Adult Comedy Action Drama"[6], so lautet ein Buchtitel von Richard Prince, der zum Motto der naechsten Ausstellungssektion geworden ist. Sie zeigt die Buecher von Damien Hirst, Raimond Pettibon, Richard Prince und Paul Mc Carthy. Eine Idee der vorsetzlichen Tabubrueche stellt sich ein, auch wenn nur die harmloseseren Seiten der hier versammelten Buecher aufgeschlagen sind. Die kleinen Underground Comics von Pettibon, die, einfach kopiert und geheftet, aus dem Selbstverlag seinerzeit fuer nur einen Dollar fuenfundsiebzig zu erwerben waren, reichen ueber Horror, Blasphemie und Pornographie zum poetisch-selbstreflexiven Sujet. Auf dem Deckblatt von "Poetic use of Blood" von 1989 steht neben einer Zeichnung eines vornuebergefallenen, in der eigenen Blutlache liegenden Mannes der Kommentar: "the front covering - you finally made it into my book with a bang" - und links unten die Aufforderung "but turn me over" (Abb. 3): der Tod im Comic als Aufmacher. Damien Hirsts "I want to spend the rest of my life everywhere, with everyone, one to one, always, forever, now" von 1998 ist eines der Buecher, die in einer Ausstellung, so sehr sie auch umschrieben und erklaert werden, wohl immer zu kurz kommen werden. In diesem "autobiographischen Buch" (Barbara Horvath)[7] geht es Hirst in erster Linie um die eigene Arbeit, die spielerisch von seinen Lesern durch das Ziehen von Laschen oder kleben von Stickern und das Drehen und Wenden des Buches erfahren werden kann.

Beim Thema Photographie in den Kuenstlerbuechern der 1980er und 90er Jahre, die die folgende Sektion der "Sichtbaren Welt" zeigt, sind Hans-Peter Feldmann, Martin Parr, Wolfgang Tillmanns und Peter Fischli/ David Weiss vertreten. Was sich schon auf dem Frontcover des Ausstellungkataloges so attraktiv in den Blick schiebt ist hier wiederzufinden: die uebergeschlagenen, in Netzstrumpf gehuellten Beine einer Frau, deren Kopf jedoch immer - wie unprofessionell fotografiert - abgeschnitten ist (Abb. 4). Diese Beine, die durch Kinderphotos der Fotografierten ergaenzt werden, sind das bestimmende Motiv im Heft "Rouge" von Hans Peter Feldmann, eines der Hefte, die er seit 2001 zusammen mit Céline Duval in der Reihe der "Cahiers d'images" herausgibt; Bildserien, die sich enzyklopaedisch ausgewaehlten Themen wie Gefuehlen oder dem Fliegen widmen. Die aus verschiedenen Kontexten stammenden Bilder entbehren einer Bildunterschrift und beginnen als "anonym gewordene und schlicht kopierte Bilder ein neues Eigenleben. Sie formen sich im Kopf des Betrachters zu einer individuellen Vorstellungswelt zusammen"[8], so Dorothea Klein im Katalog zur Ausstellung.

Es soll um "wahre Geschichten" in den Arbeiten des naechsten Ausstellungsabschnittes gehen, womit nicht selten die Dokumentationen kuenstlerischer Aktionen gemeint sind, von denen zwei genauer besprochen werden sollen: Sophie Calles "L' homme au carnet (Libération)" von 1989 und "The B-thing" der Gruppe Gelatin von 2001. Calles Kuenstlerbuch besteht aus lose gefalteten Blaettern der Tageszeitung "Libération", die sich als eine Serie herausstellen, in der ein Mann beschrieben wird, ohne dass sein Name genannt oder sein Bild gezeigt wird. Calle zeigt sich in dieser Arbeit von ihrer besten Spionageseite, denn sie dokumentiert hier das, was sie in wochenlanger Arbeit zusammentrug: das Profil eines Mannes, dessen Adressbuch sie gefunden, kopiert und durchgearbeitet hat, auf der Suche nach den Freunden und Bekannten, die ihr ueber dessen Privatsphaere, seine Identitaet Auskunft gaben. Die Gruppe Gelatin hingegen war mit dem Projekt "B-thing" auf der Suche nach einem Realitaetskick der besonderen Art (Abb. 5). Ihr duennes Baendchen laesst schon ertasten um was es geht: die vertikale Stahlstruktur des ehemaligen World Trade Centers als Photo abgebildet, ist reliefiert auf dem Einband hervorgehoben und umschliesst das Buch wie eine Panzerung. In einer aufwendigen und waghalsigen Aktion im Sommer 2001 sollte diese Architektur symbolisch durchbrochen werden, indem die Gruppe einen kleinen Holzbalkon aus einem der Fenster schob, auf der gerade ein Mensch Platz fand. Das Ereignis ist auf den von der Luft und vom Boden aus gemachten Aufnahmen kaum zu erkennen, wie ein Fussel auf dem Objektiv oder eine Bildstoerung greift es den architektonischen Huenen augenzwinkernd an.[9]

"Nichts zu sagen" (Nulla da dire) hat nicht die Kuenstlerin Els Scholten, sondern die in ihrem mehrbaendigen und stetig wachsenden Kuenstlerbuch abgelichteten Politiker. Ein Lexikon der Koerpergesten, das jede denkmoegliche Form des Augenreibens, Mundzuhaltens oder Haendefaltens in Politikerbildern der italienischen Zeitung "La Repubblica" sorgfaeltig und kommentarlos zusammenstellt. Dieses Buch ist ein Teil eines groesseren Zyklus, wie auch die Buecherserien von Roni Horn, Ilya Kabakov oder Matthew Barney in dieser vorletzten Sektion der Ausstellung. Nicht zuletzt liegen die Entscheidungen ein Kuenstlerbuch zu realisieren, es zu vervielfaeltigen bei dem Verlag. Kleine ausgewaehlte Kuenstlerbuch- und Zeitschriftenreihen wie "Imschoot, uitgevers" oder die von Herman de Vries herausgegebene "eschenau summer press" bieten die Moeglichkeit die ausgefallensten Ideen zu verwirklichen und werden in den letzten Raeumen der Ausstellung gezeigt. In der Reihe "Sonne Busen Hammer" treffen wir am Ende der Ausstellung wieder auf Martin Kippenberger, der zusammen mit Wolfgang Bauer und Joerg Schlick sich zur "Lord Jim Loge", mit dem Motto "keiner hilft keinem", zusammenschloss und insgesamt 15 Hefte herausbrachte (Abb. 6). Mit dem Tod Kippenbergers 1997 wurde die Reihe eingestellt.

Erschoepft von so viel Materialfuelle haelt man inne, um sich zu fragen, was nun zusammenfassend ueber die Ausstellung gesagt werden kann. Die gutgemeinte Anzahl der ausgestellten Buecher verdraengt die eigentliche Themenstellung: gibt es eine inhaerente Subversivitaet des Kuenstlerbuches? Ist es das im Kunstbetrieb "Andere", das immer mal auftaucht, stoert und wieder verschwindet? Vielleicht haetten konkretere Kontextualisierungen der Buecher in das Gesamtwerk der Kuenstler die verschiedenen Bereiche, die das Medium Kuenstlerbuch als Instrument, Dokumentation oder eigenstaendiges Kunstwerk beruehrt, deutlicher gemacht. Die Frage danach, was denn den "Sand in der Vaseline" ausmacht, bleibt offen. Dennoch bieten die gezeigten Kuenstlerbuecher in der Zusammenschau einen der ungewoehnlicheren retrospektiven Ausschnitte der Kunst der 1980er und 90er Jahre, der nicht nur fuer Bibliophile, Sammler und Verleger interessant sein duerfte.

Anmerkungen:

[1] Katalog zur Ausstellung: Sand in der Vaseline. Kuenstlerbuecher II, 1980-2002, hrsg. Sabine Roeder, Verlag der Buchhandlung Walther Koenig, Koeln 2002.

[2] Eva Meyer-Hermann: "Woelfe im Schafspelz", in: [Kuenstler : Buecher I], Ausst.kat. Krefelder Kunstmuseen, Krefeld 1993, S.5-8.

[3] Ausst.kat.: Malerbuecher - Kuenstlerbuecher. Die Vielseitigkeit eines Medium in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Bremen 2001, kuratiert von Martin Hellmold und Anne Thurmann-Jajes.

[4] Poetry Intermedia Kuenstlerbuecher nach 1960, Sammlungskat. der Kunstbibliothek, Bernd Evers (Hrsg.), Berlin 2002, Ausstellung und Katalog von Michael Lailach.

[5] Anlaesslich der Krefelder Ausstellung legte Uwe Koch sein zweisprachiges "Kommentiertes Werkverzeichnis der Buecher von Martin Kippenberger 1977-1997" vor (Verlag der Buchhandlung Walther Koenig, Koeln 2002).

[6] Richard Prince: Adult Comedy Action Drama, Zuerich: Scalo Verlag, 1995.

[7] Siehe Barbara Horvath ueber Damien Hirst, in: Sand in der Vaseline, Koeln 2002, S.54.

[8] Siehe Dorothea Klein ueber die Cahiers d'Images, in: Sand in der Vaseline, Koeln 2002, S.76.

[9] Siehe Dorothea Klein ueber die Gruppe Gelatin, in: Sand in der Vaseline, Koeln 2002, S.114.

Röder, Sabine; Koch, Uwe (Hrsg.): Sand in der Vaseline. Künstlerbücher 1980 - 2000 ; mit einem vollständigen Verzeichnis der Künstlerbücher von Ida Applebroog, Barbara Bloom ..., Krefeld: Verlag Walther König 2002
ISBN-13: 978-3-88375-641-7, 163 S

Recommended Citation:
Carolin Behrmann: [Review of:] Sand in der Vaseline. Kuenstlerbuecher II. 1980-2002 (Krefeld) (Kaiser Wilhelm Museum Krefeld (Krefelder Kunstmuseen), Oct 27, 2002–Feb 9, 2003). In: ArtHist.net, Nov 20, 2002 (accessed Mar 29, 2024), <https://arthist.net/reviews/501>.

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