REV-EX 29.05.2003

Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauer

Staatsgalerie Stuttgart, 12.04.–27.07.2003

Rezensiert von Gudula Mayr, Kunststätte Bossard
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Ernst Ludwig Kirchner hat sich in seiner vielseitigen künstlerischen Laufbahn nicht nur als Maler, Zeichner und Druckgrafiker betätigt, sondern darüber hinaus auch ein beträchtliches bildhauerisches Werk hinterlassen. Zwar handelte es sich dabei rein zahlenmäßig um einen begrenzten Schaffensbereich -- rund 1000 Gemälden stehen 142 dokumentierte Skulpturen gegenüber, von denen etwa 80 erhalten sind --, der Künstler selbst maß ihm jedoch einen hohen Stellenwert bei. Davon zeugen vielfache Äußerungen Kirchners, insbesondere in seinen Briefen sowie in einem unter Pseudonym veröffentlichten Aufsatz. [1] Auch auf vielen Fotografien hielt der Künstler seine plastischen Arbeiten fest.

Um so erstaunlicher ist es, dass Kirchners bildhauerisches Werk von der Forschung über Jahrzehnte vernachlässigt wurde und auch in Monographien und Ausstellungskatalogen zu seinem Gesamtwerk zumeist nur am Rande erwähnt wurde, etwa im Zusammenhang mit der Ausstattung seiner Atelier- und Wohnräume oder aber als Beispiel für seine Verarbeitung von Einflüssen aus der sogenannten primitiven Kunst. [2] Im letzten Jahr hat Wolfgang Henze mit seiner Monographie mit Werkverzeichnis die erste umfassende Bearbeitung der Skulpturen des Künstlers vorgelegt und damit eine wichtige Lücke in der Kirchner-Forschung geschlossen. [3]

In Zusammenarbeit mit Wolfgang Henze ist auch die Ausstellung "Ernst Ludwig Kirchner, Der Maler als Bildhauer" entstanden, die derzeit in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen ist. [4] Mit rund 60 plastischen Arbeiten kann die Staatsgalerie drei Viertel der heute noch erhaltenen Skulpturen Kirchners zeigen; dazu sind etwa 60 Gemälde und Druckgrafiken sowie zahlreiche Fotografien des Künstlers zu sehen.

Die ausgesprochen sehenswerte Ausstellung gibt einen hervorragenden Überblick über die Entwicklung Kirchners als Bildhauer und über die Bandbreite seines Schaffens. Die vielen Leihgaben aus Museums- und Privatbesitz werden sich in dieser Dichte wohl kaum ein zweites Mal zusammenführen lassen. Gelungen ist auch die Gestaltung der Ausstellung, die in einem einzigen Saal in der Neuen Staatsgalerie stattfindet. Stellwände schaffen in der Mitte des Raumes einen klar abgegrenzten Bereich für die Gebrauchsgegenstände und Möbel des Künstlers, um den herum die weiteren bildhauerischen, malerischen und grafischen Werke sowie Fotografien in einem chronologischen Rundgang angeordnet sind.

Die chronologische Präsentation ermöglicht es, Entwicklungslinien in Kirchners bildhauerischem Werk nachzuvollziehen. Ab 1909 sind kleine plastische Arbeiten des Künstlers nachweisbar; dabei handelt es sich oft um Gebrauchs- und Einrichtungsgegenstände wie das "Stehende Mädchen" von 1910 (Kat. 5), dessen abgeflachter Kopf auf eine Verwendung als Träger eines Regalbrettes hindeutet. [5] Gleichzeitig experimentierte der Künstler auch mit anderen Materialien wie Sandstein und Muschelkalk und schuf Tonreliefs mit unverblümten erotischen Motiven, die als Ofenkacheln dienen sollten.

Nur zwei Jahre nach seinen ersten bildhauerischen Versuchen hatte der Künstler bereits große Meisterschaft als Holzbildhauer erreicht; er schuf größere Figuren mit anspruchsvollen Posen und durchbrochenen Körperformen, beispielsweise die roh behauene "Tanzenden" aus dem Jahr 1911 mit leicht eingeknickten Beinen sowie einer horchend ans Ohr gelegten Hand (Kat. 10). Besonders beeindruckend ist auch die 1912 aus hellem Birken- oder Pappelholz geschaffene "Tänzerin Gerda". Der anmutig zur Seite geschwungene Frauenakt mit den seitlich an den Kopf gelegten Händen vermittelt eine lebhafte Vorstellung von der leicht-beschwingten Stimmung der Tänzerin, die lediglich auf den Zehen steht, ohne dass die Figur von einer weiteren Stütze stablisiert würde. Die im Katalog vertretene Position, dass Kirchner neben Barlach und Lehmbruck der bedeutendste Bildhauer des deutschen Expressionismus war, [6] ist angesichts dieser und vieler anderer ausgestellter Werke nachvollziehbar. In der Ausstellung selbst sind lediglich zwei Vergleichswerke des Schweizer Künstlers Hermann Scherer ausgestellt, der sich Kirchner als Schüler anschloss und Holzskulpturen in einem ähnlichen Stil schuf; an anderer Stelle zeigt die Staatsgalerie jedoch auch Plastiken von zeitgenössischen Bildhauern aus eigenem Bestand, um eine bessere Einordnung und Bewertung des plastischen Kirchneroeuvres zu ermöglichen.

Eine entscheidende Veränderung in Kirchners plastischem Schaffen stellte sich ein, nachdem er sich 1917 in der Schweiz niedergelassen hatte; in seinen autonomen Skulpturen dominierten nun endgültig geglättete Formen und beruhigte Körperhaltungen, wie bei der glänzend polierten Figur des Bauern David Ambühl von 1918 (Kat. 54). Bemalte er seine Skulpturen, so orientierte sich Kirchner nun zumeist am Naturvorbild -- in eklatantem Gegensatz zu seinen Gemälden der Zeit. In seinem plastischen Werk der 1920er Jahre sind damit Übereinstimmungen mit der neusachlichen Skulptur zu beobachten.

Der chronologische Ablauf macht auch Brüche in Kirchners bildhauerischem Werk augenfällig, das bei allen Entwicklungslinien stilistisch heterogen war. Von den autonomen Skulpturen der Davoser Zeit unterscheiden sich die zeitgleich entstandenen Möbel und Gebrauchsgegenstände, die in der Stuttgarter Ausstellung mit einem großen Konvolut vertreten sind -- insbesondere ein für Kirchners Lebensgefährtin Erna gestaltetes Bett (Kat. 29) sowie mehrere aus einem Stamm gearbeitete Stühle (Kat. 31, 34 und 40), die mit figürlichen Schnitzereien versehen sind. Sie sind nach wie vor eher roh behauen und setzen zeigen Einflüsse afrikanischer und polynesischer Kunst. Dazu gehören auch die beiden monumentalen Figuren "Adam" und "Eva" von 1921 (Kat. 39a und b) mit ihrer starr-frontalen Haltung und den geometrisch reduzierten Körperformen, die der Künstler ursprünglich als Torfiguren für sein Davoser Haus "In den Lärchen" konzipierte.

Mit der ausführlichen Darstellung der Davoser Zeit, die von der Forschung oft vernachlässigt worden ist, setzt die Ausstellung einen wichtigen Akzent. Auch Kirchners in Davos entstandenes Spätwerk stellt sie in einem eigenen Abschnitt vor: Von 1931 bis 1936 schuf der Künstler eine Reihe bildhauerischer Arbeiten, die sich stilistisch deutlich von den früheren Werken unterscheidet. In ihrer Abstraktion korrespondieren sie stärker als die bisherigen Skulpturen mit der Entwicklung in Kirchners malerischem Schaffen, in dem zur selben Zeit eine ähnliche Tendenz hin zur formalen Abstraktion, zu beruhigt-ausbalancierten Kompositionen und zu gerundeten Formen zu beobachten ist -- so beispielsweise bei der holzsichtigen "Liegenden" von 1932 (Kat. 56). Die ausgestellten Skulpturen dokumentieren eindringlich die hohe Qualität auch dieser Phase von Kirchners Schaffen.

Abgerundet wird die Ausstellung durch Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafiken, die die Bezüge zwischen den Skulpturen Kirchners und seinem übrigen Werk anschaulich machen. So verwendete der Künstler seine plastischen Werke als Bildthemen für Gemälde und Aquarelle. Die kleinen Schnitzarbeiten fungierten als Belebung der Atelierszenen oder auch als Vorlagen für Stillleben. Größere Skulpturen wurden dagegen zu regelrechten lebenden Modellen. Häufig behandelte der Künstler auch dieselben Motive in verschiedenen Gattungen. Kirchners gattungsübergreifenden Gestaltungswillen veranschaulichen eindrücklich die Reliefs zweier Ziegen und einer Kuh: Er ritzte sie in die Außenseiten seiner Kaffeemühle ein und zog sie dann als Holzschnitte ab (Kat. 48, 95 und 96). Zusätzlich dokumentieren viele Fotos, die der Künstler selbst machte, die Aufstellung der Skulpturen und ihren Einbezug in sein alltägliches Leben. Die Ausstellung überzeugt in diesem Bereich durch die sorgfältig aufeinander abgestimmte Aufstellung und Hängung der Exponate, die die Verflechtung von Kirchners bildhauerischem Schaffen mit seinem übrigen Werk besonders einsichtig macht.

Zu Beginn der Ausstellung gibt es eine schriftliche Einführung; die weiteren Beschriftungen nennen dann die Titel, Entstehungsjahre und Holzsorten der ausgestellten Werke. Ausführlichere Informationen bietet der Katalog mit Texten von Karin von Maur und Wolfgang Henze, der die bildhauerische Entwicklung Kirchners detailliert beschreibt und auf alle ausgestellten Werke eingeht. [7] Er bietet eine übersichtliche und gut lesbare Einführung in das Thema und stellt eine sinnvolle Ergänzung der Ausstellung dar -- auch als Alternative zu der umfangreichen Monographie Wolfgang Henzes, die wie der Katalog im Museumsshop zu erwerben ist. Die reiche Bebilderung zeigt neben allen ausgestellten Werken auch viele der verschollenen Werke Kirchners in Fotografien des Künstlers.

Anmerkungen:

[1] L. de Marsalle, Über die plastischen Arbeiten von E. L. Kirchner, in: Der Cicerone 17/1925, S. 690 - 701.

[2] Wichtige bereits erschienene Texte sind: Erika Billeter, Ernst Ludwig Kirchner, Kunst als Lebensentwurf, in: Ernst Ludwig Kirchner 1880 - 1938, Katalog der Ausstellung in der Nationalgalerie Berlin u.a., Ausstellung und Katalog von Lucius Grisebach und Annette Meyer zu Eissen, München 1979, S. 16 - 25; Wolfgang Henze, Ernst Ludwig Kirchner, in: Skulptur des Expressionismus, Katalog der Ausstellung im Los Angeles County Museum of Art u.a., hg. von Stephanie Barron, München 1984, S. 107 - 122.

[3] Wolfgang Henze, Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners, Monographie mit Werkverzeichnis, Verlag Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach und Bern 2002.

[4] Die Ausstellung wurde in leicht veränderter Form bereits im Kirchner-Museum in Davos gezeigt.

[5] Zur leichteren Lesbarkeit wird jeweils nur ein einziger Titel für die Werke Kirchners genannt, auch wenn viele von ihnen unter mehreren Bezeichnungen bekannt sind. Im Ausstellungskatalog und im Werkverzeichnis der Skulpturen sind sämtliche verwendeten Titel angegeben.

[6] Karin von Maur, Ernst Ludwig Kirchner -- Sein Schaffen als Bildhauer, S. 13, in: Karin von Maur, Ernst Ludwig Kirchner, Der Maler als Bildhauer, Katalog der Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart, mit Beiträgen von Wolfgang Henze und Guido Messling, Ostfildern-Ruit 2003, S. 13 - 99.

[6] Der Katalog ist im Hatje Cantz Verlag erschienen und wird im Museumsshop für 16,90 Euro angeboten (ISBN 3-7757-1309-3).

Karin von Maur: Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauer. Skulpturen, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2003
ISBN-10: 3-7757-1309-3, 120 S., EUR 19.80, CHF 34.00

Empfohlene Zitation:
Gudula Mayr: [Rezension zu:] Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauer (Staatsgalerie Stuttgart, 12.04.–27.07.2003). In: ArtHist.net, 29.05.2003. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/498>.

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