REV-EX 25.05.2025

Leonardo – Dürer: Meisterzeichnungen der Renaissance auf farbigem Grund

Wien, 07.03.–09.06.2025
www.albertina.at/ausstellungen/leonardo-duerer/

Rezensiert von Paolo Sanvito, Wien
Redaktion: Anke Blümm
Click to enlarge

Die Ausstellung widmet sich einem hochrelevanten Thema der europäischen Kunsttechnik an der Schwelle zur Neuzeit: die Zeichnung auf farbigem Papier vornehmlich südlich und unmittelbar nördlich der Alpen. Eine unschlagbare Idee war, den Bestand von zwei originalen Leonardo-Zeichnungen aus der eigenen Sammlung mit parallelen erstrangigen Meisterwerken aus internationalen Museen zu vergleichen, um die Einmaligkeit des Wiener Bestandes aufzuzeigen und somit angemessen wertzuschätzen. Bekannt sind insgesamt 26 Zeichnungen von Leonardo, die Albertina besitzt nur zwei und nur eine davon auf farbigem Grund. Aus Windsor Castle kamen elf Leihgaben von Leonardo; die anderen kommen aus verschiedenen weiteren Museen aus Deutschland und Frankreich.

Schon seit der Spätgotik, z. B. praktiziert durch den Florentiner Lorenzo Monaco, existierte diese komplexe Zeichentechnik. Das verwundert nicht, denn der rasante Fortschritt der künstlerischen Techniken lässt sich bereits im 14. Jahrhundert erkennen. Die Albertina-Kuratoren der gegenwärtigen Ausstellung haben ihr Möglichstes getan, um diese Entwicklung diachronisch durch verschiedene Epochen und Stilrichtungen der Kunst der Renaissance für ein breites Publikum wie auch für den Expertenkreis schmackhaft zu machen. Lediglich große Grafiksammlungen neben der Albertina wie die florentinischen, Pariser oder die Londoner Sammlungen können mit ihren Beständen ein so breites Spektrum dieser Technik in ihrer Entwicklung über verschiedene Generationen illustrieren. Man ist in Wien mit ausgesuchten Leihgaben jedoch weiter geschritten.

Die Schau demonstriert en detail, wie im 15. und im 16. Jahrhundert auf einem präparierten Papier mit einem Metallstift aus Gold, Silber, Kupfer oder Messing und der Feder, Kreide, Kohle oder dem Rötelstift eine Abtönung des jeweiligen farbigen Mitteltons erzielt wurde. Dieser ausgesuchter Mittelton wurde mit Akribie mit den Stiften erzielt und man erreichte einerseits eine Aufhöhung der Darstellung durch Glanzlichter und andererseits Abtönungen mit den oben erwähnten Zeichenmaterialien, wodurch ein großer Reichtum an Tiefen sowie an dreidimensionalen und atmosphärischen Effekten entstand.

Die Vorzüge der Technik waren unerschöpflich, zumindest von der Warte einer so stark auf illusionistische Wiedergabe der lebendigen Welt fokussierten Ästhetik, wie es die Italienische der frühen Neuzeit war. Michelangelo, der an sich äußerst selten farbig präpariertes Papier verwendet hat, fasste dies in dem allgemeinen Kunstprinzip zusammen: „fare una cosa morta parer viva“. In der Tat wurden solche zeichnerischen Ergebnisse nie wieder auf vergleichbarer Weise erreicht. Technischer Fortschritt machte somit die reine Kunsttätigkeit großer Meister, die nicht umsonst zugleich zu einflussreichen Ingenieuren und Stadtplanern mehrerer neuzeitlicher Staaten wurden, zu einem Faktor der Wissenschaften und vielleicht gar zu ihrem Instrument. Wenn Leonardo freie Hand gehabt hätte, hätte er bekanntlich seine gesamte Urbanistik und Hydraulik dem Stadtgebiet von Mailand übergestülpt. Es blieb aber bei solchen Vorhaben wie dem Entwurf des Reiter-Monuments für Francesco Sforza, von dem Leonardos herausragende Zeichnungen aus Windsor Castle in der Ausstellung zeugen. Zwar mussten allein für die Gewandstudien oft Gliederpuppen aus Holz herangezogen werden, wie sie für manche Zeichnungen der Ausstellung zu erahnen sind.

Doch warum ein solches ausgeklügeltes Instrument der Naturbeobachtung und schließlich die Sondergattung der Anatomiestudie (und auch des Porträts) eine wichtige Rolle bei der historischen Entwicklung von Reproduktionstechniken spielte, wird in dieser materialreichen Ausstellung natürlich nicht auf dem ersten Blick ersichtlich: zuvorderst beschäftigt sich das Kuratoren-Team, allen voran der Experte der italienischen Sammlung Achim Gnann und der Dürer-Experte Christoph Metzger, in seinen Kommentartexten erwartungsgemäß mit der Beschreibung der schieren Funktionsweise dieser Zeichenpraxis.

Beabsichtigte Intimität des Betrachters mit den dargestellten Menschenerscheinungen

Wenn aber bereits im zweiten und im dritten Kapitel des begleitenden Ausstellungskatalogs aus der Feder Achim Gnanns (S. 23-39) die Rede auf Leonardos Werke kommt, bei denen die Aufmerksamkeit des Künstlers für die Klärung und Herausarbeitung einer Figur herausgestellt wird, leuchtet es ein: sämtliche Techniken waren unentbehrlich für die Geburt einer beseelten, psychologisierenden Menschendarstellung, wie sie die italienische Künstlergeneration um 1500 hervorbrachte und wie sie noch niemals davor existiert hatte, eine Darstellung, die die imaginative Welt des Betrachters unmittelbar einschaltet. Im visuellen Gedächtnis ist der Kopf bekanntlich der wichtigste Teil einer menschlichen Erscheinung, manchmal begleitet von speziellen Haltungen des Halses. Hinzu dürften die Hände kommen, die in direkter Nachbarschaft des Gesichtes erscheinen oder absichtlich versetzt sind und die starke Ausdruckskraft besitzen. Darin spiegelt sich die in dieser Zeit in Italien wiederaufgelebte, antike chiromantische Kunst wider, aber diese Anwendung erinnert auch an altindische Mudra-Handgesten und sogar an künstlerische Darstellungen der Handbewegung bis in die heutige Zeit. Diesbezügliche Beiträge in der Kunst aller Zeiten dürften es gut hervorheben.[1] Nicht einmal die raffinierte spätgotische Portraitkunst aus Böhmen, dem Mittelpunkt des Heiligen Römischen Reiches, hatte etwas Ähnliches hervorgebracht.

Bekanntlich steht in der Geschichte der Kunst dem Quartett Raffael, Leonardo, Bellini, und Giorgione/Tizian die Palme der Entdeckung einer unnachahmlichen Portraitkunst zu, deren Ursprünge auf die bahnbrechenden Studien Giovanni Romanos in Turin zurückgeht.[2] Das Thema wird wohl in der Sektion „Leonardo und das neue Körperideal der Hochrenaissance“ angedeutet. Dieser Faktor - als einziger Faktor - rechtfertigte in Achim Gnanns Eröffnungsrede den Blick auf die Sonderstellung Leonardos zeichnerischer Schaffenszeit im Florenz der 1470er-Jahre, also sehr früh im europäischen Vergleich, die „keinem Schema folgte“ – und sich „nie des künstlerischen Experimentierens versagte“[3].

Um diese mikroskopischen grafischen Feinheiten zu genießen, meiner Ansicht nach überhaupt zu erkennen, müsste man sich fast auf eine penible, intime Betrachtung des Objektes einlassen, fast mit Hilfe einer Lupe, auf jeden Fall in nächster Nähe zu den ausgestellten Werken. Auf diese besondere Erfahrung der ästhetischen Wahrnehmung verweist auch ein Untertitel einer Sektion: „Augsburg hautnah“, in der es um Zeichnungen der chronologisch etwas zeitversetzte Augsburger Schule geht (s.u.).

Wie man es vorzüglich durch die Ausstellungstexte ausgelegt bekommt, war Leonardo nicht nur für seine Generation vorbildhaft in der Verschmelzung von Hell und Dunkel, Licht- und Schatteneffekte, die durch eine gekonnte Anwendung z. B. von Bleiweiß zu einer unvergleichlich strahlenden, leuchtenden Wirkung der Gesichter führte. Er war nämlich auch der große, einmalige Experimentator der besonders eindrucksvollen Wirkungen von glühenden Rottönen. Dies wird speziell der Inkarnats-Darstellung deutlich, mit der nur scheinbar absurden Überlagerung vom Rot des Rötels und der samtigen roten Grundierung der Papiervorlage (siehe z. B. in den ausgestellten Studien Stehender männlicher Akt, Oberkörper des Christuskindes aus Windsor Castle und Studien eines Kindes und eines männlichen Profils aus der Galleria dell’Accademia in Venedig). Pendant dazu ist die Wiener Apostelstudie, konzipiert für das Mailänder Letzte Abendmahl (Albertina Inv.-Nr. 17614), und vor dieser Phase eine der letzten auf blauem Papier.

Ähnliche Beobachtungen lassen sich in den chronologisch späteren angelegten Sektionen machen, die ein breites Spektrum von in dieser Technik geschulten Künstlern präsentieren. Einige Schlüsselmomente der Fortbildung Dürers während seiner Venedig-Aufenthalte, speziell durch seinen Kontakt zu Bellini, einem der Protagonisten der dortigen Hochrenaissance- Kunst, werden in der Ausstellung ebenso vorbildhaft beleuchtet. Hervorzuheben ist hier der Beitrag des Kurators für die nordalpine Kunst Christof Metzger. Es wird ganz unmittelbar deutlich, wie der Nürnberger Maler ausgerechnet dort in erster Linie auf dem Gebiet der Zeichentechnik seine Fähigkeiten verfeinerte. Das Verhältnis des Corpus der Dürerzeichnungen zum großen Ahnen der Renaissancemaler in der Lagunenstadt wird durch die weitere Ausstellungspräsentation überzeugend veranschaulicht.

Einen Höhepunkt im Hinblick auf die Verfeinerung des chiaroscuro auf Farbpapier bilden Dürers Studien für den Heller-Altar, welche sich vor diesem Hintergrund als ein kostbarstes Dokument seiner künstlerischen Praxis und einen Ansatzpunkt für laufende Forschungen erweisen. Tatsächlich entstand die Ausstellung nicht zuletzt im Austausch mit einer Forschungsgruppe aus Stuttgart,[4] die sich mit neuen, anregenden Ansätzen der Geschichte der Zeichnung beschäftigt.

Weitere kurze Abschnitte stechen durch ihre thematische Eigentümlichkeit heraus: Neben Hans Baldung Grien (vertreten mit den Hexen) darf Albrecht Altdorfer hier ganz zu Recht als einem Virtuoso des Hell-Dunkels schlechthin gehuldigt werden. Eine weitere Besonderheit ist das druckgrafische Porträt, dem sich in Augsburg Hans Burgkmair d. Ä. ausführlich gewidmet hat, bekanntlich unter Mithilfe des genialen niederländischen Formschneiders (oder Holzschneiders) Jost de Negker: Die Herausarbeitung der bisher unterbelichteten Verbindung der früheren, hochkarätigen zeichnerische Fertigkeit auf Farbpapier in der Nachfolgegeneration Dürers mit den späteren und nachhaltigeren Bildmedien ist auch ein innovativer Beitrag, auf den die Ausstellungsmacher stolz sein können.

Es ist ein Verdienst des Teams der Albertina, besagte Aufgabe der Erläuterung dieser einmalig subtilen und dann im 17. Jahrhundert nicht mehr praktizierten Zeichenmethode weiten Kreisen und sogar dem Massenpublikum nahe zu bringen – dies belegen in Wien allein schon die Besucherzahlen. Bis 9. Juni ist die Ausstellung noch in der Albertina zu sehen.

Anmerkungen:
[1] Vgl. den begleitenden Ausstellungskatalog, S. 24. Leonardos Hände lassen auch in der Gegenwartskunst oft „winken“: wie in den berauschenden Installationen Gary Hills, etwa HanD HearD, die eine Art moderne monografische Studie zum Problem der Handdarstellung anbieten.
[2] Romano, Giovanni: Verso la maniera moderna: da Mantegna a Raffaello: in Storia dell'arte italiana, VI: Dal cinquecento all'Ottocento, Turin: Einaudi, 1981, S. 3-85.
[3] So Achim Gnann in der Eröffnungsrede zur Ausstellung.
[4] Das internationale Wissenschaftlerteam um Frau Professor Dr. Daniela Bohde an der Universität Stuttgart.

Gleis, Ralph; Gnann, Achim; Metzger, Christof (Hrsg.): Leonardo - Dürer. Meisterzeichnungen der Renaissance auf farbigem Grund, München: Hirmer Verlag 2025
ISBN-13: 978-3-7774-4467-3, 399 S., EUR 49.90, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Paolo Sanvito: [Rezension zu:] Leonardo – Dürer: Meisterzeichnungen der Renaissance auf farbigem Grund (Wien, 07.03.–09.06.2025). In: ArtHist.net, 25.05.2025. Letzter Zugriff 27.05.2025. <https://arthist.net/reviews/49349>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^