REV-EX 12.04.2004

Die subversive Poetik des Materials. Eine Retrospektive zu Antoni Tàpies

MACBA, Barcelona

Rezensiert von Susana Angela Sáez de Guinoa Waltinger
Redaktion: Godehard Janzing

Nicht, dass es nicht bereits großartige Ausstellungen zum katalanischen Künstler Antoni Tàpies gegeben hätte. Man gedenke allein der Retrospektive im Haus der Kunst in München vor 4 Jahren. Doch die Hommage, die das Museum für zeitgenössische Kunst von Barcelona MACBA dem Virtuosen der Materie widmet, ist etwas anderes. Schon allein der Dimensionen wegen. Auf über 2500 Quadratmetern hat der künstlerische Leiter des Museums und Tàpies-Spezialist Manuel J. Borja-Villel mehr als hundertfünfzig Meisterwerke des mittlerweile 80jährigen Künstlers versammelt, darunter kostbare Raritäten wie "l'esperit catàla" von 1971, die bisher kaum zu sehen waren. Zudem bietet die Retrospektive dem Besucher erstmalig die Möglichkeit, das umfangreiche Schaffen von Tàpies in seiner gesamten Vielfalt in seiner Heimatstadt Barcelona zu bewundern.

Die Retrospektive geht chronologisch vor. Man arbeitet sich von den Anfängen des Künstlers in den 1940er Jahren im ersten Stock bis in sein aktuelles Spätwerk im zweiten Stock hoch. Man gleitet an großformatigen Leinwänden vorbei, die von Ockertönen beherrscht werden, lässt den Blick über mit Zement, Schnüren und Erde besetzten Bildträger schweifen, wandelt von Steinbassins zu Holztischen, auf denen getrocknetes Stroh lagert. Und fragt sich, woher diese Vorliebe für all jene Farben kommt, die an Sand, Schlamm und Gestein erinnern, an jene genuine Formen der Materie, wie sie die Künstler der Arte Povera einsetzten, um der sterilen Sprache des Minimalismus und der malerischen Selbstreflexion des abstrakten Expressionismus' europäisch zu antworten.

Tàpies' Motivation ist nicht unähnlich. Die Absenz der Primärfarben in seiner Malerei begründet er mit der von ihm empfundenen Übersättigung mit Farben durch Umgebung und Werbung. Und die Abneigung gegenüber der reinen Formensprache des Abstrakten Expressionismus mit seiner Weigerung, sich auf die formale Analyse der ästhetischen Möglichkeiten der Materie zu beschränken. Nein, Tàpies geht über das rein Informelle einen Schritt hinaus. Seine Werke, die leider allzu oft dem Informellen zugerechnet werden, sind mehr als nur der Verzicht auf beschreibende Bildmotive und kompositorische Regeln.

Fragt man: Was ist Tàpies' Beitrag zur Moderne?, dann müsste man antworten: Sein besonderer Umgang mit Textur und Materie. Nie hat Tàpies aufgehört, nach der Beschaffenheit, nach dem innersten Kern der Materie zu fragen. Seine Leinwände hat er mit Sandkörnern beklebt, mit dem Spachtel zerkratzt, mit Farbe zugekleistert. Er hat eine Violine an ein Garagentor geheftet, Keramikteller in Vitrinen gestapelt und ein Wasserglas in ein Steinbecken gestellt. Und kommt dabei immer wieder zum selben Ergebnis: Dass es unmöglich ist, die Darstellung von ihrem Trägermaterial abzukoppeln. Kein Inhalt ohne Materie. Tàpies geht zwar in einem ersten Schritt von der formalen Analyse der gestalterischen Mittel aus, doch nur, um das Materielle in einem zweiten Schritt zu überwinden. Um vom objektiv Greifbaren auf eine subjektiv-geistige Ebene überzuleiten. Und die magischen Eigenschaften auszuloten, die "armen" Materialien wie Holz, Gestein, Glas und Filz innewohnen.

Der Schriftsteller Pere Gimferrer beobachtete für die Kultur- und Kunstgeschichte Kataloniens des 20. Jahrhunderts zwei Tendenzen. Die eine folge dem Pfad der Transparenz und der Rationalität. Nehme man indes den anderen Pfad, so stöße man auf die Spuren von Gaudí, Miró und, wenn man weiter zurückginge, auf den mittelalterlichen Universalgelehrten und spirituellen Meister von Tàpies, Raimundus Llull. Und befände sich auf direktem Wege zur Mystik und Esoterik. Und zu den Materialbildern von Tàpies. Tàpies' Kunst steht für Tiefe. Für Transzendenz. Seine Kunst ist der Versuch, sich dem Geheimnis der Dinge, sich dem Unsichtbaren anzunähern. L'art pour l'art gilt für Tàpies nicht. Seine Auffassung von Kunst ist immer eine funktionalistische gewesen. Kunst habe politisch, sozial, ja ethisch zu sein.

Die Ausstellung in MACBA führt dieses vor Augen: Je stärker sich die Iberische Halbinsel im Netz der franquistischen Diktatur verfängt, desto radikaler, desto aggressiver hantiert der Künstler mit der Leinwand. Eine andere Form der Verweigerung. Der Auflehnung. Des Widerstandes. Der Besucher steht vor den großformatigen, hinter dunklen Grau- und Brauntönen zugekleisterten Leinwänden, als befände er sich vor einer Mauer. Und spürt: Hier kommt er nicht weiter. Tàpies' Materialbilder bezeugen politisches und gesellschaftliches Engagement. Doch stellen sie den Protest nicht bildlich dar. Die mit anderen Werkzeugen als mit dem Pinsel bearbeiteten Leinwände sind Protestaktionen, die in der subversiven Poetik der Materie ihre Sprache entwickeln.

Empfohlene Zitation:
Susana Angela Sáez de Guinoa Waltinger: [Rezension zu:] Die subversive Poetik des Materials. Eine Retrospektive zu Antoni Tàpies (MACBA, Barcelona). In: ArtHist.net, 12.04.2004. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/488>.

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