REV-CONF 27.03.2004

Creating Identities

Museum für Sepulkralkultur, Kassel, 30.10.–02.11.2003

Bericht von Barbara Rothbrust
Sylvie Tritz

Creating Identities – Zur gruppenbildenden Funktion von Grab- und Denkmalen in Europa

Es ist mittlerweile ein allgemein akzeptierter Gedanke, daß ein Großteil der sozialen Realität nicht vorgefunden, sondern performativ erschaffen wird. Eine besonders nachhaltige Wirkung in diesem Prozeß erzielen visuelle, öffentliche Zeichen, die Tradition, Legitimität, Identität behaupten und durch die Demonstration einer solchen Behauptung allererst begründen. Vor einigen Monaten hatte sich eine internationale und interdisziplinäre Fachtagung im Museum für Sepulkralkultur in Kassel zum Ziel gesetzt, diesen Vorgang besonders im Hinblick auf die Entstehung von Gruppen zu untersuchen. Vom 30. Oktober bis zum 2. November bildeten - der Jahreszeit gemäß - überwiegend Grabmäler das Subjekt der Vorträge. Etwa dreißig Beiträge, gegliedert in sieben Sektionen, boten eine fachlich und zeitlich ungewöhnlich breit gestreute Palette an Beispielen für das diskutierte Phänomen (das Programm der Tagung: www.rodrun.de/creating_identities), die ­ das steht zu hoffen ­ in dieser Breite auch den Weg in einen Tagungsband finden sollen. Es hat sich gezeigt, daß alle hier untersuchten Gruppen das Medium des Grab- bzw. Denkmals als Identifikationsfolie nutzten, die der eigenen Stabilisierung und Abgrenzung von anderen Gruppen sowie der Repräsentation nach außen diente. Mit seiner einzigartigen Sammlung bildete das Museum für Sepulkralkultur einen anregenden Rahmen für die Veranstaltung, die von der Gerda Henkel-Stiftung Düsseldorf und von der Stadt Kassel unterstützt wurde.

Bereits am Abend des 30. Oktober machte der Vortrag der Kunsthistorikerin Marion Jäckel (Kassel) die Tagungsteilnehmer mit dem Veranstaltungsort vertraut. Vor dem Grabmal des Landgrafen Philipps von Hessen und der Christina von Sachsen in der Apsis von St. Martin wurde deutlich, wie der protestantische Herrscher das Repräsentationspotential eines kirchlichen Monuments zur Zeit des konfessionellen Umbruchs auszuschöpfen verstand. In bewußter Distanzierung zur Verehrung der heiligen Elisabeth von Thüringen in Marburg wählte Philipp mit St. Martin in Kassel eine neue Grabkirche und präsentierte sich selbst als deren Patron und Fundator. In der Tat wurde das Grabmal zum "Prototyp" und Vorbild für die nachfolgenden Landgrafen und ist daher auch als Staatsmonument zu verstehen.

Die in den nächsten Tagen folgenden Beiträge unterlagen einem strengen Zeitlimit von 20 Minuten, so daß mancher Gedanke nur angedeutet werden konnte; daß diese Auflage - fast möchte man sagen, naturgemäß - nicht von allen ReferentInnen eingehalten wurde, ging vor allem zu Lasten einer Schlußdiskussion, so daß manche im Raum schwebende Anregung nicht mehr auf den Boden gebracht werden konnte. Jedoch wurde die Fülle der Beiträge nicht ohne jede Gliederung in den Raum gestellt: Am Ende einer Sektion bestand jeweils Gelegenheit zur Diskussion mit den ReferentInnen; keynote- lectures und Abendvorträge suchten die Verortung der vielfältigen Diskurse anzudeuten und rundeten gleichzeitig das Programm ab.

Nach kurzen Begrüßungen durch Reiner Sörries, Direktor des Museums, und durch Stefanie Knöll, die die Tagung konzipiert und organisiert hatte, beschäftigte sich die erste, den Freitagvormittag umspannende Sektion mit "Gesellschaftlichen Gruppen". Sie wurde durch die Kunsthistorikerin Ulrike Heinrichs-Schreiber (Bochum) moderiert. Der materialreiche Vortrag der Archäologin Caroline Huguenot (Lausanne) eröffnete die Reihe der Vorträge. Huguenot stellte die Funktion makedonischer Kammergräber aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. für das Selbstverständnis der damaligen Herrschaftsträger vor. Deren aufwendige, tonnengewölbte Grabbauten boten ein kanonisches Muster, das auch bei Bestattungen außerhalb der makedonischen Grenzen verwendet wurde. Gerade im eroberten Feindesland sollte offensichtlich ein wiedererkennbares, identitätsstiftendes Zeichen gesetzt werden. Wichtiger als die Form war im folgenden anschaulichen Vortrag des Archäologen Marshall Walker (Oxford) die Ikonographie der Grabstätte: Walker plädierte für eine Neuinterpretation des Figurenprogramms christlicher Sarkophage, dem bislang nur der Bezug auf eine neue - christliche - Gruppenidentität zugestanden worden war; ebenso ließe sich daraus jedoch eine Referenz auf die jeweils bestatteten Personen ablesen, ähnlich wie Michael Koortbojian dies für pagane Sarkophage nachweisen konnte. Im gleichen Zeitraum war auch das Thema der Archäologin Annika Backe (Freiburg i. Br.) angesiedelt, die schlüssig die Funktion von "Kinderdarstellungen in der stadtrömischen Grabkunst der Freigelassenen in iulisch-claudischen Zeit" nachwies: Vor allem durch die Wiedergabe betont modischer und kostspieliger Kleidung dienten die Kinderbildnisse zunächst der Statusdemonstration und damit - festschreibung der aufgestiegenen gesellschaftlichen Schicht. Zugleich artikulieren diese Grabmäler die Hoffnung der Freigelassenen auf das Andauern des Wohlstands für die nachfolgende Generation. Umfaßte die "Gruppe" bei den vorigen Beiträgen vor allem die Verstorbenen, so zeigten die folgenden kunsthistorischen Referate, wie Gräber auch für die Hinterbliebenen Identität stiften können, etwa im Fall Michelangelo Buonarrottis. Tilo Grabach (Saarbrücken) versuchte zu zeigen, wie dessen an höfische Formen angelehntes Castrum Doloris zum Bezugspunkt für die ein Jahr zuvor gegründete Accademia del Disegno in Florenz wurde. Dagegen machte Britta Kusch-Arnhold (Münster) die Stilisierung Michelangelos zum Vater der Accademia an seinem Grabmal deutlich, indem sie die an der Errichtung des Monuments beteiligten Personengruppen in ihrer Beziehung zueinander beleuchtete und zeigte, wie der Gestaltungswille der Familie sich hier gegenüber den Vorschlägen der Accademia durchsetzen konnte. Kerstin Gerning (Düsseldorf) fokussierte in der Folge "Die Sepulkralgemeinschaft der Dichter und Denker", wobei sie die Entwicklung der häufig um das Porträt dieser Verstorbenen kreisenden Grabmäler vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts darlegte. Nicht nur im Selbstverständnis der Denkergemeinschaft, auch in den Augen ihrer Förderer und Bewunderer verdienten die individuellen Züge der verehrten Verstorbenen größte Beachtung, was zu Grabmälern in Form von Büsten und Reliefmedaillons führte - wobei allerdings die Frage offen bleiben muß, inwiefern sich diese gerade zu jener Zeit häufig auftretenden Grabmalformen tatsächlich als "Gruppenspezifikum" festmachen lassen.

Zwischen den Sektionen dieses Tages stand die klärende Keynote lecture der Kunsthistorikerin Andrea von Hülsen-Esch (Düsseldorf), die einen Überblick über verschiedene Formen der Gruppe im Mittelalter gab und aufzeigte, durch welche formalen Mittel jeweils die Repräsentation einer Gruppe erfolgte - Berufsstandeszeichen, Kleidung, Haltung, Raum(-bezüge), Rahmen und Inschriften, aber auch eine berufsspezifische, charakterisierende Mimik wie etwa bei Gelehrten spielen in den Denkmälern eine zentrale Rolle. Im Anschluß an diese konzise Darstellung präsentierte Mauro Felicori (Bologna) die "Association of Significant Cemeteries in Europe", eine Gesellschaft, die eine Vernetzung der Friedhofsverwaltungen herstellen und so die Erforschung der europäischen Friedhöfe fördern möchte (www.significantcemeteries.net).

Die Nachmittagssektion über "Kleriker und konfessionelle Gruppen" wurde von KunsthistorikerInnen bestritten, die ihre Objekte vor allem unter politik- und religionsgeschichtlichen Fragestellungen analysierten; die Moderation übernahm die Kunsthistorikerin Tanja Michalsky (Berlin). Der erste Beitrag von Philip Zitzlsperger und Arne Karsten (Berlin) präsentierte unter dem Titel "Gesellschaftliche Gruppen und ihre sepulkralen Schnittmengen Beziehungen zwischen Rom, Venedig und Mailand in der Frühneuzeit" eine Reihe römischer Renaissancegrabmäler in S. Maria del Popolo unter besonderer Berücksichtigung ihres politischen Hintergrundes: Papst Julius II. della Rovere hatte unter anderem mit dem Auftrag für das Grabmal Ascanio Maria Sforzas - eigentlich ein Repräsentant des gegnerischen Lagers - ein Zeichen für die damals neu abgesteckte Bündnispolitik mit Mailand und Venedig gesetzt. Die Grabmäler mit ihrer venezianisierenden Triumphbogenarchitektur dienten auf diesem Hintergrund der Rombindung der Vertragspartner. Doch nicht nur einzelne Grabmäler, auch ganze Grabmalgruppen können ein politisches Zeichen setzen und soziale Konkurrenz ausdrücken. Wolfgang Schmid und Stefan Heinz (Trier) machten diese Mechanismen anhand der monumentalen "Visualisierungsstrategien von Erzbischöfen und Domkanonikern im Mainzer Dom" deutlich: Die an den Pfeilern des Mittelschiffs errichtete Grabmalreihe der Oberhirten bildete eine einzigartige, der Amtsmemoria verpflichtete Ahnengalerie, die über dreieinhalb Jahrhunderte lang fortgeführt wurde. Im Gegensatz hierzu ließen die Mitglieder des Domkapitels ab dem 17. Jahrhundert ihre Grabmäler zwar an liturgisch weniger prominenten Orten, dafür aber in freieren und zum Teil aufwendigeren Formen errichten. Ein Glied in der Grabmalgalerie der Mainzer Erzbischöfe nahm Kerstin Merkel (Kassel) in den Blick, die unter dem anschaulichen Titel "Kardinal Albrecht von Brandenburg - Ein Individualist kehrt in die Gruppe zurück" über dessen Memorialplanung berichtete. Hatte Albrecht seit Beginn seiner Amtszeit eine aufwendige Grabmalgestaltung und Seelgerätbeschaffung in Magdeburg und Halle betrieben, so griff er kurz vor seinem Tod, in seiner Frömmigkeitsauffassung beeinflußt von seinem geistlichen Berater Petrus Faber SJ, auf die traditionelle Mainzer Lösung zurück. Gerade das geistliche Selbstverständnis der Auftraggeber bildete für die von Katrin Bender (Marburg) betrachteten Epitaphien in der Uracher Kirche St. Amandus das konstituierende Element: In der einstmals bedeutenden Verwaltungsstadt Urach ging der Wechsel der konfessionellen Identität mit der Bildung einer neuen Verwaltungselite einher, was sich deutlich sichtbar in Ikonographie und Anspruch der Grabmäler niederschlug. Aufgrund ihrer prominenten Position sollte nicht nur dem religiösen und sozialen Selbstverständnis Ausdruck verliehen, genau diese Änderungen sollten durch die Grabmäler auch legitimiert werden.

Dieser kunst- und religionsgeschichtlich zentrierte Tagungsabschnitt wurde durch den Abendvortrag des Historikers Otto Gerhard Oexle (Göttingen) abgeschlossen, der im Hessischen Landesmuseum über verschiedene Memorialvorstellungen jenseits der Schwelle zur Reformation referierte. Oexle beleuchtete anhand prominenter Bildbeispiele von Holbein und Cranach, aber auch an weitgehend unbekanntem Material anschaulich die Kontinuität des Gebetsgedenkens an die Toten. Dabei wurde deutlich, daß der reformatorische Charakter der Reformation keinesfalls die Abschaffung, vielmehr die Dynamisierung der Memoria zur Folge hatte.

Der Samstag startete mit der Sektion "Nationale, regionale und ethnische Gruppen"; gewissenhaft moderiert wurde sie von Wolfgang Schmid (Trier), der manch extreme Überschreitung des Zeitlimits humorvoll zu kontern wußte. Zunächst referierte die klassische Archäologin Hadwiga Schörner (Jena) über "Die griechische intraurbane Bestattung" als identitätsstiftende Ausnahme von der Regel. Mit einem Grabmal in der Stadt wurden ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. besonders herausragende Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts geehrt, die sich um die städtische Gemeinschaft verdient gemacht hatten; gleichzeitig besaßen die auf diese Weise entstehenden Kulte vor allem für die Bewohner neugegründeter Städte identitätsstiftenden Charakter. Zeitlich weiter voraus schritt der zweite Vortrag des Tages, in dem Rafael Arnold (Paderborn) die trotz gemeinsam durchlittenen Ghettoschicksals kontrastierenden Sepulkraltraditionen sephardischer und aschkenasischer Juden in Venedig vorstellte. So standen die prächtigen Gräber der Ende des 16. Jahrhunderts aus Spanien und Portugal vertriebenen Sephardim mit ihren volkssprachlichen Inschriften und der Darstellung barocker Themen in deutlichem Gegensatz zu den Grabmalen der lokalen - aschkenasischen - Juden und ließen so die eigene Gruppenidentität deutlich hervortreten. Die beiden folgenden Beiträge beschäftigten sich mit adeligen Eliten in England. Wie der bildhafte Titel "Three into one won't go: monument selection in early modern Cornwall" bereits besagte, stellte der Kunsthistoriker Paul Cockerham (Exeter) Aspekte der Grabwahl in der frühneuzeitlichen Führungsschicht Cornwalls vor, deren Differenzierung in drei Schichten sich in dem jeweils gewählten Grabmalstypus widerspiegelte; eine Wahl, die in der Umbruchszeit des 16. Jahrhunderts zum einen die regionale, cornwalisische Identität demonstrierte und gleichzeitig der Abgrenzung der Adelsgruppen untereinander diente. Michael Niedermeiers (Berlin) sehr guter, den gesetzten zeitlichen Rahmen jedoch stark strapazierender Beitrag thematisierte "Vor- und frühgeschichtliche Grabdenkmäler im frühen englischen Landschaftsgarten" als Selbstbehauptungsstrategie der Welfendynastie. Durch das Anlegen von fiktiven Grabmälern in Landschaftsgärten - sog. Hünengräber, Steinkreise, "altdeutsche Heldengräber" und Hügelgrabanlagen - sollte auf fiktive, auf alten Chroniken basierende Deszendenzen der nieder- und angelsächsischen Genealogie verwiesen werden. Mit Hilfe dieser herrschaftsgeschichtlichen, vornationalen Selbstbehauptungsstrategie versuchte das Haus Hannover, den Anspruch auf die englische Krone zu legitimieren und zu festigen. Vom frühneuzeitlichen England wurde dann der Bogen zu Monumenten des 19. und 20. Jahrhunderts gespannt. Am Beispiel von Grabdenkmälern für Dichter und Wissenschaftler wies die Kunsthistorikerin Sonja Zitko (Ljubljana) die Durchsetzung des slowenischen Nationalbewußtseins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach. Vor dem Hintergrund der KuK-Monarchie sind diese Denkmäler für verdiente slowenische Dichter als Nationaldenkmäler zu verstehen. Im Anschluß daran stand die Aufforderung "Follow me: Popular public memorials in Croatia". Die Materialbasis des gleichfalls kunsthistorischen Vortrags Sanja Cvetnics (Zagreb) waren mehr als 100 kroatische Wegkreuze und religiöse Denkmäler, welche während bzw. nach den Weltkriegen und dem Jugoslawienkrieg errichtet worden sind. Adressaten sind neben Gott und der Jungfrau Maria auch Zeitgenossen und kommende Generationen; die transportierte Botschaft besteht neben der Gebetsaufforderung und der Dankbarkeit der Überlebenden vor allem darin, nach der Bedrohung des Krieges dem katholischen kroatischen Volk ein Symbol gemeinsamer Stärke und Identität zu schaffen. Wie zuvor schon bei Rafael Arnold ging es auch bei dem nächsten, überaus materialreichen Vortrag um jüdische Grabmäler, genauer um die Begräbnis- und Memoriagewohnheiten Vilnaer Juden in New York. Anhand dieser Gruppe zeigte Anna Lipphardt (Berlin) auf, daß sich nach Übersee emigrierte osteuropäische Juden durch "communal mourning" ihrer aschkenasischen Identität und spezifischen lokalen und kulturellen Wurzeln versicherten. Das Spektrum reicht dabei von traditionellen Begräbnisgemeinschaften über vergleichsweise assimilierte zu explizit sozialistisch-jiddischen Organisationen.

Nach Diskussion und Mittagspause faßte Nigel Llewellyn (Sussex) sehr anschaulich die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse, für wen und wie Grabmäler Identitäten stiften können, unter den Schlüsselbegriffen construction, agency, disciplines, location, continuity, identity zusammen, bevor es mit der von Claudia Denk und John Ziesemer (München) moderierten Sektion "Gruppen und Clans" weiterging. Die erste der behandelten Gruppen war die der gay community, mit der sich der Kunsthistoriker Stefan Rees (Königswinter) am Beispiel des Grabdenkmals für Oscar Wilde auseinandersetzte. Nach dem Tod des umstrittenen Dichters im Jahre 1900 erschien die Errichtung eines Monuments durch die britische Öffentlichkeit undenkbar, so daß das von seinem ersten Liebhaber Robert Ross initiierte Grabmal auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise als einzige Möglichkeit genutzt wurde, Wilde überhaupt zu ehren. Da die Auftraggeber auch das literarische Schaffen und die sexuelle Veranlagung des Schriftstellers im Grabmal versinnbildlichen ließen, hatte das Monument von Beginn an die Funktion eines Identifikations- und Denkmals der gay community, zu deren Pilgerstätte es auch wurde. In seinem Beitrag zu maritimen Memorials zeigte Norbert Fischer (Hamburg), daß der Tod seine landschaftlichen Spuren an der Nordseeküste hinterlassen hat: Neben Grabmälern, die von individuellen Schicksalen berichten, gibt es in vielen Orten gemeinschaftsstiftende kollektive Gedächtnismäler, mit denen den anonym Gebliebenen und auf See Verschollenen gedacht wird. Des weiteren kam es im 19. Jahrhundert zur Einrichtung von "Namenlosen- Friedhöfen", die von einem Mentalitätswandel im Umgang mit dem Tod an der Küste zeugen. Gleichfalls volkskundlich ausgerichtet war der folgende Beitrag zu den AIDS-Grabstätten auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. Barbara Leisner (Hamburg) unternahm den erfolgreichen Versuch, den Begriff der "corporate identity" aus der Ökonomie in die Sepulkralkultur zu übertragen. Ihre Kernthese besagt, daß von den Beteiligten unbeeinflußbare lebensbedrohende Ereignisse eine spezielle “Identität in der Krankheit³ stiften können, welche der Nachwelt durch die Wahl der Grabstätte und des Grabmals überliefert werden soll. Den Abschluß dieser Sektion bildete der sehr gute und vor allem unterhaltsame Vortrag von Christa Frateantonio (Gießen) über die “Fürstengräber³ der Roma auf dem Neuen Ostfriedhof in Amsterdam. Die - teilweise erzwungene - Seßhaftigkeit und Assimilation der Roma in die niederländische Gesellschaft bei gleichzeitiger Bewahrung ihrer originären Sozialstruktur hat zur Folge, daß sie sich durch ihre luxuriös ausgestatteten und mit Fotografien von Statussymbolen wie etwa Automobilen geschmückten Gräber als zusammengehörige Gruppe und Kultur kennzeichnen wollen. Gleichzeitig ist auch ein gruppeninternes, kompetitives Element zu beobachten, durch das die einzelnen Sippen sich gegenseitig zu überbieten versuchen. Besonders in den letzten 20 Jahren bildeten sich solche, aus mitteleuropäisch-bürgerlicher Sicht als vormodern zu bezeichnenden Bestattungsformen heraus, zu denen auch der an den Gräbern zelebrierte, häufig gegen die Friedhofsverordnung verstoßende Ahnen- und Totenkult gehört.

Die letzte Sektion des Tages widmete sich schließlich der Gruppe der "Gelehrten". Vor dem Hintergrund der Herausbildung eines neuen Berufsstandes und der Notwendigkeit der Erfindung einer gemeinsamen Identität referierte die Kunsthistorikerin Ruth Wolff (Florenz) über mittelalterliche Gelehrtengrabmäler in Oberitalien. Faßte die kunsthistorische Forschung solche Monumente bisher v.a. unter dem Aspekt der Darstellung der Doctor in cathedra- bzw. Vorlesungsszene in ikonographischer Hinsicht als "Gruppe" zusammen, wurde hier der Versuch unternommen, andere ihrer Elemente wie Standort, architektonischer Aufbau, Material und Bezüge zu anderen Grabmalsgruppen herauszuarbeiten, wobei der vergleichenden Untersuchung von Gelehrtengrabmälern in verschiedenen italienischen Städten eine grundlegende Rolle zukam. Nach ihrem Vortrag zu den Professorengrabmälern des 17. Jahrhunderts in Oxford bildete die Vorstellung der soeben veröffentlichten Dissertation der Tagungsorganisatorin Stefanie Knöll (Kassel) den feierlichen Abschluß des Tages. Bei der Dissertation handelt es sich um eine vergleichende Studie zu Professorengrabmälern in Oxford, Leiden und Tübingen, die unter dem Titel "Creating academic communities. Funeral monuments to professors at Oxford, Leiden and Tübingen 1580-1700" bei Equilibris Publishing erschienen ist.

Eine Fülle von Beiträgen stand am Sonntagvormittag unter dem Titel "Krieger, Sieger, Opfer"; moderiert wurde diese Sektion über den politischen Aspekt der identitätsstiftenden Funktion von Grab- und Denkmälern durch Sergiusz Michalski (Tübingen). Den Reigen der Vorträge eröffnete die Landeshistorikerin Ann MacSween (Edinburgh) mit einem Vortrag über schottische Schlachtendenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts und deren Bedeutung für die Gesellschaft, in der sie entstanden: Diese Erinnerungszeichen für meist Jahrhunderte zurückliegende Begebenheiten sind in ihrer Entstehung auf die politischen Interessen einzelner Initiatoren zurückzuführen, um in der Folge als nationale Erinnerungsorte, aber auch als historische Touristenattraktionen zu dienen. Daß sich mit dem Gedenken nicht nur an Kriege, sondern auch an den Tod Einzelner die nationale Identität konstruieren läßt, erwies der folgende Beitrag der Historikerin Bettina Frederking (Freiburg), die das Bündel von Denkmalen für den Duc de Berry im Frankreich der Restaurationszeit vorstellte. Diese Monumente lassen sich durch ihre unterschiedlichen Auftraggeber, Aufstellungsorte und Ikonographien als Dokumente für die unterschiedlichen Haltungen zur revolutionären Vergangenheit des Landes interpretieren. Auch in den deutschen Denkmälern für Deserteure läßt sich der Versuch politischer Vergangenheitsbewältigung erkennen, wie der Politikwissenschaftler Roland Müller (Kassel) erläuterte. Im - leider schlecht nachvollziehbaren, da vollständig ohne Bildvorlagen geführten - Vergleich mit Kriegerdenkmälern wurde deutlich, daß im Kontrast zu diesen die monumentalisierte Erinnerung an die Deserteure nicht eine nachträgliche Sinnstiftung des im Krieg erfahrenen Leidens leisten sollte, sondern allererst eine Debatte über die gesellschaftliche Stellung und den politischen Stellenwert der Deserteure in Gang brachte. Im Unterschied zu der nationalpolitischen Thematik der bisherigen Vorträge standen im Beitrag der Kunsthistorikerin Sabine Marschall (Durban) verschiedene Ethnien im Südafrika der Post- Apartheid im Mittelpunkt, deren Repräsentanten von der neuen Führung des Landes durch Denkmäler geehrt werden; Marschall machte anschaulich die ambivalente Funktion dieser Maßnahme deutlich, die zwischen identitäts- und daher friedensstiftendem Erinnern und einem die Herrschaft legitimierenden Vergessen-Machen bestimmter Elemente der Vergangenheit oszilliert. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin stand im Mittelpunkt des Vortrags der Architektin Ingeborg Rocker (Berlin), der durch die gleichzeitig schwelende "Degussa-Affäre" besondere Virulenz erhielt, die Zeitvorgabe jedoch völlig außer acht ließ. Eine theoriereiche Einleitung diente als Kontext für die Vorstellung der geplanten Funktion des Stelenfeldes, das sich nur der "Er-gehung" durch die einzelne Person erschließt. Durch das Nachvollziehen der Abwesenheit - eines Bildes, einer Schrift, einer Menschengruppe - wird weder Vergangenheit repräsentiert noch nachträglich Sinn gestiftet, wie dies bei "konventionellen" Denkmalen der Fall ist. Dieses Konzept wird durch den nachträglich geplanten "Ort der Erinnerung" konterkariert, wo die gewollte, in Begriffe gekleidete Erinnerung ihren Sitz hat und damit, so Rocker, den Prozeß des Erinnerns an die Abwesenheit der ermordeten Juden in seiner Wirksamkeit aushebelt.

Die letzte Sektion zu "Dynastien und Familien" bestand ­ durch den krankheitsbedingten Ausfall einer Referentin - aus nur einem Vortrag. Der Referent, Andreas Zajic (Wien), wurde von Reiner Sörries vorgestellt. Er referierte unter dem Untertitel "Grabdenkmal, Identität und soziale Gruppe beim österreichischen Adel im Spätmittelalter" über eine Gruppe spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Grabdenkmäler. Deren Gestaltung wurde in den Testamenten der Adeligen häufig nur mit Wendungen wie "meinen stand gezimblich" bezeichnet, wobei jedoch mit dieser kargen Forderung nach Decorum, nach Angemessenheit der Darstellung, bereits die standesspezifischen Ansprüche an ein Grabmal bezeichnet waren - Ansprüche, die durch die gleichzeitig erfolgende Umformung der Gesellschaft mit besonderem Nachdruck visualisiert wurden.

Eine Exkursion zur Kasseler Künstlernekropole im Anschluß an diesen letzten Beitrag bildete mit ihrem erneuten Ortsbezug eine - sozusagen - topologische Klammer für die Fülle der Aspekte zur Gruppenidentität, zusammengetragen aus den verschiedensten Disziplinen. In allen wurde jedoch deutlich, wie Denkmäler für bestimmte Gruppen eine Identifikationsfolie schaffen, mit Hilfe derer sie in manchen Fällen ihre eigene Identität erst erschaffen, zumindest aber stabilisieren können. Gleichzeitig versuchen sich unterschiedliche, in “sozialer Rivalität³ zueinanderstehende Gruppen so voneinander abzugrenzen und den eigenen sozialen Status hervorzuheben. Die Memoria dient somit, um mit Otto Gerhard Oexle zu sprechen, zur Identifikation und Repräsentation von Gruppen. Es handelt sich dabei nicht unbedingt um “persönliche³ Individualität, sondern vielmehr soll die soziale oder ethnische Zusammengehörigkeit versinnbildlicht werden, ein Wir-Gefühl entstehen. Oftmals existiert die Gruppe noch nicht, sondern wird erst “gemacht³: Vor einem gemeinsamen kulturellen oder geographischen Hintergrund geschieht dies zum einen durch das Festhalten an heimatlichen Traditionen in der Fremde, zum anderen durch Anlehnung an frühere Vorbilder und ­ oftmals fiktive ­ Traditionen, die zur Bildung von für Gruppenbildungsprozesse wichtigen Kontinuitäten führen.

Grabmäler und ­altäre visualisieren diese Gruppen, sie erfüllen keineswegs eine nur private Memoria-Funktion. Vielmehr handelt es sich um Monumente im öffentlichen Raum, die meist an besonders exponierten Stellen innerhalb einer Kirche oder in einer Landschaft stehen und eine identitätsstiftende Wirkung besitzen. An ihnen wird der Toten nicht nur liturgisch gedacht, sondern sie dienen vor allem dazu, die ­ auch profane ­ Erinnerung aufrechtzuerhalten. Agenten sind dabei nicht nur die Nachkommen, sondern auch der Verstorbene selbst, da dieser sein Grabmal oftmals bereits zu Lebzeiten plant und so das Bild, das die Nachwelt von ihm haben wird, bewußt steuert, die eigene Identität sozusagen kreiert.

Empfohlene Zitation:
Barbara Rothbrust, Sylvie Tritz: [Tagungsbericht zu:] Creating Identities (Museum für Sepulkralkultur, Kassel, 30.10.–02.11.2003). In: ArtHist.net, 27.03.2004. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/454>.

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