REV-CONF 08.03.2004

Visuelle Argumentationen

Berlin, 30.–31.01.2004

Bericht von Reinhard Wendler, Kunsthistorisches Institut Florenz - Max-Planck-Institut
Redaktion: Godehard Janzing

Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt

Tagung organisiert vom Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik / Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin und Ulmer Verein für Kunst- und Kulturwissenschaften e. V.

Während im vorigen Jahr die Amerikaner das Zentrum Bagdads stürmten, wurde in den Zeitungen eine Fotografie veröffentlicht, die einige auf den Sesseln von Husseins Hauptpalast lagernde amerikanische Soldaten zeigte. Einen Tag später erschien in der Süddeutschen Zeitung die verblüffende Gegenüberstellung dieses Fotos mit Anton von Werners Gemälde "Im Etappenquartier" von 1894, das ebenfalls auf dem Mobiliar lagernde Soldaten in einem verlassenen französischen Schloss darstellte. Beachtenswert ähnlich sind die gezielten Brüche mit dem repräsentativen Ambiente der beiden Paläste, im Falle Anton von Werners insbesondere mittels des knorrigen Holzes, das in dem edel verzierten Kamin verbrannt wird, im Falle des Husseinpalastes mittels ostentativen Rauchens und umherliegender Waffen. Zulässig ist die Gegenüberstellung nicht etwa deshalb, weil die amerikanische Kriegs-PR an den Deutsch-Französischen Krieg oder gar an Anton von Werners Bildsprache anknüpfen wollte, sondern weil es sich in beiden Fällen um repräsentative Bilder der Zerstörung von repräsentativen Bildern handelt.

Im 21. Jahrhundert gehören weniger prachtvolle Palastbauten als amerikanische Flugzeugträger und spektakuläre Bilder eines auf ihnen landenden Präsidenten zu den Hauptstücken globaler Repräsentation. Die dabei entstehenden Bilder wie die Flugzeugträger selbst können als vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung angesehen werden, die im 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm: der zunehmende Einfluss von Wissenschaft und Technik auf die Herrschaftsrepräsentation, die zuvor noch - längst vergangne Zeiten? - nahezu gänzlich auf dem Mystischen beruhte. Um dieses so folgenreiche wie unvermeidliche Aufeinandertreffen zu studieren, organisierten Horst Bredekamp und Pablo Schneider eine Tagung über die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt in der frühen Neuzeit.

In dreizehn Vorträgen [1] ging es um Hülle und Fülle des Raumes, um Schießpulver und Räderuhren, Herrscherporträts und tabellarische Gobelins, um die endlichen unendlichen Achsen des Versailler Schlossensembles, um diagrammatische Weltbilder, nur auf dem Papier funktionierende Maschinen, um den König als Spielfigur des Königsspiels und die Mathematik seiner Züge, um die neuen Welträume der Mikroskopie und um das "Pi", das Euler Peter I. wie einen Orden verlieh. Anhand dieser zwar sehr verschiedenen, jedoch lobenswert konzertierten Blickwinkel wurde deutlich, dass durch die naturwissenschaftliche Erforschung auch der "allerhöchsten Mysterien der Gottheit" und der "tiefsten Mysterien, die zu den Personen von Königen und Prinzen gehören" keineswegs das gesamte System der Repräsentation in Existenznot geriet. Vielmehr wurde der sich hier entfachende Widerstreit umgekehrt zu einer Quelle neuer Repräsentationsformen.

Karin Leonhard schilderte das Auseinandertreten zweier Raumkonzepte im 17. Jahrhundert und die damit verbundenen Debatten um das Vakuum und die Zentralperspektive. Sie führte beide Konzepte im Bild der 'Frau mit Waage' von Jan Vermeer zusammen, in dem die nahe des Fluchtpunkts dargestellte Waage diejenigen Qualitäten der Malerei symbolisiere, die über eine perspektivische Konstruktion hinausgehe: das Herstellen eines ausgewogenen, alle Teile des Bildes unterwerfenden Bildganzen. Daneben ist die Waage auch Symbol dessen, was in Kraft und Bewegung über den rein mathematischen, projektiv-geometrisch gedachten Raum hinaus in den physikalisch-mechanischen Raum hineinreicht.

Auch im anschließenden Referat ging es um den bedeutungsgeladenen Topos der Bewegung, jedoch in einer ganz anderen, viel konkreteren Form. Ulrich Reinisch und Christof Baier zeigten, wie die nach 1453 rasant ansteigende Anzahl von Kanonen den hohen Kirchtürmen, Rathäusern und Geschlechtertürmen den Garaus machten, indem diese von Repräsentationsmedien des gesellschaftlichen Rangs zu Orientierungsmarkierungen für Kanonenschützen wurden. Im pragmatischen Reflex kippte die repräsentative Ausdehnungsachse in die Horizontale und es entstanden flache, nicht über die Höhe der Befestigungen hinausragende Gebäude an langen gerade Wegachsen. Dies zog wiederum nach sich, dass sich der Rang eines Herrschers nun nicht mehr mit Blick auf die Höhe seines Bauwerks im Vergleich mit benachbarten Gebäuden ausdrückte, sondern in der Fortbewegung durch die Stadt oder den Garten erfahren werden musste.

Claudia Blümle setzte sich aus einem dritten Blickwinkel mit dem Topos der Bewegung auseinander, indem sie sich mit Wolken und Vorhangfalten in Repräsentationsporträts befasste. Wenngleich es neuerdings Anzeichen dafür gibt, dass eine mathematische Erklärung des Faltenwurfes gelingen könnte [2], standen sie im 17. Jahrhundert gemeinsam mit den Wolken geradezu emblematisch für das durch Mathematik nicht zu Beschreibende. So symbolisierten die wallenden Wolken und Vorhangstoffe des Reiterporträts Karls I. von Van Dyck in ihrer Bewegtheit das schlechthin Unberechenbare und somit die Erhabenheit des Souveräns über irdische Regeln. Diese wallende Bekräftigung des Mystischen war Teil eines forcierten Repräsentationsprogramms, das mit der Auflösung des englischen Parlaments 1629 und der damit einhergehenden labilen politischen Lage lanciert wurde.

Von den Falten dieses Reiterbildnisses ließe sich eine spekulative, aber nicht völlig willkürliche Linie zu jenen Faltungen ziehen, die erst unter dem Mikroskop sichtbar werden. Wie Angela Fischel in ihrem Vortrag über die mikroskopische Raumerfahrung im 17. Jahrhundert ausführte, trug das unaufhörliche Entdecken immer neuer mikroskopischer Landschaften zu einer Vorstellung der Welt als unendlich ineinandergefaltet und damit niemals völlig begreifbar bei. Mit dieser implizierten Grenzbestimmung der menschlichen Welterkenntnis symbolisierten die mikroskopischen Faltungen, wie bei Van Dycks wallendem Vorhang, den Abgrund des Unberechenbaren auf das sich eine mystische Herrschaftsbegründung stützte.

Dass der Souverän nicht nur Gegenstand, sondern auch Initiator der Berechnung sein konnte, zeigte Birgit Schneiders Rekonstruktion der durch Colbert ins Werk gesetzten Normierung und Bürokratisierung der Webkunst im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Es gelang der Referentin eindrucksvoll Faden und Schuss der überaus luxuriösen Gobelins in kulturtechnische Verbindung zu den Zeilen und Spalten der Tabellen zu bringen, die die staatlichen Kontrolleure aus allen Tapisserie-Werkstätten Frankreichs zum König schickten. Diese Tabellen ermöglichten die beispiellose Qualitätskontrolle und Produktionsnormierung eines der repräsentativsten Luxusgüter der Monarchie mit dem umgekehrt der französische Adel durch die Geißel des conspicious consumption, also des demonstrativen Konsums, domptiert werden konnte.

Pablo Schneider erörterte anhand von Bildern des Ensembles von Versailles - das dem Rezensenten im Anschluss an den letzten Vortrag beinahe wie eine staatsrepräsentierende Tabelle erschien - die Frage, wie der König sein Verhältnis zum Unendlichen inszenierte. Er führte an zeitgenössischen Darstellungen aus der Vogelperspektive den Nachweis, dass die Achsen des Versailler Gartens eben nicht symbolisch bis ins Unendliche reichen sollten, sondern betont an einem definierten Ort enden. Die Bilder zeigten, vor allem durch die deutliche Nahsicht auf die umliegenden Hügel und klar sichtbare Grenzen der Wegachsen, nicht das Modell grenzenloser Macht Ludwigs XIV., sondern - bei allem Größenwahn - die Inszenierung einer Demutsgeste. Der sich an diesen Achsen vermeintlich manifestierende Unendlichkeitsanspruch wurde vom Referenten als Legende gekennzeichnet, die erst nach 1723 entstand.

Steffen Siegel konnte mit der eingehenden Analyse des hochkomplexen diagrammatischen Musters einer Kosmos-Karte Andrea Baccis von 1581 die Karriere des Kopfes zum bildlichen Stellvertreter des Mikrokosmischen im frühneuzeitlichen Weltbild belegen. Annähernd im Zentrum dieser zwischen Text und Bild auf ganz eigene Weise changierenden Darstellung ist ein Kopf im Profil dargestellt, der durch zahlreiche Textfelder näher bestimmt und im System einer Ansammlung unterschiedlichster Ordnungssysteme verortet wird. Durch die Untersuchung dieser bildlichen Analogisierung von Mikro- und Makrokosmos wurde der klassische Begriff der Herrschaftsrepräsentation, der nach Bodin im Herrscher ein irdisches Abbild Gottes sieht, durch eine kosmische Dimension ergänzt. Zugleich wurde damit der besonders für die kirchliche Repräsentation problematische Wechsel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild tangiert, der noch für die Repräsentation des "Sonnenkönigs" Ludwig XIV. von besonderem Gewicht sein wird.

Steffen Bogen charakterisierte das Diagrammatische als eine Form des Gebrauchs von Bildern. In der Gegenüberstellung der Darstellung eines Hebeturmes aus Salomon de Caus' 'Von gewaltsamen Bewegungen' mit einem "algebraischen Rechenturm" konnte er dies eindrucksvoll beweisen. Wiederholt man nämlich die mit dem Rechenturm dargestellten Operationen der sukzessiven Multiplizierung mit dem Auge auf dem Bild des Hebeturmes, so beginnt dieser in einem diagrammatischen Sinn zu funktionieren. Die Caus'sche Maschine besitzt ebenso viele Zahnräder, wie der Rechenturm Multiplizierungsvorgänge, und so scheint ein einziger Mann an einer Kurbel durch Multiplikation seiner Kräfte tatsächlich einen enormen Felsblock heben zu können. Mittels des diagrammatischen Gebrauchs des Maschinenbildes entstand so eine ganz eigene Art von Papiermaschine, deren Funktionieren durch keinerlei physikalische Gegebenheiten verhindert wurde.

Es drängt sich hier eine Frage auf, die sich letztlich angesichts der meisten Maschinenbücher des 16. und 17. Jahrhunderts stellt: Welchen Zweck haben Maschinenentwürfe, die in der Umsetzung überhaupt nicht funktionieren können? Ihr Zweck, so wurde in der Diskussion deutlich, war zugleich der Gegenstand der Tagung: Das repräsentative Nichtfunktionieren entspricht eben jener in den ersten Vorträgen so deutlich herausgearbeiteten Mystik des spielenden Souveräns, der sich jedem Zweck und jeder Berechnung zu entziehen imstande ist.

Wie bereits in anderen Vorträgen ergab sich hier ein spezifischer Blick auf die Inszenierung einer Macht jenseits irdischer oder menschengemachter Gesetze. Es formierte sich ein tagungsspezifischer Topos von Mysterium und Berechenbarkeit als widerstreitender Elemente der Repräsentation. Das bemerkenswerte Zusammenspiel aller Beiträge bezeugte nicht nur eine treffende Auswahl und das erfolgreiche Bemühen der Referenten, sondern auch von dem Bedürfnis, das aktuelle Thema Bild und Macht in den Zeiten einer auf das Unterbewusste zielenden Bildpropaganda zu entmystifizieren. Wie sehr dies ein Desiderat ist zeigt sich daran, dass man zwar die Zerschlagung eines Terrorregimes durch rauchende Soldaten beeindruckend ins Bild setzen kann, die Installierung der Demokratie im Irak aber offenbar nicht.

Anmerkungen:

[1] Da die Vorträge hier nicht allesamt besprochen werden können, verweise ich auf das Programm unter: http://www2.rz.hu-berlin.de/kulturtechnik/veranstaltungen.php#workshops ).

[2] Und zwar unter Berücksichtigung der Eulerschen Knicklast als Funktion dreier Winkel, s. Süddeutsche Zeitung vom 10.02.04, S.9; PNAS, 101 (2004), S. 1806.

Empfohlene Zitation:
Reinhard Wendler: [Tagungsbericht zu:] Visuelle Argumentationen (Berlin, 30.–31.01.2004). In: ArtHist.net, 08.03.2004. Letzter Zugriff 21.12.2024. <https://arthist.net/reviews/451>.

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