Man kann jede Geschichte auch von hinten nach vorne erzählen – z.B. die vom Nürnberger Stadtbaumeister. So begann diese Tagung mit einem unterhaltsamen Einblick in die Tätigkeit des heutigen Amtsinhabers und endete mit der Darlegung der Editionsgeschichte jenes Manuskripts, das dessen Amtsvorgänger Endres Tucher (1423–1507) im Rückblick auf seine langjährige kommunale Tätigkeit 1464-1475 verfasste.[1] Nun aber der Reihe nach, also umgekehrt.
Die Teilnehmenden des sehr anregenden, nur einen dicht gefüllten Nachmittag dauernden Workshops versammelten sich am Sitz der Nürnberger Tucher-Kulturstiftung im Schloss Schoppershof, einer Villa Suburbana der Spätrenaissance, ehemals vor den Toren der Reichsstadt gelegen.[2] Dort wurden sie vom Hausherrn Bernhard von Tucher, einem Nachfahren des Autors, dessen Buch den Gegenstand der Tagung bildete, auf das freundlichste in der holzgetäfelten Stube des Ansitzes begrüßt. Anlass der Veranstaltung ist die für den 03.12.2025 geplante Eröffnung einer Kabinett-Ausstellung im Goldsaal des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg (GNM), in dessen Mittelpunkt eben jenes „Baumeisterbuch des Endres Tucher“ stehen soll, das sich dort als Dauerleihgabe der Merkel’schen Familienstiftung befindet.[3] Zur Vorbereitung des Projekts hatten die Kuratoren Florian Abe (Tucher Kulturstiftung) und Andreas Huth (Universität Bamberg) Forscher:innen zum Austausch über das Buch und seinen Verfasser, aber auch vergleichbare Amtsstrukturen, Archivalien und administrativ-politische Konstellationen derselben Epoche in anderen Städten des Reiches geladen.
Das bereits 1862 erstmals edierte, 229 Seiten umfassende Werk enthält vieles, aber nicht unbedingt das, was man aus moderner Sicht bei diesem Titel erwarten würde.[4] Endres (Andreas) Tucher war nämlich kein Architekt, sondern sozusagen Baudezernent der Reichsstadt, also Patrizier, verantwortlicher Politiker und Mitglied im allesbestimmenden „Inneren Rat“. Seine Schrift behandelt somit vielfältige Themen und Aufgaben, die nur zu einem kleinen Teil der Baukunst, überwiegend aber der städtischen Infrastrukturplanung zuzuordnen sind. Dazu zählte auch die Bereitstellung und Bewirtschaftung der kommunalen Ressourcen, denn Nürnberg verfügte, anders als das konkurrierende Augsburg, über ein eigenes ländliches Territorium mit dem „Reichswald“ als Holz- und Werksteinlieferant. Vor allem ging es aber, wie üblich, ums Geld, also die sparsame Verwaltung, Planung und Kontrolle der städtischen Ausgaben für Personal, Material, Erneuerung und Instandhaltung von allem, was mit öffentlich finanziertem Hoch-, Tief-, Straßen-, Brücken-, Wasserbau und dem Feuerlöschwesen zu tun hatte. Tucher vermachte das Buch zum Ende seiner langen Amtszeit 1476, als er kinderlos in das Kartäuserkloster (den heutigen Sitz des GNM) eintrat, der Reichsstadt und seinen Nachfolgern als eine Art Handbuch der „Best Practice“ – mit Erfolg, wie mehrere handschriftliche Kopien belegen.
Ob Daniel Ulrich, der heutige Planungs- und Baureferent Nürnbergs, den Text schon einmal dienstlich konsultiert hat, blieb offen. Jedenfalls führt er inoffiziell gerne den Titel „Stadtbaumeister“ und residiert weiter im Dienstsitz seiner Vorgänger, dem historischen Bauhof „an der Peunt“. Anders als zu Tuchers Zeit sei die diskursive Einbeziehung der Öffentlichkeit in Planungsprojekte heute von zentraler Bedeutung.
Erfreulich war der hohe Anteil junger Forschender unter den Referierenden. Minne De Boodt und Mats Dijkdrent (Löwen) stellten in einem vergleichenden Projekt mit Antwerpen, Rouen und Nürnberg Bezüge zwischen Tuchers Buch und dem zeittypischen politischen Ideal des „Guten Regiments“ her. Hierbei spürten sie vor allem den oft verwendeten Begriffen wie „gemeiner Nutz“ oder „der Stadt Notdurft“ nach, wobei der Bezug – das Kollektiv, der/die Einzelne, die Stadtrepublik? – meist unklar blieb. Querverweise auf den italienischen Theoretiker Filarete, dessen Manuskript damals allerdings noch nicht publiziert war, belegen das ebenso epochentypische wie unspezifische dieses Vokabulars: Der vitruvianische Tenor war allen humanistisch Gebildeten geläufig.
Heike Zech, Kuratorin für „Kunsthandwerk bis 1800“ am GNM, ist eine der Projektpartnerinnen der geplanten Ausstellung. Sie stellte faszinierendes Material der „Objektbasierten Forschung“ ihrer 3000 Stücke umfassenden Sammlung vor. Hierbei wurde auch die ungewöhnliche Stellung des für Nürnberg so prägenden Handwerks deutlich, das in der Oligarchie der Reichsstadt keine Zünfte ausbilden konnte, sondern sich stattdessen regelmäßig in sog. „Herbergen“ traf. Durch die Aufstellung einer triptychonartigen „Lade“ wurde die „Ehrbarkeit“ der jeweiligen Profession temporär ansichtig gemacht. Neben nobilitierenden biblischen Bezügen im „Schrein“ finden sich auf den Klappflügeln auch seltene, authentische Porträts namentlich bekannter Handwerksmeister.
Miriam Egner (Bochum) und Jost-Peter Liebig (München) weiteten den Blick über Nürnberg hinaus auf ein kompliziertes Geflecht von berufsständischen und politischen Interessen rund um die Straßburger Bauhütte im 15. und 16. Jahrhundert. Beim Regensburger Hüttentag 1459 hatten die Steinmetzen vom Oberrhein einen Führungs- und Normierungsanspruch für ganz Süddeutschland errungen und sogar 1498 von König Maximilian offiziell bestätigen lassen. Nun mischten sie sich z.B. in Frankfurt, Wien und Heidelberg in aktuelle Streitfälle zwischen den Kommunen, Hüttenmeistern und -gesellen und den Landesherren ein. Mit erstaunlichem Erfolg, da die ortsungebundenen Spezialisten schlicht mit Arbeitsniederlegung und Wegzug drohen konnten, was den lokalen Zünften nicht möglich war: Zugleich erleichterten die Städte durch den allmählich vollzogenen offiziellen Beitritt zum Hüttenverband den in diesem Gewerk unverzichtbaren Austausch zur Gewinnung externer Expertise.
Niklas Groschinski (Oxford) stellte einen besonders aktuellen Aspekt von Tuchers Tätigkeit unter dem Titel „Umweltpolitik“ vor: Tatsächlich könnte man dessen Anweisungen für den sparsamen, sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen Holz und Stein, Waldpflege und Abfallbeseitigung auch unter dem aktuellen Begriff der „Nachhaltigkeit“ verbuchen. So pflanzte Tucher z.B. innerhalb der Stadtmauern über 130 Lindenbäume.
Regina Schäfer (Mainz) lenkte den Blick auf die ewige Rivalin Nürnbergs, die Reichsstadt Augsburg. Dort war das Amt der „Baumeister“ sogar noch umfassender, galt es doch bis 1462 als Synonym für die städtische Finanzverwaltung schlechthin, in Nürnberg „Losunger“ geheißen. Für die Stadt am Lech war die Wasserbaukunst, seit 2019 Unesco-Weltkulturerbe, vorrangig, so dass man spezialisierte Graben-, Lech(kanal)- und Brunnenmeister beschäftigte. Die lückenlos erhaltenen jährlichen Ausgabenbücher dienten der rechtlichen Entlastung der Amtsinhaber vor dem Rat, während Tucher sein Manuskript ohne Verpflichtung als eine Art Quintessenz seiner Amtserfahrung verfasste.
Wie sich der Städtebau in den nach dem sog. „Berggeschrey“ 1470 neugegründeten „Silberstädten“ Sachsens organisierte, präsentierte Marco Silvestri (Paderborn). In Annaberg (gegründet 1496) und Marienberg (1521) wurden Planstädte auf rationalem Rastergrundriss angelegt, wobei der zunächst vorherrschende Einfluss der fürstlichen Landbaumeister schnell durch interne patrizische „Dynastiebildungen“ abgelöst wurden. Die Schönherr in Annaberg bildeten dort bald ähnliche Amtskontinuitäten aus wie die Tucher in Nürnberg.
Zum Schluss lenkte Peter Fleischmann, langjähriger Leiter des Staatsarchivs Nürnberg, den Blick zurück auf Endres Tucher und die anfänglich bereits skizzierte Editionsgeschichte seines Werks als 64. Band der verdienstvollen Reihe des „Litterarischen Vereins“ in Stuttgart (1862). Trotz einiger Vorläufer (z.B. Lutz Steininger) steht dieser Text nördlich der Alpen vereinzelt da und ist wohl nur aus einer spezifischen Familientradition der Tucher zu erklären, die die Gewohnheit kaufmännischer Rechnungslegung mit einer Vorliebe für urbanistische Themen verbanden. So legte Endres’ Bruder Hans VI. Tucher einen vielgelesenen Bericht seiner Jerusalemwallfahrt (1479) samt Topographie der Heiligen Stätten vor. Einige Aufgaben wie z.B. Stadterweiterung und Festungsbau fehlen im „Baumeisterbuch“, da sie zu Tuchers Amtszeit gerade nicht relevant waren. Dennoch blieb das Bauamt der größte und kostspieligste Arbeitgeber im städtischen Gefüge, ganz nach dem Nürnberger Bonmot: „Das Kriegsamt und die Peunt sind der Losunger größter Feind“ (Militär- und Bauwesen sind die größten Feinde des Stadtkämmerers). Eine Besonderheit liegt auch in der Idee des Autors, das Sachregister des Bandes mit einem vorangestellten Kalender zu kombinieren, der die Aufgaben und Themen des Baumeisteramtes jeweils an bestimmte Tage und Jahreszeiten bindet.[5] „Altes Herkommen“ und frühmoderne Rationalität gehen hierbei eine dialektische Verbindung ein.
Abschließend kann der Workshop als rundum gelungen betrachtet werden. Trotz der knappen Zeit – an die sich alle Referierenden und Diskutierenden dankenswerterweise hielten – entstand in der stimmungsvollen, halb privaten Atmosphäre des Tucherschlosses ein intensiver Austausch, bei dem jahrzehntelange Expertise und neue, z.B. linguistische Forschungsansätze der Promovierenden in einen anregenden Austausch traten. So kann man abschließend dem Kommentator von 1862, Friedrich von Weech, zustimmen, der (in origineller durchgehenden Kleinschreibung, ebd. S. 1) konstatiert: „namentlich hat die modische „wißenschaft der culturgeschichte“ gerade hier nicht unbedeutende und nachhaltige verdienste erworben.“
[1] Zur Biographie vgl. Ernst Mummenhoff: „Tucher, Endres“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 38 (1894), S. 764–765 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd10434993X.html#adbcontent Letzter Zugriff 16.02.2025.
[2] CONF: Die gepflegte Stadt. Quellen u. Praxis kommunaler Bauämter (Nürnberg, 13 Feb 25). In: ArtHist.net,12.01.2025. Letzter Zugriff 07.02.2025. <https://arthist.net/archive/43669>.
[3] Digitalisiert zugänglich unter https://dlib.gnm.de/item/HsMerkel1/10
[4] Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg, eingeleitet von Friedrich von Weech [mit einer sehr informativen Zusammenfassung der Inhalte], ediert von Matthias Lexer, Stuttgart 1862. Digitalisiert zugänglich unter urn:nbn:de:bvb:12-bsb10737601-9. Letzter Zugriff 16.02.2025.
[5] Tucher / Lexer 1862 [wie Anm. 4], S. 20–31.
Recommended Citation:
Meinrad von Engelberg: [Conference Report of:] Die gepflegte Stadt. Quellen und Praxis kommunaler Bauämter (Schloss Schoppershof, Tucher Kulturstiftung, Nürnberg, Feb 13, 2025). In: ArtHist.net, Feb 19, 2025 (accessed Feb 21, 2025), <https://arthist.net/reviews/43991>.
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