Die Wöchnerin hat es geschafft. Den Kopf in die Hand gestützt schaut sie zufrieden und erschöpft vor sich hin. Ihr wird eine Suppe zur Stärkung gereicht und in einem flachen Zuber wird gleich das Neugeborene gebadet. Die Amme streckt die Hand aus, als wolle sie sich davon überzeugen, dass das Wasser die richtige Temperatur hat. Am Kamin wird bereits ein Tuch vorgewärmt und weiter im Hintergrund das Mahl vorbereitet. Eine wohltemperierte Gelöstheit erfüllt nach der Geburt Mariens die Räume, deren detailreiche Schilderung die gediegene Behaglichkeit eines zeitgenössischen venezianischen Patrizierhauses evoziert. Da ist er, der Carpaccio, den wir kennen und schätzen, der Meister des Geschichtenerzählens, der Chronist des venezianischen Alltagslebens.
Dieses Bild aus dem Albanesi-Zyklus ist jedoch eines der wenigen Gemälde in der Stuttgarter Ausstellung, das dieser gängigen Vorstellung von Carpaccio entspricht. Aus den großen narrativen Zyklen für die venezianischen Bruderschaften, auf denen Carpaccios Ruhm gründet, ist hier nur das im Besitz der Staatsgalerie befindliche Bild aus dem Stephanus-Zyklus zu sehen. Daraus aber macht die Ausstellung eine Tugend. Während die großen monographischen Schauen in Washington und in Venedig Carpaccio als „master storyteller“ präsentierten, lernt man hier durch die Konzentration auf Bildnisse, Altar- und Andachtsbilder ganz andere, nur wenig bekannte Seiten Carpaccios kennen. Statt Carpaccio als Star zu inszenieren, geht es in dieser klug kuratierten Ausstellung und dem begleitenden Katalog darum, ihn als eine Stimme im polyphonen Konzert der venezianischen Malerei zwischen 1490 und 1520 erlebbar zu machen. Die künstlerischen Strategien herauszuarbeiten, durch die es Carpaccio gelang, sich in einem hochkompetitiven Umfeld zu profilieren und in seiner unverwechselbaren Eigenheit zu behaupten, beschreibt Annette Hoyer in ihrem einführenden Katalog-Essay als eines der Hauptanliegen. Hochkarätige Leihgaben aus Venedig, Florenz, Budapest und Washington bringen den umfangreichen eigenen Bestand qualitätvoller venezianischer Malerei zum Leuchten, der sich dem 1852 durch den württembergischen König Wilhelm I. getätigten Ankauf der Sammlung Barbini-Breganze verdankt. Ein dieser Sammlung gewidmetes Forschungs- und Restaurierungsprojekt steht im Hintergrund dieser ganz auf Kontextualisierung setzenden, fünfzig Exponate umfassenden Schau. Bilder von Giovanni und Gentile Bellini, Lorenzo Lotto und Giovanni Mansueti, aber auch Stiche von Albrecht Dürer und Beispiele nordalpiner Porträtkunst werden mit Werken von Carpaccio zu einem Panorama voller Vergleichs- und Erkenntnismöglichkeiten arrangiert.
So bietet etwa der dem venezianischen Porträt gewidmete Saal nicht nur durch die Gegenüberstellung von gemalten und gezeichneten Porträts sowie venezianischer und nordalpiner Männerbildnisse hochinteressante Perspektiven auf die Thematik. Gleich drei Frauenporträts, die ja in der venezianischen Frührenaissance extrem dünn gesät sind, geben hier Gelegenheit, verschiedene Konzeptionen des Weiblichen zu studieren: Zwei Frauenbildnisse Carpaccios flankieren wie in ehrerbietiger Reverenz Gentile Bellinis berühmtes Porträt der Catarina Cornaro. Erscheint die eine, mit einem kostbaren (frommen?) Buch in der Hand und mit biederer Mine vor sich hinblickend wie das Muster der ehrbaren Frau, schaut die andere unter ihrer extravagant turmartigen Frisur mit selbstbewusstem Seitenblick zum Betrachter. Über dem unteren Bildrand öffnet sich das mit schwerem Silberschmuck behangene Dekolleté ihres schulterfreien Kleides. Die Königin Zyperns aber schaut ruhig und gesammelt in die Ferne. Dass Bellini darauf verzichtet, die physischen Anzeichen ihres Alters auf eine ideale Frauenschönheit hin zu glätten, mag ebenso wie der ungewöhnlich große, bis zu den Hüften reichende Bildausschnitt und die elaborierte Kostbarkeit der Gewandung dazu dienen, ihre Königswürde in Szene zu setzen. Deren Größe wird jedoch durch eine links oben ins Bild gesetzten Inschrift relativiert: „Zypern (…) dient mir,“ so lauten die der Porträtierten in den Mund gelegten Worte „Du siehst, wie bedeutend ich bin, doch größer noch ist die Hand des Gentile Bellini, die mich auf so einem kleinen Täfelchen wiedergegeben hat“. Diese eigentümliche Form der Signatur stellt die Macht der Malerei über die faktische Ohnmacht der Porträtierten, die sich nach ihrer Entmachtung vor allem als Mäzenin hervortat. Beinahe noch interessanter sind die Signaturen Carpaccios, die er oft als cartellino mit illusionistischer Bravour in die Bilderzählung setzt, ohne sie jedoch im dargestellten Handlungszusammenhang aufgehen zu lassen. Ein besonderes Vergnügen ist es, Beispiele dieser phantasievoll variierten Signaturen, die Rebecca Müller in ihrem Katalog-Essay als Formen künstlerischer Selbstreflexion analysiert, in der Ausstellung aufzuspüren.
Eine (allerdings unausgesprochene) Reflexion über den Status der Malerei scheint auch Giovanni Bellinis zwischen 1490 und 1505 entstandene Tafel mit Christus am Kreuz zu enthalten, die zu den Höhepunkten der Ausstellung zählt. Einzeln an einer großen petrolblau gestrichenen Wand gehängt, kann das kleinformatige Bild seine ikonische Wirkung voll entfalten. Vor einer zeitgenössischen Landschaft mit Stadt erstreckt sich das Kreuz bildparallel vom unteren bis zum oberen Bildrand, so dass man es unwillkürlich mit der Bildoberfläche assoziiert. Dadurch scheint die Gestalt des Gekreuzigten, wie Daniela Bohde im Katalogtext bemerkt, in den Betrachterraum zu ragen. Kennt man das Bild nur aus Reproduktionen ist man vor dem Original verblüfft über die an Trompe-l’oeil-Effekte erinnernde Wirkung, die das Kreuzesholz mit seiner hyperreal gemalten Maserung entfaltet: Unwillkürlich drängt sich die absurde Vorstellung auf, Bellini habe vor Beginn des Malprozesses die Form des Kreuzes mit Malerkrepp abgeklebt, so dass die glatt gehobelte Oberfläche des hölzernen Bildträgers sichtbar bleibt. Die Materialität des Kreuzes und des Bildes scheinen hier zu verschmelzen und an der ästhetischen Grenze als Schwelle zu fungieren, hinter der eine exakt wiedergegebene Realität (der zeitgenössischen Landschaft und eines jüdischen Friedhofs) prospekthaft in die Ferne rückt und vor der die metaphysische Wirklichkeit des Gekreuzigten im Hier und Jetzt buchstäblich greifbar zu werden scheint. Nutzt Bellini hier das „metaphorische Potenzial des Trägermediums“ (Markus Rimmele) für eine Reflexion über die transzendierende Macht der Malerei?
Den Vergleich zwischen Giovanni Bellinis und Carpaccios Werkstatt ermöglicht die Ausstellung in besonderer Dichte am für Venedig so zentralen Thema der Madonna mit Kind. Maria als ehrfürchtige Gottesmutter darzustellen und zugleich die innige Beziehung zwischen Mutter und Kind fühlbar zu machen, wird uns hier in zahlreichen Beispielen als Aufgabe vor Augen geführt, bei denen kleine Variationen große Veränderungen in der Gesamtwirkung hervorbringen. „Selbst hier“, so schreibt Peter Humfrey in seiner Katalogeinleitung in einem bemerkenswert kurzen Abschnitt über Carpaccio (S. 36), „wird sein erzählerisches Talent offenkundig, und nur selten eifert er der ikonischen Erhabenheit und spirituellen Tiefe nach, die Giovannis Altar- und Andachtsbilder auszeichnen.“ Und in der Tat entwickelt Carpaccio in der ungewöhnlichen Frankfurter Madonna mit Kind und Johannesknaben eine Strategie, das Heilige in die Gegenwart zu holen, die sich radikal von derjenigen Bellinis unterscheidet. Dass Maria hier ein mit roten Schühchen, Kettchen und niedlicher Kappe zeitgenössisch ausstaffiertes Kleinkind anbetet, spitzt die dem Thema inhärente Spannung zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit auf der Ebene des Kostüms zu und aktiviert die emotionalen Identifikationspotenziale der Alltagsempfindungen.
Eine Fülle neuer Einsichten hat die im Katalog hervorragend erläuterte und dokumentierte Restaurierung der beiden im Besitz der Staatsgalerie befindlichen Gemälde hervorgebracht, deren Abschluss neben dem fünfhundertsten Todesjahr des Künstlers den Anlass zur Ausstellung gab. So hat die Restaurierung der Pala Dragan (Der Hl. Thomas von Aquin mit den heiligen Markus und Ludwig von Toulouse) nicht nur ihre brillante Farbigkeit wiedergegeben, sondern auch wichtige neue Informationen zu ihrer Entstehungsgeschichte zutage gefördert. Ihre effektvolle Präsentation in einer modernen, den typischen giebelbekrönten Einfassungen solcher Altarbilder nachempfunden Rahmenarchitektur lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass die innerbildliche Architektur hier nicht als deren illusionistische Fortführung konzipiert ist, wie wir es etwa von Bellinis paradigmatischer Pala di San Giobbe oder von Carpaccios für dieselbe Kirche geschaffene Pala Sanudo her kennen. Doch wird im Bild die architektonische Gestalt des Raumes, in dem der Hl. Thomas auf seinem Lesepult über einem nach vorne offenen Bücherschrank thront, auf ästhetisch irritierende Weise verunklärt: Wattiges Gewölk um eine himmlische Madonnenerscheinung und eine unter ihr von etwas hölzernen Engeln quer über die ganze Breite des Bildes gehaltene Stoffbahn verdecken den oberen Teil der beiden Fenster und lassen die bildparallele Wand hinter dem Thronenden von Weitem wie eine apsidiale Ausbuchtung erscheinen. Die im Rahmen der Restaurierung vorgenommene Infrarotreflektografie hat nun zum Vorschein gebracht, dass es sich bei diesen Elementen um nachträglich, aber in Carpaccios Regie hinzugefügte Übermalungen handelt, die ursprünglich in den rundbogigen Abschluss der Fenster zu sehenden Butzenscheiben überdecken. Warum wurden sie übermalt?
Stefan Neuner bringt in seinem anregenden Katalog-Essay eine lebensweltliche Erklärung ins Spiel: Mit den Butzenscheiben habe Carpaccio auf die Profession der Auftraggeber-Familie Dragan verweisen wollen, die mit der Produktion kostbaren Kristallglases zu Vermögen gekommen war. Mit der ordinären Fensterverglasung durch vetro da rui habe der Produzent innovativer Luxusobjekte aus Glas jedoch nicht in Verbindung gebracht werden wollen und daher das Motiv zurückgewiesen. Aber hätte es dann nicht gereicht, die Fensterscheiben ganz einfach mit dem gleichen Himmelsblau zu übermalen, das sich im unteren Teil der Fenster zeigt? Carpaccio hat die Glasfüllung jedoch nicht unauffällig getilgt, sondern durch eine dezidiert religiöse Motivik ersetzt. Das lässt vermuten, dass auch die verworfene Verglasung ursprünglich im Rang eines religiösen Motivs fungierte und dass ihre nicht völlig klaren, aber lichtdurchlässigen Scheiben womöglich ein auf die Marienerscheinung zu beziehendes Konzept der Diaphanie transportierten. Denn mit dem dichten Gewölk und dem von Engeln wie als Sichtschutz gehaltenen Tuch wurden sie durch Motive ersetzt, die vollständige Opazität signalisieren.
Diese Spur legt die ebenso kluge wie überraschende Gegenüberstellung der Pala Dragan mit Dürers Meisterstich Der Hl. Hieronymus im Gehäuse. Hier schirmen Butzenscheiben die Stube des Gelehrten von den Gestalten der äußeren Welt, nicht aber vom sanft hereinflutenden Licht ab, das, wie Bertram Kaschek in seinem dem Blatt gewidmeten Katalogeintrag bemerkt, die innere Schau des Heiligen indirekt anzudeuten scheint. (S. 168). Er vermutet, Dürer habe sich zu dieser graphischen Evokation eines natürlichen und doch geistig aufgeladenen Lichts durch Carpaccios großformatige Vision des Heiligen Augustinus in der Scuola die San Giorgio degli Schiavoni anregen lassen, wo das ähnlich prominent durch die Fenster in die Studierstube einströmende Licht, die dem Heiligen Hieronymus widerfahrende Vision erahnen lässt, sie aber dem körperlichen Auge des Betrachters pointiert entzieht.
Eine ganz andere Art, diesen Vorgang zu verbildlichen, wird uns im gleichen Raum mit Mansuetis kleinformatiger Vision des Hl. Augustinus zu sehen und zu bedenken gegeben, wo die Erscheinung des Hl. Hieronymus durch ihre Platzierung im Fenster der Gelehrtenstube mit dem wirklichen Licht verknüpft und so als den leiblichen Augen des Heiligen zugänglich qualifiziert wird. Der Hl. Augustinus schaut auf die Erscheinung, während die Heiligen in der Pala Dragan den Blick gerade nicht zur Madonna heben, sie mit ihren leiblichen Augen also offenbar nicht sehen. Das hervorzuheben, könnte der Sinn der nachträglichen Änderung des Bildes sein.
Eher als um die Tilgung eines irreführendes product placement, könnte es in der nachträglichen Übermalung um die Anpassung an die von Thomas von Aquin formulierte Vorstellung von Offenbarung durch ein inneres geistiges Licht gegangen sein, das es ermöglicht, „[…] Dinge zu verstehen, zu denen der Verstand durch das natürliche Licht nicht gelangen kann." (Thomas von Aquin, ScG III, 154). Vielleicht hatten die Dominikaner, in deren Kirche San Pietro Martire auf Murano das Bild ursprünglich aufgestellt war, gefordert, dass das Bild der von ihrem berühmten Ordensbruder postulierten Trennung von leiblicher und geistiger Schau Rechnung trägt. Vielleicht aber fühlte sich auch der Auftraggeber des Bildes, Tommaso Dragan, seinem Namenspatron theologisch soweit verpflichtet, dass er die Änderung im Sinne thomistischer Doktrin wünschte. Das einzige im Bild anwesende Mitglied der Stifterfamilie, vermutlich Tommasos Sohn Bernardino, schaut mit ehrerbietiger Aufmerksamkeit auf den erhobenen Zeigefinger des Hl. Thomas.
Auch dem zweiten, im Besitz der Staatsgalerie befindlichen Bild Carpaccios, dem Martyrium des Hl. Stephanus, hat die Restaurierung sein herrliches Kolorit wiedergegeben. Das glühende Rot in den Gewändern der den Heiligen steinigenden Turbanträger fügt sich mit dem Gold der felsigen Landschaft im Hintergrund zu einer suggestiven Abendstimmung. Kunsttechnologische Untersuchungen haben zutage gebracht, dass die warme Leuchtkraft des Bildes mit einer technischen Besonderheit zu tun hat: Im Gegensatz zu den anderen Bildern des Stephanus-Zyklus ist es nicht auf der üblichen weißen, sondern auf einer rotbraunen Grundierung gemalt, die Carpaccio hier nach bisherigem Kenntnisstand zum ersten Mal einsetzt.
Das von der Scuola di Santo Stefano in Auftrag gegebene Bild ist Teil einer heute in alle Winde verstreuten Folge von fünf narrativen Szenen aus dem Leben des Heiligen. Der hier in einer Tafel neben dem Bild visualisierte und von Christine Follmann im Katalog ausgeführte Vorschlag zur Rekonstruktion der ursprünglichen Hängung lokalisiert den Zyklus im Erdgeschoss des ehemaligen Bruderschaftsgebäudes. Die grundsätzlich anzunehmende Konkordanz zwischen innerbildlichem und realem Lichteinfall und die chronologische Abfolge der Narration würde es im Rahmen dieser Hypothese zwingend machen, das Martyrium des Hl. Stephanus als erstes Bild an der vom Eingangsportal aus gesehen rechten Längswand einzuordnen. Denn das einzige Licht des Saals fiel durch zwei das Portal flankierende Fenster und entspräche so dem in der Steinigungsszene von rechts kommenden Licht.
Aber wohin würde der sterbende Märtyrer dann seinen Blick richten? Nach dem im Katalog ausgeführten Vorschlag schaut er entsprechend seines in der Apostelgeschichte 7.55 überlieferten Ausruf, dass er „den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen“ sehe, auf die wolkenumrahmte Lichterscheinung, zu der sich der Himmel über ihm in der rechten oberen Bildecke öffnet. Doch ist dieser Moment der Erzählung im Gegensatz zum hier gezeigten Martyrium noch innerhalb der Mauern Jerusalems anzusiedeln und der Hl. Stephanus schaut irritierenderweise gerade nicht zu dieser rötlichen Gloriole auf. Es ist vielmehr der in der linken unteren Bildecke am Boden sitzende und die bei der Steinigung abgelegten Übergewänder bewachende Saulus, der den Blick zu dieser den Märtyrer überfangenden rötlichen Lichterscheinung wendet. Mit dieser hintergründigen die ganze Bilddiagonale überspannenden Blickbeziehung gelingt es Carpaccio, wie Follmann ausführt, zwei Geschichten in einer zu erzählen und verständlich zu machen, dass das Martyrium des Hl. Stephanus für Saulus eine Erfahrung ist, die auf sein Damaskuserlebnis vorausweist.
Wenn der am rechten Bildrand kniende Stephanus selbst aber nicht in dieses Licht schaut, dann liegt es nahe, seine Blickrichtung auf etwas außerhalb des Bildfeldes Liegendes zu beziehen: auf einen Altar. Diese Vermutung fügt sich zum schlüssigem Rekonstruktionsvorschlag, den Patricia Fortini-Brown 1988 in Venetian narrative painting in the age of Carpaccio skizzierte. Sie siedelt den Zyklus im Obergeschoss an, wo sie einen zwischen den beiden oberen Fenstern der Fassade zu lokalisierenden Altar annimmt. Mit dem auf das Haupt des Heiligen auftreffenden Stein zeigt Carpaccio, dass wir es hier mit dem Moment unmittelbar vor seinem Tod zu tun haben, in dem der Märtyrer mit den Worten auf die Knie sinkt „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apostelgeschichte 7.60). Dass der mit der Dalmatika bekleidete Diakon Stephanus hier kniend die Hände zum Gebet erhoben hat, fügt sich besonders gut zu der Vorstellung, dass er sich mit dieser letzten Fürbitte in eine Richtung wendet, in der sich der reale Altar befand.
Somit hätte Carpaccio mit diesem erstmals in seinem Oeuvre auf rotem Grund gemalten und mit Bleiweiß vorgezeichneten Bild nicht nur technisch einen Weg beschritten, der dann später von Malern wie Tintoretto weiterverfolgt wird. Er hätte auch den spirituellen Bezug einer Bildhandlung zum Altar in einer Weise in Szene gesetzt, wie sie Tintoretto um den Altar im oberen Saal der Scuola di San Rocco und in vielen seiner übereck zu Altären platzierten laterali weiterentwickelt. Carpaccios in vielen Aspekten konservative Kunst wird im Vergleich mit der zukunftsweisenden tonalen Malerei Giorgiones und Tizians häufig als Sackgasse gewertet. Einmal mehr aber zeigt sich hier, dass man seinen Einfluss auf die nachfolgende Malergeneration nicht unterschätzen sollte.
Natürlich ist es schade, dass die anderen Bilder des Stephanus-Zyklus nicht ausgeliehen wurden. Warum man das Fehlen eines narrativen Zyklus durch einen Saal mit großformatigen Reproduktionen des Ursula-Zyklus auszugleichen versucht, von dem man im Gegensatz zum Stephanus-Zyklus kein Original zeigen kann, erschließt sich nicht ganz. Nachdem sich das Auge bereits in das subtile Kolorit des frühen Cinquecento eingesehen hat, bilden die von hinten beleuchteten Riesen-Reproduktionen, die dann doch auch wieder nicht der Originalgröße der Bilder entsprechen, eine leicht irritierende Unterbrechung im ruhigen Gang dieser distinguierten Ausstellung. Es ist nachvollziehbar, dass man dem Publikum mit der erzählerischen Pracht des Ursula-Zyklus den Zugang zur Materie bahnen will.
Aber in der gelungenen Gegenüberstellung von Carpaccios großformatigem Altarbild Der heilige Georg bezwingt den Drachen und Ai Weiweis bunter Variation des Bildes zeigt die Ausstellung, dass dies auch gelingen kann, ohne die Ebene des künstlerischen Originals zu verlassen. Sein aus Lego-Steinen montierter Nachbau des ikonischen Motivs erinnert in seiner mosaikartigen Wirkung an andere Resproduktionsmedien, an verpixelte Fotografien und sogar an Tapisserien. Man staunt bei näherer Betrachtung wie verschieden die Farben der Steine sind, mit denen Ai Weiwei den leuchtenden Kupferton des Predella-Hintergrundes wiedergibt. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf das vibrierende Kolorit, das Carpaccio erzeugt, indem er die grobe Körperung der Fischgratleinwand nutzt. Das eindrucksvolle Untier wird in einem neuen Sinne als universale Verkörperung des Widersachers verständlich, wenn man sich vorstellt, welche metaphorische Bedeutung der Kampf gegen den Drachen für einen chinesischen Dissidenten annehmen kann. Auch diese unkonventionelle Gegenüberstellung bietet also viele Erkenntnismöglichkeiten und zugleich für alle großen und kleinen Besucher, die mit Malerei des 16. Jh. noch unvertraut sind, einen guten Einstieg.
Die Stuttgarter Staatsgalerie gibt hier einmal mehr ein Beispiel, wie sich der institutionelle Auftrag des Bewahrens, Erforschens und Vermittelns im Rahmen einer Ausstellung als ausgewogener Dreiklang realisieren lässt. Dank der klugen Beiträge ausgewiesener Venedig-Expertinnen und -Experten ist mit dem begleitenden Katalog eine Publikation gelungen, die über die Vor- und Nachbereitung der Ausstellung hinaus Bestand haben wird (Carpaccio, Bellini und die Frührenaissance in Venedig, Ausst.Kat. Staatsgalerie Stuttgart, hg. v. Christine Follmann, Annette Hoyer, München 2024.).
Recommended Citation:
Astrid Zenkert: [Review of:] Carpaccio, Bellini und die Frührenaissance in Venedig (Staatsgalerie Stuttgart, Nov 15, 2024–Mar 2, 2025). In: ArtHist.net, Feb 10, 2025 (accessed Feb 11, 2025), <https://arthist.net/reviews/43909>.
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