REV-CONF Dec 20, 2004

Deutsch-tschechisch-slowakische Kulturkontakte

Stadtarchiv Prag, Sep 25–29, 2004

Report by Michaela Marek
Editor: Livia Cárdenas

Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Deutsch-tschechisch-slowakische Kulturkontakte von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Teil I: 19. Jahrhundert bis 1945. Tagung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission.

„Kultur ist Reichtum an Problemen.“ Egon Friedells wohl prägnanteste Definition von Kultur gilt besonders auch für Unternehmungen wie diese: kulturelle Erscheinungen über Grenzen wissenschaftlich-disziplinärer Zuständigkeiten hinweg in dem historisch-politischen Kontext zu betrachten, in dem sie stattfanden. Weder Aspekte der Alltagskultur noch Sternstunden der Hochkultur können, so die Ausgangsthese der hier zu referierenden Tagung, zur Gänze verstanden werden, wenn man sie aus ihrem konkreten historischen Rahmen isoliert. Gleiches gilt aber - und dies mag sich für manchen Historiker noch immer provokant ausnehmen - nicht minder für politische Entwicklungen, Positionierungen, ja auch Ereignisse.

Gerade in den nationalen, sozialen und politischen Emanzipationsprozessen des 19. Jahrhunderts innerhalb der Habsburgermonarchie hatte das Wechselspiel zwischen kulturellen Initiativen unterschiedlichster Art und politischem Handeln eine konstitutive Rolle gespielt, wobei beide Stränge keineswegs immer parallel zueinander verliefen: Abhängig von Situationen, Gruppeninteressen u.a.m. konnten sie bis zur Deckungsgleichheit zusammen fallen oder weit divergieren; es stellten sich Phasenverschiebungen und - wechselnde - Vorreiter-Nachfolge-Verhältnisse ein; symbolisches Handeln auf kulturellen Feldern kompensierte mitunter politische Abstinenz oder konterkarierte politische Entscheidungen. Die bis zum Ersten Weltkrieg entstandenen Muster des Wechselspiels, das sich in vielen Einzelfällen als ein strategisches erweisen sollte, blieben prinzipiell auch unter den Bedingungen des Nationalitätenstaates der ersten Tschechoslowakischen Republik wirksam und setzten sich - wiewohl unter teilweise verschobenen Vorzeichen - noch in den radikal veränderten Konstellationen fort, wie sie das Ende des Zweiten Weltkrieges und wenig später die Durchsetzung des kommunistischen Regimes geschaffen hatten.

Diese Voraussetzungen lassen die historischen Räume deutsch-tschechisch-slowakischen Kontaktes als besonders geeignetes Experimentierfeld für die Erprobung einer integrierten, Politik und Kultur übergreifenden Betrachtungsweise von Geschichte erscheinen. Vieles weist darauf hin, dass sich in dieser Perspektive ,sicher' geglaubtes politikgeschichtliches ,Wissen' durchaus verschieben kann. Der Versuch, den diese Doppeltagung darstellt, steht im Zusammenhang der innerhalb der Geschichtswissenschaft wieder auflebenden Debatte um Möglichkeiten und Grenzen kulturgeschichtlicher Forschungsansätze.[1] Wird hier einerseits umstandslos erklärt, dass die „permanenten Überschneidungen kultureller, sozialer und politischer Prozesse“ als komplexe historische Realität nicht ohne wesentliche Verluste künstlich entflochten werden können, so kreist die Debatte andererseits immer wieder um Fragen, wie dieser Komplexität methodisch begegnet werden kann, und damit auch um Fragen der Be- und Abgrenzung möglicher Untersuchungsfelder, dessen, was im Rahmen des Faches Geschichtswissenschaft als 'Kultur' Berücksichtigung finden kann und was auszusortieren ist [2]: sei es nach 'unten', sei es zur Hochkultur hin. Letztlich geht es dabei - wenngleich unausgesprochen - immer auch um Grenzziehungen zu benachbarten historisch arbeitenden Wissenschaftsdisziplinen. Begreift man aber die (in unserem Fall: politischen) 'Wirklichkeiten', die Historiker ungeachtet ihrer disziplinären Zuständigkeit verstehen wollen, als innerhalb je bestimmter Bedingungen stattfindende Kommunikations- und Verständigungsprozesse, die gleichzeitig sowohl direkt, verbal und konfrontativ als auch in vielgestaltigen anderen Formen und dabei keineswegs linear verlaufen [3], so wird man nicht umhin können, Kultur in einer offenen Auffassung des Begriffs als einen „Modus“ innerhalb dieses Diskurses zu betrachten - und nicht als ein „Accessoire“ der Politik. [4]

Damit aber werden jedenfalls die Grenzen der Geschichtswissenschaft - und hier nicht nur einer wie auch immer zu definierenden Kulturgeschichte, sondern auch der Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte und der Politikgeschichte - auf der einen Seite und der für Hochkultur zuständigen Nachbarfächer auf der anderen durchlässig. Eben dieser Durchlässigkeit gilt
der mit der Tagung unternommene Versuch, den 'cultural turn' und diverse weitere 'turns' der Geschichtswissenschaft auf den gemeinsamen Nenner einer inter- und transdisziplinären Perspektive zurückzuführen. Dieser kann zugegebenermaßen nicht (mehr) beanspruchen, als innovativ und als Königsweg zur Lösung aller Methodenprobleme kulturgeschichtlicher Forschungen zu gelten: Er ist der Binnendifferenzierung des Faches Geschichte hinderlich, und vor allem ist Interdisziplinarität, weil sie allzu oft nicht eingelöst werden kann oder gar nur als taktische Parole eingesetzt wird, in Gefahr, zu einem hohlen Schlagwort zu verkommen. Dennoch dürfte außer Frage stehen, dass inter- und transdisziplinäre Perspektiven, sofern man sie ernst nimmt, das Potential haben, jedenfalls etliche der modischen ,turns' innerhalb der Kulturgeschichte mitsamt den eigens dafür konstruierten Instrumentarien überflüssig zu machen. [5] Dies setzt freilich bei allen Beteiligten die Bereitschaft voraus, von den disziplinär kanonisierten Erkenntniszielen - teilweise auch den hierzu gehörigen Methoden - abzuweichen, um den Blick auf die mit der Fragestellung vorgegebene Schnittmenge zwischen den Fachinteressen zu konzentrieren und dies nicht allenfalls als Kürübung an der Peripherie des jeweiligen Faches zu betrachten.

Im Falle unserer Frage nach konkreten Fallbeispielen kultureller Erscheinungen in politischen Kontexten erschien es ratsam, den Begriff Kultur in keiner Richtung einzugrenzen. Dies hatte zum Teil pragmatische Gründe, sollte aber vor allem - trotz des eng gesteckten Rahmens einer Tagung, der keine systematische Gesamtschau gestattet - helfen, im Sinne der ,New Cultural History' [6] den Blick offen zu halten für ein breites Spektrum von Möglichkeiten und auch für konstellationsbedingte chronologische Schwerpunktverlagerungen. Die Referate, beigetragen von Historikern verschiedener Fachrichtungen, Kunsthistorikern, Germanisten, Slawisten, Ethnologen und Theaterwissenschaftlern, zeigten eine Vielzahl unterschiedlich gearteter politisch aufgeladener Berührungen zwischen den Nationalkulturen auf. Überwiegend loteten sie aber Bereiche kulturellen Lebens aus, die zeitweise Wellen von Politisierung unterlagen. Daher wurden die Beiträge entsprechend diesen Bereichen gruppiert und nicht, wie es ebenfalls denkbar gewesen wäre, nach chronologischen oder funktionalen Kriterien.

Eingangs fächerte Peter Haslinger (München) Bedeutungsaspekte von 'Kultur' als eines „historischen Norm- und Kampfbegriffes im deutsch-tschechischen, tschechisch-slowakischen und slowakisch-ungarischen Nationalisierungskontext“ auf. Er machte darauf aufmerksam, dass sich hier, bedingt durch die ungleichen Rahmenbedingungen und Ziele, unterschiedliche Auffassungen des Begriffs Kultur kreuzten und dieser zudem mit den Phasenverschiebungen der historischen Entwicklungen in verschiedener Intention eingesetzt wurde. 'Kultur' in der Bedeutung von 'Zivilisation' und somit als „Kampfbegriff“ zu Kompensation und Überwindung empfundener Rückständigkeit in der Selbstbeschreibung wie auch in der Konfrontation der vier nationalen Gruppen standen in einem nie geklärten und daher konfliktträchtigen Verhältnis verschiedene inhaltliche Besetzungen insbesondere des Begriffs Nationalkultur gegenüber. Mit der Vorstellung einer essenzialistisch und homogen gedachten - tschechischen - Sprachnation, die eben darauf ihren Anspruch auf einen eigenen Platz unter den Kulturen der Welt gründete, ließ sich etwa der vorherrschende ungarische Kulturbegriff, der weitgehend ohne das Kriterium der Sprache auskam und statt dessen weitaus stärker das zivilisatorische Moment der Modernisierung betonte, nur schwer auf einer gleichen Kommunikationsebene positionieren, zumal beide Auffassungen gleichzeitig nicht nur der In- und Exklusion potentieller Angehöriger der jeweiligen nationalen Gemeinschaft dienten, sondern auch der Begründung ihrer territorialen Ausdehnung. Als ein besonders anschauliches Beispiel für die Auswirkungen dieser Konstellation über historisch-politische Umbrüche hinweg führte Haslinger die Problematik des Tschechoslowakismus in der Slowakei nach 1918 an, wo die ,slowakische Kultur' in Anlehnung an die tschechische von der ungarischen Kulturauffassung abzulösen war und zugleich als eigenständiges Gebilde gegen die tschechische abgegrenzt werden musste. Diese Inkongruenz der Kulturbegriffe hinsichtlich ihrer Inhalte - aber auch ihrer funktionalen Dimensionen als „Quellenbegriff“ einerseits und analytische Kategorie andererseits, wie Martin Schulze Wessel (München) in der Diskussion anmerkte - sollte die gesamte Tagung begleiten und letztlich kennzeichnen.

Eine erste Sektion war der Auslotung politischer Dimensionen in verschiedenen Bereichen der Künste gewidmet: von den bildenden Künsten über das Theater bis zum Kino. Die Fragen galten sowohl Themen und Modi der Künste sowie ihren politisch-ikonographischen Funktionen als auch Institutionen bzw. Interessengruppen und der politischen Tragweite ihrer Aktivitäten. Auf ein nahezu unbearbeitetes Feld führte gleich das erste Referat: Birgit Jooss (München) formulierte - aus dem Kontext eines anlaufenden Forschungsprojekts - eine Fülle bislang nie gestellter Fragen in Bezug auf die Kolonie tschechischer Kunststudenten an der Münchner Akademie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. München als Schauplatz einerseits eines multi- und internationalen Kunstgeschehens, andererseits, mit wechselnden politischen Konjunkturen und Entwicklungen auf dem Kunstmarkt, immer wieder auch als Stätte einer spezifisch 'deutschen' Kunst bedarf selbst noch vertiefender Untersuchungen. War München für angehende Künstler aus Böhmen anscheinend eine nahezu selbstverständliche Station in ihrem Werdegang, so sind Informationen über Motive, Umstände und Wirkungen dieser Horizonterweiterung über die Ausbildung an der Prager Akademie hinaus bis heute kaum verfügbar. Lässt sich der Wunsch nach Auslandserfahrung überhaupt sinnvoll in einen Zusammenhang mit dem Prozess der nationalen Ausdifferenzierung innerhalb der böhmischen Länder bringen? Solange nicht hinreichend geklärt ist, inwieweit die böhmische Künstlerkolonie in München nationale Orientierungen entwickelte und etwa die Rolle als Repräsentanz einer - noch zu formierenden und zu verfechtenden - tschechischen Nationalkultur annahm, bleiben auch Fragen nach dem Stellenwert Münchens als womöglich unterschwellig politisch ausgespielte Alternative zu Wien oder nach der Bedeutung von im Ausland erworbener Anerkennung für die Etablierung einer nationalen Kunst im eigenen Land offen. Ebenso spekulativ ist vorderhand auch die von Jooss zur Diskussion gestellte Relevanz der Münchner Erfahrungen für die internationale Aufgeschlossenheit der tschechischen Secessionsbewegung.

Dass diese keineswegs die Überwindung der nationalen Kategorie in der Kunst bedeutete, zeigte Roman Prahl (Prag) in seinem Beitrag über die „auswärtige Politik“ böhmischer Künstlervereine um 1900. Vertraten etliche der modernistischen Vereine die traditionelle Auffassung von Kunst als authentischer Äußerung nationaler Identität - wenn auch die einzelnen Künstler in der Berufspraxis eine professionelle Haltung über die nationale stellten und diese letztere vor allem zur Wahrung ihrer Marktinteressen ins Feld führten -, so gewann eben dieses Selbstverständnis eine entscheidende Bedeutung im Rahmen der staatlichen Kunstpolitik in der Habsburgermonarchie. Die Regierung nutzte die Kunstförderung für nationalpolitische Zugeständnisse, die auf offener politischer Bühne nicht opportun erschienen. Umgekehrt trug die in Vereinen organisierte Künstlerschaft - wiewohl nicht durchgehend intentional - wesentlich dazu bei, über den Bereich der Kunst hinaus reichende nationale Ansprüche zu artikulieren und diesen durch internationale Aktivitäten Nachdruck zu verleihen. Ein anschauliches Beispiel hierfür bieten die dichten Kontakte des tschechischen Künstlervereins 'Manes' nach Paris, welche die Stadt Prag energisch unterstützte und damit zugleich für ihre eigenmächtige, der staatsoffiziellen Außenpolitik zuwider laufende Allianzbildung instrumentalisierte. Mit Recht machte Prahl jedoch darauf aufmerksam, dass die auswärtige Repräsentation einer fortschrittlichen tschechischen Kunst - wie auch der Import spektakulärer Ausstellungen, besonders aus Paris - keineswegs in erster Linie als symbolisch praktizierte Politik gemeint war, sondern zuallererst durch Möglichkeiten der Verständigung über künstlerische Ziele gesteuert wurde und dazu diente, Märkte zu erschließen und 'moderner' Kunst im eigenen - dem tendenziell konservativen Prager - Milieu Respekt zu verschaffen.

Ein Feld, auf dem explizite Politik durch die symbolische Politik der Kunst sekundiert wurde, beleuchtete Werner Telesko (Wien): Er nahm den „Kult“ um Kaiser Joseph II. in Augenschein, mit dem seit den 1880er Jahren vor allem im deutschsprachigen Nordböhmen die deutschnationale Bewegung bekräftigt und popularisiert wurde. Die Aufstellung der zahlreichen Denkmäler, die vielfach aus serieller Produktion stammten, wurde in den Einweihungsreden und Festschriften stets auf ein kollektives, authentisches Bedürfnis der jeweiligen örtlichen Bevölkerung zurückgeführt, Joseph II. als letzten 'Schutzherrn' des - nunmehr als bedroht propagierten - 'Deutschtums' in den böhmischen Ländern zu ehren. Die Vielzahl der einander ähnlichen Denkmäler erweckte den Anschein eines gemeinsamen politischen Willens in der deutschböhmischen Bevölkerung und verstärkte so den Appell an das Kaiserhaus, der sich darin artikulierte. Dieser wurde mit ikonographischen Mitteln zusätzlich konkretisiert. So wählte man für die Denkmäler - und mehr noch in der in diesem Zusammenhang massenhaft produzierten Druckgraphik und panegyrischen Dichtung - vorzugsweise Attribute bzw. Episoden aus der Vita Josephs II., die ihn als väterlich sorgenden Herrscher sowie als Garanten von Freiheit und Wohlstand kennzeichneten.

Ein Auseinanderklaffen von Identitätskonstruktionen entlang konfessioneller und damit verbundener politischer Linien innerhalb der deutsch sprechenden Bevölkerung im nordwestböhmischen Grenzland um 1900 führte Kristina Kaiserova (Usti nad Labem) vor. Insbesondere die deutschnationale Los-von-Rom-Bewegung und die Altkatholiken definierten ihre Positionen nicht nur inhaltlich, sondern auch mit Mitteln der Stilwahl vor allem in ihrer literarischen und publizistischen Produktion sowie in der Kirchenarchitektur und -kunst. Moderne und universale bzw. traditions- und gattungsgebundene Stilmittel transportierten über den konfessionellen Rahmen hinaus reichende Komponenten der unterschiedlichen Identifikationsangebote, und diese flossen auch in die symbolische 'Besetzung' von Orten mit politisch-konfessionellen 'landmarks' ein. Eine zu den Denkmalssetzungen parallele, jedoch eher lokal wirksame Persuasions- und Konkurrenzstrategie beleuchtete Zdenek Hojda (Prag) anhand von Aussichtstürmen und Berghütten in den deutsch-tschechischen Grenzregionen Böhmens. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungen über symbolische Vereinnahmungen von urbanen Örtlichkeiten (u.a. Peter Stachel) wie auch, via Tourismus, von Landschaften (Hermann Bausinger, Pieter M. Judson) im Rahmen insbesondere nationaler Konfliktlagen zeigte er für die Regionen entlang der tschechisch-deutschen Sprachgrenze den Forschungsbedarf und die möglichen methodischen Ansätze auf, darunter die Analyse von Quellen wie Ansichtskarten, Gästebüchern von Gasthäusern oder Kennzeichnungen von Wanderwegen, vor allem aber Untersuchungen der Aktivitäten - und der konkurrierenden Interaktion - von touristischen Vereinen beider Nationalitäten: Nicht nur offen provokative Anspielungen wie Kaiser Wilhelm- und Bismarcktürme auf böhmischem Territorium verdienten Beachtung, sondern ebenso sehr subtilere Mittel symbolischer Politik wie Bauinitiativen und Besitz augenscheinlich neutraler Aussichtstürme und Berghütten mitsamt ihrem visuellen Radius oder auch periodische Aktionen wie ostentative Ausflüge in bereits andersnational vereinnahmte Gebiete.

Eine herausragende Bedeutung als Plattform, auf der sich die innerböhmische nationale Konkurrenz kristallisiert hatte und auf die sie im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder aus dem offiziellen Politikbereich verwiesen wurde, kam dem Theater zu. Jitka Ludvova (Prag) zeichnete aber die Entwicklung des deutschsprachigen Theaters in Prag von seiner Glanzzeit als Landesinstitution bis zu Überlebenskämpfen am Ende des 19. Jahrhunderts als Geschichte eines Niedergangs der deutschsprachigen Theaterkultur, die zwangsläufig aus der innenpolitischen Liberalisierung nach 1860 und der dadurch möglich gewordenen Entfaltung tschechischer Kultur resultierte. Ludvova schilderte insbesondere die Schwierigkeiten des 1882 gegründeten deutschen Theaterbauvereins, den ambitiösen Neubau - zusätzlich zum bestehenden Theatergebäude - kostendeckend zu bespielen. Diese führte sie auf eine stark abnehmende Bereitschaft der (um 1900 nur mehr wenige Zehntausend Personen zählenden!) deutsch sprechenden Bevölkerungsgruppe in Prag zurück, Flagge zu zeigen. Die Frage, wie eine derartige Initiative noch im ausgehenden 19. Jahrhundert politische Formen der Auseinandersetzung ersetzen konnte, blieb ebenso unberührt wie, für die Jahrzehnte zuvor, Fragen nach sozialgeschichtlichen Aspekten des Theaterbesuchs, welche als Teil des nationalen Differenzierungsprozesses zu sehen sind: Sie könnten die Emanzipation des tschechischen Theaters auch als anerkanntes gesellschaftliches Forum erhellen helfen und ebenso Hinweise etwa darauf geben, in welchem Maße die Prager deutsch sprechende Oberschicht Fühlung mit dem Kulturleben in der Hauptstadt Wien suchte. Aufschlussreich hätte auch ein genauerer Blick auf die Wahrnehmungen und Wirkungen der Richard Wagner-Inszenierungen des Prager Theaterdirektors Angelo Neumann ausfallen können, der - worauf Ludvova hinwies - mit erfolgreichen Gastspielen innerhalb der Habsburgermonarchie, aber auch im Deutschen Reich immerhin die
Finanzlage des Prager Neuen Deutschen Theaters zu sanieren vermochte.

Fragen solcher Art richtete Ines Koeltzsch (Berlin) an „tschechisch- und deutschsprachige Kinowelten im Prag der Zwischenkriegszeit“ und leuchtete damit einen Bereich aus, in dem über- und internationale Kulturproduktion konfliktfrei konsumiert werden konnte, solange sie nicht zwischen die Räder tagespolitischer nationaler Reibungen geriet. Im Jahr 1930 eskalierten in der so genannten 'Tonfilmaffäre' Proteste gegen die Vorführung deutschsprachiger und deutscher Filme in Prager Kinos - Proteste freilich, die ohne eigentlich politischen Anlass in Gang gekommen waren und sich dann irrational bis zu gewalttätigen Auseinandersetzungen auswuchsen. Zuvor, aber auch bereits bald danach wieder dominierten in den überdurchschnittlich zahlreichen Prager Kinos mit Untertiteln versehene deutsche (und einheimische deutschsprachige) Filmproduktionen, dicht gefolgt von englischsprachigen, während tschechische Filme nur einen Bruchteil der Programme ausmachten. Die Filmunternehmer, überwiegend jüdisch und deutsch sprechend bzw. zweisprachig, bildeten mitsamt dem gesamten Personal bis hin zu den Schauspielern eine international vernetzte Gesellschaft, die eben darauf ihren Erfolg gründete. Im Alltag des Unterhaltungs-, aber auch des anspruchsvolleren Kinos spielten (sprach-)nationale Präferenzen keine Rolle, so dass dieses selbstverständliche Hinnehmen der Differenz, so Koeltzsch, für alle sozialen Schichten und Gruppen gleichermaßen zu konstatieren sei und ebenso für alle politischen Richtungen: Protektionistische Maßnahmen zur Förderung der einheimischen Filmwirtschaft waren so zugeschnitten, dass sie deren Boom nicht empfindlich störten, und selbst erklärtermaßen nationalistisch eingestellte tschechische Politiker wie das Prager Stadtoberhaupt Karel Baxa unterstützten die Vielfalt der Sprachen, der Inhalte und der Ideentendenzen mit Blick auf die wirtschaftlichen Vorteile, aber auch auf das Image eines kulturell toleranten Volkes und Staates. Ein Ende bereitete diesem Phänomen - das von der Warte der politischen Historiographie aus überraschend erscheinen mag, nicht so freilich angesichts der Erkenntnisse der Wirtschaftsgeschichte - erst die nationalsozialistische Politik in der Tschechoslowakei.

An den Referaten zu Themen der Literatur, der Publizistik und der Presse zeigten sich eindrücklich die Schwierigkeiten des Brückenschlags zwischen den Fächern - d.h. zwischen der Politikgeschichte und den anderen Interessenfeldern historischer Forschung -, wie ihn die Fragestellung der Tagung einforderte. A priori gesetzte Differenzen standen schon der Verständigung über den Begriff des Politischen bzw. dessen Konkretisierung im gegebenen Zusammenhang im Weg: darüber etwa, ob Dialogen über innere Sprachgrenzen hinweg per se eine politische Relevanz zukomme, auch ohne dass Motivationen ausgeleuchtet und Wirkungen bewertet werden.

So illustrierte Milan Zemko (Bratislava) anhand statistischer Daten die vielsprachige Presselandschaft in Pressburg (Bratislava) vor und nach dem Ersten Weltkrieg und wies darauf hin, dass die Einbindung der Stadt in das neue Staatsgebilde der Tschechoslowakei weder im einschlägigen Markt noch im Leseverhalten der verschiedenen Nationalitäten angehörenden Konsumenten unmittelbare Veränderungen nach sich gezogen hat. Er schloss aus der „Multiethnizität“ auf eine „Multikulturalität“, verzichtete aber darauf, diese weiter reichenden Fragen zu unterwerfen: etwa nach dem wechselseitigen Verhältnis dieser - keineswegs für Pressburg/Bratislava allein charakteristischen - Normalität zu politischen Einstellungen, sei es bei Entscheidungsträgern in Politik und Pressewirtschaft oder in der Bevölkerung selbst, nach einer Differenzierung von Publikumsgruppen usw. Die Existenz sprachlich sowie in der weltanschaulichen und politischen Ausrichtung differenter Zeitungen im Prag der Jahre um 1918 machte Sibylle Schönborn (Düsseldorf) zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen über einzelne - exemplarisch aufgefasste - Beiträge in deren Feuilletons. Sie ging davon aus, dass das Feuilleton prinzipiell als „geschützter Raum“ eines allein auf kulturelle Anliegen konzentrierten, gegenüber allem Politischen autonomen Diskurses zu verstehen sei, der sich durchaus in verschiedenen Sprachen, gleichwohl ohne nationale (oder gar nationalpolitische) Schranken vollziehe. Daher sei speziell das Feuilleton in der Prager Presselandschaft in der Zeit des Ersten Weltkrieges und danach mit Foucaults Begriff der „Heterotopie“ zu qualifizieren. In thematisch wie auch ihrer Stoßrichtung nach verschiedenartigen Beiträgen von Alfred Lemm in dem jüdischen Wochenblatt 'Selbstwehr', Hans Liebstöckl in der Prager deutschen Tageszeitung 'Bohemia' und Arne Novak in der tschechischen, in deutscher Sprache herausgegebenen 'Prager Presse' machte Schönborn eine übereinstimmende Tendenz zur Beschwörung einer labyrinthisch, aber integral konstruierten Idealwelt aus, welche man dem zeitgenössischen Zwang zur Spaltung der Identitäten entgegen gestellt habe. Hier sei die eigentliche Kultur zu lokalisieren, nicht in ihren nationalisierten und der Politisierung zugänglichen Bereichen. Ähnlich argumentierte auch Marek Nekula (Regensburg), der nochmals seine Auslegung der Zweisprachigkeit Franz Kafkas als Exempel für die zwar schwierige, doch jedenfalls von der maßgeblichen intellektuellen Elite allen nationalpolitischen Festlegungen zum Trotz gelebte kulturelle Einheit Prags erläuterte. Demgegenüber zeigte Jaroslav Med (Prag) am Beispiel des im mährischen Altreisch (Stara Rise) ansässigen, der Katholischen Moderne verpflichteten Verlegers Josef Florian und dessen Engagements für die Dichtung des Expressionismus, wie kultureller Austausch - oder vielmehr wiederum: Unteilbarkeit der Kultur - (nur) in einer geographischen und geistigen Enklave gedeihen konnte.

Zwei weitere literaturwissenschaftliche Vorträge untersuchten mit der literarischen Produktion im deutschböhmischen und sudetendeutschen Milieu vermeintlich bekannte Bereiche, in denen Literatur in den Dienst politischer Propaganda gestellt wurde. Ernst Rohmer (Regensburg/Erlangen) analysierte das als 'Monatsschrift für das geistige Leben der Sudetendeutschen' zwischen 1933 und 1938 von Hans Watzlik herausgegebene Blatt 'Der Ackermann aus Böhmen'. Anhand von ausgewählten, überwiegend programmatischen Beiträgen aus allen Jahrgängen - vielfach von dem Prager Universitätsprofessor für Germanistik Herbert Cysarz - argumentierte Rohmer, dass es den Initiatoren von Anfang an darum gegangen sei, mittels eines dem 'Boden' und dem 'Volk' verbundenen Literaturverständnisses eine sudetendeutsche Volksgemeinschaft in Opposition zu 'den Tschechen' zu schmieden, diese ihrer historisch-politischen Gebundenheit zu entheben und sie als Teil des gesamten 'Deutschtums' auszuweisen: dass also die Zeitschrift bereits bei ihrer Gründung als ein Organ des sudetendeutschen Volkstumskampfes fungierte und somit als ein Motor der nationalsozialistischen Ideologie im deutschsprachigen Böhmen zu werten sei. Die Frage allerdings, ob bzw. in welcher Weise sie mit der Sudetendeutschen Heimatfront und später der DNSAP (Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei) verflochten war, bleibe noch zu klären. Speziell Hans Watzliks Wandel von einem 'Heimatdichter' zu einem deutschnationalen Schriftsteller und DNSAP-Aktivisten zeichnete Václav Maidl (Prag) als frühe Wendung in einem langfristigen Entwicklungsprozess nach. An Werken von Josef Rank, Georg Leopold Weisel und Karel Klostermann illustrierte Maidl zunächst, wie in der Dichtung und Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verbundenheit mit der engeren 'Heimat' gegen die unmittelbaren Wirkungen der Modernisierungsprozesse und insbesondere gegen die Spaltung der Nationalitäten in Böhmen aufgeboten wurde. Bei Watzlik, der zunächst aus dieser Tradition hervorgegangen war, erkannte Maidl die Wendung zur Inszenierung des nationalen Antagonismus, die dessen Entwicklung zu einem einflussreichen Verfechter von 'Volkstums'Interessen einleitete, bereits in dem frühen Grenzlandroman „O Böhmen“ von 1917.

Auf wissenschaftliche Deutungen der Geschichte tschechischer und deutscher Literatur in Böhmen richtete unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Implikationen Michael Wögerbauer (Wien) einen kritisch analysierenden Blick. An unterschiedlichen literarhistorischen Abhandlungen, speziell zur nationalsprachlichen Entwicklungsphase in der Zeit der Aufklärung, aus tschechischer wie aus deutscher Feder seit dem 19. Jahrhundert bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges zeigte er einerseits, wie die wechselnden historischen Konstellationen immer wieder nationale Legitimationsstrategien in der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung - der deutschböhmischen bzw. sudetendeutschen gleichermaßen wie der tschechischen - hervorbrachten. Anderseits wurde deutlich, dass Ansätze sei es zu einer integrierten, territorial determinierten Betrachtung der literarischen Entwicklung in Böhmen - wie bei Arnost Kraus - oder zu einer komparatistischen Perspektive zum Scheitern verurteilt waren, weil sie nationalen Interessen zuwider liefen oder diese gar in Frage gestellt hätten. Hier trat das Erkenntnispotential eines kombinierten, in diesem Fall literatur- und politikgeschichtlichen Ansatzes nochmals besonders anschaulich zu Tage, und es war sicher kein Zufall, dass sich gerade in diesem Zusammenhang eine Stimme zur Verteidigung der wissenschaftlichen Würdigung von Literatur unabhängig von äußeren Bedingtheiten erhob: Als „Kunst“ könne Literatur nur dann wahrgenommen werden, wenn man alle außerkünstlerischen Faktoren wie historisch-politischen Kontext, Akteure und ihre Interessen usw., die sie zum Bestandteil eines Sozialsystems
degradierten, ausblende.

An der Schnittstelle zwischen Politik und nationalkulturellen Prägungen bzw. Interessen in der Gesellschaft waren im Programm der Tagung das Schulwesen und die Wissenschaft als soziales Milieu angesiedelt. Zdenek Benes (Prag) und Mirek Nemec (Freiburg) beleuchteten die Auswirkungen der liberalen tschechoslowakischen Schulgesetzgebung auf die allgemeinbildenden und besonders die Mittelschulen. War auf der Grundlage des Vertrages von Saint Germain die Gleichberechtigung aller in der Tschechoslowakei gebräuchlichen Sprachen auch im Schulwesen garantiert, so hatte jedoch die Freiheit zur inhaltlichen Ausgestaltung des Schulunterrichts, die - im Zuge der Übernahme des gesamten Rechtssystems aus der Monarchie - bereits 1918 festgeschrieben worden war, vielfältiges Problem- und Konfliktpotential zur Folge. Benes wies besonders auf die Situation in der Slowakei hin: Hier stellte Alphabetisierung nach wie vor ein Desiderat dar, und vorhandene Schulen mussten zugleich sprachlich 'slowakisiert' und hinsichtlich der staatsbürgerlichen Erziehung 'tschechoslowakisiert' werden, was freilich beides notgedrungen durch Entsendung von Lehrern aus den böhmischen Ländern geschah. Fragen nach der faktischen Problematik dieses Umstellungsprozesses lassen sich, so Benes, wegen Mangels an überliefertem Dokumentenmaterial nicht mehr beantworten. Eindrücklich konnte Benes aber zeigen, dass die großzügigen Rahmenbedingungen des Schulrechts Konfliktpotentiale nicht etwa aufhoben, sondern von der staatlichen Ebene auf die lokale verlagerten. Dies betraf vor allem die Regelungen zum Minderheitsschulwesen: Kämpfe habe es vor allem in deutschsprachigen Gebieten gegeben, die in aller Regel mit dem Wegzug jüngerer Familien endeten. Auf diese Weise habe das an sich auf Minimierung der Nationalitätenproblematik ausgelegte Schulrecht letztlich zur Desintegration beigetragen. Mirek Nemec bestätigte diesen Befund auf anderem Wege: Trotz Richtlinien für den Unterricht in Geschichte und Geographie, die auf eine Erziehung zu staatsbürgerlichem Bewusstsein abzielten - erlassen 1928/29 als regulierender Eingriff -, ermöglichten die dennoch weit reichenden Autonomierechte dem deutschen Schulwesen in der Tschechoslowakei selbst die Produktion und Verwendung von Schulbüchern, welche diesen Vorgaben unverhüllt widersprachen. Gleichzeitig aber nutzte die tschechoslowakische Regierung eben diese Konsequenz der Unterrichtsfreiheit in ihrer Außenpolitik gegenüber dem Deutschen Reich.

Ähnlich divergente Tendenzen konstatierte Jiri Pesek (Prag) - in einem gemeinsam mit Alena Miskova (Prag) vorbereiteten Beitrag - auch für das universitäre Milieu und die Gesellschaft zur Förderung der deutschen Wissenschaft, Literatur und Kunst in Böhmen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Anhand ausgewählter Persönlichkeiten aus den Geisteswissenschaften zeigte er, dass die Prager deutsche Universität wie auch die 'Gesellschaft' als ihr in die Öffentlichkeit wirkendes Pendant für die Propagierung eines segregativen deutschnationalen Selbstverständnisses ebenso genutzt wurden wie für Bemühungen um Selbstbehauptung auf der Basis von Kooperation. Vor allem die Universität fand aber zumal wegen des hohen Anteils jüdischer Professoren und Studenten keine ungeteilte Akzeptanz in der Prager und böhmischen deutschen Bevölkerung, so dass sie für die nationale Gruppe nicht als einheitliche Elitenplattform fungieren konnte. In der Ersten Republik war sie nicht zuletzt dank ihrer engen personellen Verflechtung mit dem Parlament und - ab 1926 - auch der Regierung in den tschechoslowakischen Staat eingebunden und somit letztlich auf die staatsoffiziellen Strukturen nationalpolitischer Auseinandersetzung verwiesen; Gleiches galt, bedingt auch durch Subventionierung, für die 'Gesellschaft'. Die Fragwürdigkeit der nationalen Kategorie als Integrationsfaktor und politisches Argument im Prag der Jahre um 1900 illustrierte Christopher Dowe (Tübingen) eindrucksvoll am Beispiel studentischer Rituale in der städtischen Öffentlichkeit. Der 'Bummel' Farben tragender deutscher Studenten wurde in Prag als Demonstration deutscher kultureller Vorherrschaft inszeniert - und von Studenten der tschechischen Universität mit gleichen Mitteln beantwortet: Diese imitierten in variierter Form den 'Wichs' und konkurrierten mit den deutschen Studenten um die symbolische 'Besetzung' des städtischen Raumes bis hin zu gewalttätigen Ausschreitungen, ohne aber tatsächlich den Burschenschaften entsprechende Zusammenschlüsse zu bilden. Unter den deutschen Studenten führte diese national zugespitzte Polarisierung jedoch keineswegs dazu, dass Differenzen auf anderen Feldern in der nationalen Identifikation aufgehoben worden wären. Vielmehr erwiesen sich soziale und vor allem religiöse Unterschiede als weitaus stärker wirksam, so dass innerhalb der deutsch sprechenden Studentenschaft Konflikte um Zugehörigkeit zum 'deutschen Volkstum' - insbesondere zwischen Juden und ultramontanen Katholiken - aufbrachen und es auch zu gemeinsamen antiklerikalen oder antisemitischen Demonstrationen deutscher und tschechischer Studenten kommen konnte.

Auf das Feld einer allgemein gesellschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweise von funktioneller Rezeption fremdnationaler Kulturelemente führten die Referate von Roman Holec und Dagmar Kostialova (beide Bratislava), die sich auf die Bedeutung 'deutscher Kultur' im nationalen Emanzipationsprozess der Slowaken konzentrierten. Holec verfolgte die von den 1860er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg einem markanten Wandel unterworfene Relevanz kultureller Kontakte zum nachmaligen Deutschen Reich und vor allem zu München. Die Orientierung insbesondere an der deutschen Romantik in Literatur und Kunst erfüllte nicht zuletzt die Funktion der Abgrenzung gegen die politisch vorangetriebene ungarische Kulturhegemonie. Dieses Verhältnis veränderte sich nach der Reichseinigung: Die konservativen katholischen Verfechter slowakischer kultureller Eigenständigkeit nahmen das Deutsche Reich als bedrohliche Übermacht wahr und sahen zumal bei Nietzsche die ehemals gemeinsamen Ideale preisgegeben. Ihnen stand eine protestantische Fraktion gegenüber, die an der kulturellen Verbundenheit mit dem Deutschen Reich festhielt, damit aber in einen Konflikt mit den politischen Interessen der 'tschechisch-slowakischen Gegenseitigkeit' geriet. Dieser Gegensatz fand sich, so Holec, zuerst in der Sozialdemokratie aufgehoben, deren tschechischer Zweig bruchlos zwischen den 'linken Kulturen' Deutschlands und der Slowakei vermitteln konnte. Kostialova begab sich von der Ebene der Hochkulturen und umstrittener ethisch-weltanschaulicher Positionen in die Alltagswelt der Weinstuben und Kaffeehäuser Pressburgs bzw. Bratislavas, wo sich Freizeit-, Konsum- und Kommunikationsgewohnheiten als Prüfstein nationaler Vergesellschaftungsprozesse und kultureller Identifizierungen erwiesen: Traf sich in den Kaffeehäusern die ungarische und magyarisierte Gesellschaft, auch um die internationale Presse zu verfolgen, so sammelten sich in den Weinstuben die deutschsprachigen und nach 1918 verstärkt die slowakischen Pressburger zu Vergnügen und Räsonnement. Weingenuss wurde mit künstlerischen und literarischen Debatten - einer deutsche und slowakische Differenz überwölbenden Boheme-Kultur - verknüpft und mit Weltoffenheit assoziiert, um dem Ruch eines slowakischen Provinzialismus zu entgehen.

Ins reale Leben führte schließlich auch der letzte Vortrag der Tagung zurück. Jürgen Nautz (Kassel/Wien) erläuterte die nationalpolitische Dimension des institutionalisierten Finanzwesens und der Geldpolitik und, in umgekehrter Sicht, deren Rolle im Verfestigungsprozess der nationalkulturellen Identifikationen in Cisleithanien. Die Machtkämpfe um wirtschaftspolitische Vorteile bzw. um Gleichstellung der über kulturelle Kriterien definierten nationalen Gruppen, die nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 einsetzten und seither nicht mehr abrissen - von Nautz besonders anschaulich gezeigt im Zusammenhang mit der Währungsreform bei Einführung des Goldstandards -, spielten sich auch auf symbolischer Ebene ab: im Ringen um Sprachregelungen, um Gestaltung von Banknoten und Münzen, nicht zuletzt in national codierten Formen und Motiven in der Architektur und Ausstattung von Bank- und Sparkassenbauten. Das Moment der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer nationalen Kulturgemeinschaft konnte sich in dieser Konstellation selbst in vermeintlich 'rein ökonomischen', pragmatischen Kriterien unterliegenden Entscheidungen als dominant erweisen, so bei der Vergabe von Krediten.

Ingesamt hat die Tagung mit ihren vielfältigen Zugängen zu dem Thema zweifellos ein realistisches Bild sowohl der Möglichkeiten und Hemmnisse transdisziplinärer kulturgeschichtlicher Forschung als auch speziell der Forschung zum Zusammenleben der Deutschen, Tschechen und Slowaken wiedergegeben. Als bezeichnend für den Stand der Reflexion kann sicher gewertet werden, dass das Programm allenfalls punktuell dem Sog der innertschechoslowakischen (-böhmischen, -slowakischen) Perspektive entzogen werden konnte. Entsprechendes ist für die Dominanz der nationalen Kategorie in der Definition von Kultur wie auch Politik und des Verzichts auf Binnendifferenzierungen - etwa nach den Vorgaben von Jiri Koralka [7] - zu konstatieren. Des weiteren ist aus den allgemeinen Tendenzen der Forschung erklärlich, dass von den in der Themenstellung der Tagung nachgefragten Optionen für Kultur in ihrem Wechselspiel mit Politik weitaus überwiegend die 'Vehikelfunktion' Interesse fand, während gegenläufige Bewegungen nahezu ausgeblendet blieben. Für das Gespräch über Fächergrenzen hinweg und die grundlegende Problematik der Verständigung über Begriffe ist hierbei charakteristisch, dass beispielsweise ein Ignorieren des politischen Kontextes je nach Perspektive auch als eine Art passiver Resistenz gedeutet werden kann. Wurde der reichlich bemessene Spielraum für Diskussion durchweg rege genutzt, so berührte diese nur sporadisch das zentrale Problem, wie die Bruchstellen zwischen den fachspezifischen Begriffs- und Methodeninstrumentarien sowie nicht zuletzt auch Erkenntnisinteressen überbrückt werden könnten. Eben deshalb aber - nicht etwa: dennoch - kann die Tagung als anregender Beitrag zur Debatte verbucht werden. Und zudem haben eine Reihe der Referate unmittelbar gezeigt, dass selbst Leistungen der Hochkultur auch in ihrer Funktion als symbolische Form politischer Willensbekundung - und umgekehrt 'dekorative Accessoires' der Gesellschaftsgeschichte wie Kunst und Literatur als konstitutive Bestandteile des Sozialen und Politischen - wahrgenommen werden können, ohne dass Zuständigkeitsbereiche und Selbstverständnis der beteiligten Fächer grundlegend revidiert werden müssten. Den zweiten Teil der Tagung kann man auch im Hinblick darauf gespannt erwarten.

Anmerkungen

[1] Im März 2005 wird die Tagung in Hamburg mit einem der Zeit von 1938/39 bis zur Gegenwart gewidmeten Programm fortgeführt.
[2] Vgl. Hübinger, Gangolf: Die „Rückkehr“ der Kulturgeschichte. In: Cornelißen, Christoph (Hg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frankfurt/M. 2000, 162-177, hier 173. - Siehe zur Problematik der Abgrenzung auch: Mergel, Thomas: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) 574-606, hier bes. 585f.
[3] Dazu vgl. Mergels „Umrisse einer Kulturgeschichte der Politik“: Ebenda, bes. 588f.
[4] Nochmals: Ebenda 587 (Politik als „kommunikativer Modus“ nach Luhmann) und 586.
[5] Vgl. Roeck, Bernd: Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003) 294-315, der von einer begrenzten Kenntnis des Faches Kunstgeschichte aus die „Notwendigkeit, eine adäquate Quellenkritik [für Kunstwerke im Kontext historischer Fragestellungen] zu formulieren“ (S. 313), zu erkennen meint. Dagegen sei als ein Beispiel
erfolgreicher interdisziplinärer Kulturgeschichte, die ohne 'turns' auskommt, auf den 'Spezialforschungsbereich Moderne' an der Universität Graz hingewiesen.
[6] Zum Verständnis von Kultur als Geflecht instabiler, von Trägerschichten und -gruppen abhängiger, veränderlicher und mitunter widerspruchsvoller Phänomene: Chartier, Roger: New Cultural History. In: Eibach, Joachim/Lottes, Günther (Hgg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen 2002, 193-205.
[7] Vgl. Koralka, Jiri: Fünf Tendenzen einer modernen nationalen Entwicklung in Böhmen. In: Österreichische Osthefte 22 (1980) 199-213. - Ders.: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815-1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern. Wien, München 1991 (Schriftenreihe des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18). - Ders.: Nationsbildung und nationale Identität der Deutschen, Österreicher, Tschechen und Slowaken um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Hoensch, Jörg K./Lemberg, Hans (Hgg.): Begegnung und Konflikt. Schlaglichter auf das Verhältnis von Tschechen, Slowaken und Deutschen 1815-1989. Essen 2001 (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission 12), 39-54.

Recommended Citation:
Michaela Marek: [Conference Report of:] Deutsch-tschechisch-slowakische Kulturkontakte (Stadtarchiv Prag, Sep 25–29, 2004). In: ArtHist.net, Dec 20, 2004 (accessed Nov 8, 2024), <https://arthist.net/reviews/433>.

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