REV 10.01.2004

Anne Hoormann: Lichtspiele

Rezensiert von Kai-Uwe Hemken

Wer einmal mit interesseloser Neugier an den Regalreihen einer kunsthistorischen Bibliothek entlang wandert, dem werden zunächst wahrscheinlich die Buchrücken schwergewichtiger Publikationen auffallen, welche so einschlägig bekannten Künstlern wie Beuys, Richter, Rubens oder Dürer gewidmet sind. Gemessen an diesen Monolithen der Kunstwelt nehmen sich jene schmalbändigen Bücher geradezu grazil aus, die auf ihrem Rücken oft nicht einmal genügend Platz haben, um einen Titel darauf vollständig unterzubringen. Man mag diese Ordnung wissenschaftlicher Aufmerksamkeit bedenklich finden, ihre Wirkung verfehlt sie jedoch nicht. Denn auch im Unterbewusstsein der Wissenschaften verfestigt sich damit schleichend der Eindruck, dass über die betreffenden Künstler schon alles gesagt sei. Ein breites Aufgebot verschiedener Buchtypen, von der Monographie über den Ausstellungskatalog bis zum Tagungsband, nährt den Verdacht, dass das Es eines interesselosen Erkenntniswillens immer wieder von einem höchst zielgerichteten Über-Ich namens Publikumswirkung überlagert und verdrängt wird.

Dieser einschüchternden Suggestion, dass über alles Große und Einschlägige automatisch auch schon alles gesagt sei, hat die Kunsthistorikerin Anne Hoormann in ihrem Monumentalprojekt "Das Licht in der Kunst der Klassischen Avantgarde" getrotzt. Mutig ist sie in der fundierten Erschließung der Licht-Ästhetik und in der systematischen Ergründung ihres Denkgebäudes voran geschritten. Manche Untiefe und manches Dickicht der Diskurse musste dazu überwunden werden, schließlich aber ist die Autorin auf einer Anhöhe angelangt, von der aus man einen panoramatischen Blick über die Mannigfaltigkeit der Klassischen Avantgarde genießen kann. Den Weg dahin hat Hoormann in einer Habilitationsschrift ausgebreitet, die an der Bauhaus-Universität Weimar bei Karl Schawelka vorgelegt wurde und die nun unter dem Titel "Lichtspiele. Zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik" in Buchform erhältlich ist.

Unter den Kapitelüberschriften "Licht als Medium der Kunst", "Licht und Malerei", "Das Lichtspiel zwischen Film, Musik und Bühne" und "Licht als Massenmedium" hat Hoormann die verschiedenen Sinnfelder des Lichtes in der Kunst und Kultur der 20er Jahre aufgearbeitet. Es handelt sich um die Pionierzeit der modernen Licht-Kunst, die nicht mehr ausschließlich traditionelle Gattungen wie Malerei oder Graphik als Ausdrucksmedien wählte, sondern das Licht selbst als gestaltbares Element zur Anwendung brachte. Keine Geringeren als Laszlo Moholy-Nagy, Ludwig Hirschfeld-Mack und El Lissitzky werden als Kronzeugen dieser neuen Etappe der Kunstentwicklung aufgerufen. Ihr innovatives und zugleich differentes Schaffen unter einem Stichwort zu verbinden, wäre allein schon ein immenses Unterfangen; Hoormann jedoch erweitert ihre Analyse um den kulturgeschichtlichen Blick im weitesten Sinne: Die zeitgenössische Massenkultur (Kino, Lichtreklame, Stadtentwicklung) gehört ebenso hierzu wie die Institutionenkritik (Museum) oder das Verständnis von Licht in den Naturwissenschaften (Physik, Psychologie) und in der 'Populär-Metaphysik' (Okkultismus).

So skizziert Hoormann im ersten Kapitel das gesellschaftliche Umfeld der avantgardistischen Kunst, indem sie nicht nur die Generalkoordinaten der Kulturentwicklung 'Wahrnehmung', 'Licht und 'Geschwindigkeit' benennt, sondern ausführlich auf die verschiedenen Theorien, Theoreme und Thesen der zeitgenössischen Wissenschaft eingeht. Die Quantentheorie von Max Planck, die Relativitätstheorie Albert Einsteins und die Erkenntnisse zum Elektromagnetismus von Michael Faraday fehlen hier ebenso wenig wie die Wellentheorie von Thomas Young und Augustin Jean Fresnel oder die Röntgenmessungen des gleichnamigen Forschers. Deutlich wird die innovative Spannkraft der damalige Forscherszene, deren Arbeit aus dem Blick des naturwissenschaftlichen Laien den Eindruck von Engagement, Ehrgeiz und überhitzter Betriebsamkeit zugleich erweckt.

Hoormann zieht im nächsten Schritt Parallelen zu zeitgenössischen Künstlern wie den Futuristen, dem Expressionisten Wassily Kandinsky und den Konstruktivisten Moholy-Nagy und Lissitzky. Verblüffend sind die von Hoormann aufgezeigten Verbindungslinien zwischen den Naturwissenschaften und den Künstlern, auch wenn sich der eine oder andere Aspekt in der Literatur vielleicht schon angedeutet findet. Während die futuristische Bildästhetik die Verwandtschaft zwischen Kunst und Technik plakativ vor Augen führt, ist bei Künstlern wie Kandinsky oder Lissitzky ein genauerer Blick erforderlich - trotz einer punktuellen Technikbegeisterung oder faszinierten Benennung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in eigens verfassten Schriften der Avantgardisten. Das künstlerische Verständnis von 'energetischen Daseinsweisen' etwa bei Kandinsky wird in seiner konzeptionellen wie ästhetischen Reichweite erst durch das Wissen um die zeitgenössischen 'Lichttheorien' überhaupt verständlich.

Es ist unvermeidlich, dass das Schaffen des Expressionisten sich nicht in diesem Kontext allein erschöpft - wünschenswert wäre zum Beispiel eine Verbindung der von Hoormann herausgearbeiteten Sinndimensionen mit den bereits vorliegenden Erkenntnissen der Kunstgeschichte (etwa der Verweis auf die Technikkritik des Expressionismus oder die Nähe Kandinskys zur Musik) gewesen. Andererseits gerät die Aufarbeitung des naturwissenschaftlichen und kulturellen Kontextes an einigen Stellen so ausführlich, dass die künstlerischen Leistungen der avantgardistischen Helden, zumindest was den Umfang der Ausführungen anbetrifft, manchmal in der zweiten Reihe stehen.

Im Falle jener thematisch gebundenen Kapitel, die eine größere Nähe zu den Kunst- und Kulturwissenschaften aufweisen, verringert sich dieses leichte Missverhältnis aber wieder; Hoormann skizziert darin die paragonistischen Wechselwirkungen von bildender Kunst, Kino, Bühne, Architektur und Lichtreklame. Abgrenzung und Affinität charakterisieren das Verhältnis dieser Konkurrenzmedien, wie die Kunsthistorikerin plausibel aufzeigt und in gleichem Atemzuge verdeutlicht, dass die künstlerischen Tranformationsleistungen von Entitäten weitaus geringer erforderlich sind als bei den Naturwissenschaften. Sie eröffnet zugleich historisch bedingte Paradoxien, wenn sie beispielweise die Kunst des Konstruktivismus sowohl als technikorientierte Entzauberung der Lebenswelten als auch als ästhetisch hochrangige Verzauberung der Industriekultur darlegt.

Hoormann schreitet in ihrer Analyse konsequent voran, indem sie die Vereinnahmung der avantgardistischen Innovationen durch den Nationalsozialismus verdeutlicht. Der sogenannte 'Lichtdom' von Albert Speer ist für Hoormann zu Recht das zentrale Beispiel für eine politische, ideologische Instrumentalisierung des künstlerischen Phänomens 'Licht'. Sie eröffnet einen Blickwinkel, der den 'Lichtdom' sowohl als Teil einer ideologischen Kulturpolitik als auch als eine Etappe in der Geschichte der Lichtkunst betrachtet. Als einen wichtigen Aspekt ihrer Forschung benennt die Autorin - neben den politischen Implikationen einer doktrinären Kulturpolitik - die Verarmung der von ihr aufgezeigten ertragreichen wie experimentierfreudigen Arbeit der Avantgardisten.

Dieses Kapitel stellt jedoch nicht den Abschluss von Hoormanns Darlegungen dar, vielmehr wird der Leser nach dem Abschnitt über die Lichtinszenierung im Nationalsozialismus in die aufblühende Landschaft der künstlerischen Lichtkunst insbesondere der 60er Jahre entführt. Sich auf Deutschland konzentrierend erläutert sie die Konzepte und Werke insbesondere der Gruppe ZERO. Hoormann hat diese Seiten mit 'Epilog' betitelt, so dass hier keinesfalls der Anspruch auf Ausführlichkeit erhoben werden kann, mit der der Leser in den vorangegangenen Kapitel verwöhnt wurde. Trotz dieses relativierenden Hinweises wird, nach Hoormanns erschöpfender Erschließung der Historie und Sinndimension der Lichtkunst und -kultur der 20er Jahre, unweigerlich der Wunsch des Lesers genährt, auch die Lichtkunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der gewohnten Komplexität erläutert zu bekommen. Die Kunstentwicklung nach 1945 im allgemeinen und die der Lichtkunst im besonderen sind von einer konzeptionellen Bandbreite, ästhetischen Vielfalt und internationalen Vernetzung gekennzeichnet, die selbst in einem Epilog nur als summarische Andeutung und Versprechen auf eine zukünftige intensive Darlegung verbleiben muss.

Wenn sich der Leser so manches mal in ein Labyrinth des Wissens entführt fühlt, weil die Autorin ihm die Forschungslage auf das Ausgiebigste vorträgt, so ist dies weniger einer akademischen Detailversessenheit geschuldet. Eher benötigt Hoormann diese Informationsgrundlagen, um ausgetretene Pfade zu verlassen und das Begehren des Lesers nach einem epistemologischen Mehr immer neu zu wecken. Trotz des Willens nach Gründlichkeit in Forschung und Darstellung ist Hoormanns Sprachduktus dabei von einem hohen kommunikativen Gehalt: Keine Selbstgenügsamkeit der Sprache, die es dem Autonomieprinzip der modernen Kunst gleichmachen will; ihre Rhetorik setzt vielmehr auf Partizipation; sie ist damit Ausdruck eines heute selten gewordenen wissenschaftlichen Habitus, der Interesse wecken, Wissen gewinnen und Ideen vermitteln will. Ganz im Stile eines klassischen Disputs lädt die Autorin mit erfreulicher Offenheit zur Beratschlagung ihrer Thesen ein.

Darüber hinaus stellt sich die Studie einer Aufgabe, die nur gegen einen bestimmten Umfang und eine bestimmte Komplexität zu haben ist. Die Einbettung der Kunstgeschichte in die zeitgenössische Kultur, wie sie von der progressiven Kunstwissenschaft seit den 70er Jahren - mit Blick auf die gesellschaftliche Relevanz der Kunstwissenschaft - ultimativ eingefordert wurde, lässt sich spätestens mit Michel Foucault und Jean Baudrillard nicht mehr mit dem Verweis auf die Politik- und Sozialgeschichte - etwa im Kontext der jeweiligen Auftraggebung - beantworten. Ein Verständnis, das die Gesellschaft als ein Flechtwerk verschiedener Wertsphären und ihrer gegenseitigen Beeinflussung begreift, kann auch auf dem Felde der Kunstgeschichte nicht mehr mit linearen Kausalitäten argumentieren. Hoormann hat in ihrer Forschungsarbeit dieser gesellschaftlichen Komplexität Rechnung getragen. Sie zeigt die intensiven Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Funktions- und Erkenntnissphären der Gesellschaft wie Kunst-, Kultur- und Mediengeschichte, Wissenschaften und Technikentwicklung. Die erforderliche Durchdringung dieser Wechselwirkungen hat Hoormann nicht nur erfolgreich geleistet, sondern überdies dargelegt, dass nicht immer eindeutige Kausalitäten vorliegen. Gerade die Klassische Avantgarde, und hier besonders Moholy-Nagy und Lissitzky, zeichnen sich durch eine stete Aufmerksamkeit gegenüber 'kunstfremden Erkenntnissen' aus, die sie als modifizierte Entitäten in ihr Werk transformieren. Kunstgeschichtliche Vorwürfe des Ekklektizismus können hier als Ausdruck eines überkommenen Kunstbegriffs gewertet werden, der der (Avantgarde-)Kunst per se eine strikte Autonomie im gesellschaftlichen Gefüge verordnet hat.

Anne Hoormann hat überzeugend mit der Faszinationsgeschichte der "Klassischen Avantgarde" aufgeräumt. Es ist nicht der postmoderne Rückblick, der eine zweifellos richtige Revision der Moderne im Visier hat, sondern eine post-postmoderne Perspektive auf den Expressionismus, das Bauhaus und den Konstruktivismus. Hoormann zollt der Verquickung der gesellschaftlichen Sphären zwischen Erscheinung und Funktion, Ästhetik und Anwendung, Alltag und Kunst ihren Tribut. Sie birgt gestalterisches wie theoretisches Rohmaterial und wirft einen erfrischend neuen Blick auf bereits bekanntes und verwertetes Erkenntnisgut. Das Buch gehört damit in jede kunstgeschichtliche Bibliothek und in den privaten Bücherapparat der Experten über die Kunst des 20. Jahrhunderts.

Nachwort

Anne Hoormanns Studie über die Medienreflexionen der Avantgarde bleibt als eine außergewöhnliche Leistung zurück, der noch viele weitere überzeugende Arbeiten aus der Feder der Autorin hätten folgen sollen. Anne Hoormann ist im April 2003 völlig unerwartet verstorben. Das Erscheinen ihres Buches hat sie nicht mehr erlebt.

Mit dem fulminanten Werk zur Lichtkunst hat sie der traditionellen Kunstgeschichte neue Aufgabenfelder zugewiesen. Zugleich wird in ihrer Arbeit auch das kritische wie mutige Engagement sichtbar, für das wir sie so sehr geschätzt haben und das uns in Erinnerung bleiben wird.

Hoormann, Anne: Lichtspiele. zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik, München: Wilhelm Fink Verlag 2003
ISBN-13: 978-3-7705-3770-9, 369 S

Empfohlene Zitation:
Kai-Uwe Hemken: [Rezension zu:] Hoormann, Anne: Lichtspiele. zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik, München 2003. In: ArtHist.net, 10.01.2004. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/43>.

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