Die Dresdner Antikensammlung gehört zu den ältesten und bedeutendsten im nördlichen Europa. Winckelmann, Lessing, Herder, Friedrich Schlegel, Goethe, Napoleon bewunderten sie. Als Karl August Böttiger die erste europäische archäologische Fachzeitschrift in Dresden herausgab, konnte er noch 1820 die Angemessenheit dieses Ortes mit dem Verweis auf die eminente Dresdner Sammlung rechtfertigen: „Dresden bietet also, wenn von der bildlichen Alterthumskunde die Rede ist, in Deutschland die vollständigste ächteste Anschauung dar.“ („Amalthea“, Bd. 1, S. XIV) Den Kern der Dresdner Sammlung bilden die in dem vorliegenden zweibändigen Katalog publizierten Idealskulpturen der römischen Kaiserzeit. Im 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19., in einer Zeit, in welcher der Zugang zu originalen griechischen Werken durch vielerlei Hindernisse erschwert war, vermittelten diese Skulpturen einen umfassenden Eindruck von den Gipfelleistungen der griechischen Kunst. Mit der museographischen Landschaft veränderte sich der Blick auf die Sammlung, so dass diese Kopien griechischer Werke heute auch und vor allem in ihrer Entstehungszeit gesehen werden. Aufgrund dessen, dass die Dresdner Antiken in der frühen Neuzeit in Rom gefunden worden sind, stehen die Objekte in einem komplexen Überlieferungs- und Sinnzusammenhang. Bereits in der römischen Antike erfüllten all diese Werke die nämliche Funktion, so dass sich der Katalog als „ein kleines Kompendium zur römischen Ausstattungsskulptur“ (Bd. 1, S. X) verstehen darf. Diese dekorative Funktion erfüllten die noch in Rom barock ergänzten Werke in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach ihrer Ankunft in Dresden erneut. Allerdings hatten die Ergänzungen den Charakter der einzelnen Werke vollkommen verändert, so dass deren Entfernung bereits im 18. Jahrhundert gefordert, doch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter Georg Treu in großem Maßstabe vorgenommen worden ist.
Dem historischen Gestaltwandel der Antiken trägt der neue Katalog Rechnung. Es ist ein Glücksfall, dass im Albertinum nicht nur die entrestaurierten Antiken selbst, sondern auch die von ihnen abgenommenen Ergänzungen überliefert sind, so dass mit dem vorliegenden Katalog, der die materielle Überlieferung in ihrer Komplexität berücksichtigt, nicht nur denjenigen Archäologen und Kunsthistorikern, die über die Rezeption der griechischen Antike und die Kunst der römischen Antike arbeiten, sondern auch den Kunsthistorikern, die über den Barock sowie über den auf diesen kritisch antwortenden Klassizismus forschen, ein wichtiges Arbeitsmittel in die Hand gegeben wird.
Zwei Essais von Kordelia Knoll geben einen Überblick über die dahingehenden Problemkreise. Knoll legt nicht nur eine sehr konzentrierte, neueste Forschungen verarbeitende und neue Erkenntnisse darbietende „Geschichte der ‚Churfürstlichen Antiken-Galerie in Dresden‘“ vor, sondern liefert als deren Ergänzung eine spezifische Abhandlung über den „Umgang mit den Antikenergänzungen in Dresden“. Beide Aufsätze bilden den Rahmen zu Frank Martins Arbeit zu den „Antikenergänzungen in der Sammlung Flavio Chigi“, welche mit einem die am Verkauf und an der Ergänzung der Antiken beteiligten Künstler erfassenden Dokumentenanhang versehen ist. Durch die Auswertung der hier zusammengestellten Quellen dringt Martin über den Erkenntnisstand älterer Forschungen weit hinaus. So tritt uns insbesondere der Bildhauer Baldassare Mari, ein Schüler Berninis, der es sich nicht versagen konnte, seinen Meister in den Antikenergänzungen zu zitieren, als bedeutende Künstlerpersönlichkeit vor Augen. Die barock ergänzten Dresdner Antiken waren gleichermaßen entstellte und verfälschte Antiken und barocke Meisterwerke.
Die ein Nebeneinander einander ausschließender historischer Standpunkte zulassende polyperspektivische Sicht auf die Überlieferung, auf welche wir durch die einleitenden Aufsätze eingestimmt werden, wird in den einzelnen Beiträgen des eigentlichen Katalogs beibehalten und intensiviert. Deren Autoren sind namhafte Archäologen und Kunsthistoriker: Dietrich Boschung, Jens Daehner, Wilfred Geominy, Huberta Heres, Kordelia Knoll, Frank Martin, Stefanie Oehmke, Joachim Raeder, Stephan F. Schröder, Friederike Sinn, Christiane Vorster. Dass in diesem Katalog die gängigen wissenschaftlichen Standards aufrechterhalten werden und die von einer Beschreibung eines Objekts erwarteten Angaben geliefert werden, versteht sich also von selbst. Die eingehenden Objektanalysen sind umfassend und werden ergänzt durch zahlreiche Bilder. Bei letzteren handelt es sich um Reproduktionen älterer bildlicher Darstellungen sowie vor allem um fotografische Neuaufnahmen der Objekte. Die einzelne Plastik wird nicht auf eine einzige Ansicht reduziert. Auf diese Weise eröffnet der Katalog immer wieder neue Blicke auf bekannte Werke.
Angesichts der Tatsache, dass die mehrreihig hinter Glas zusammengedrängten Dresdner Antiken derzeit ausgesprochen schlecht ausgestellt sind, kann man sie mithilfe dieses Katalogs besser kennenlernen als bei einem Besuch des Albertinums. Die Neuaufstellung der Antiken im Jahre 2017 wird von den in vorliegendem Werk gewonnenen Einsichten profitieren können. Aufgrund der herausragenden Bedeutung der Dresdner Antiken in ganz unterschiedlichen Epochen der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte sollte dieser auch buchgestalterisch gelungene und obendrein preiswerte Katalog zur Grundausstattung einer jeden archäologischen oder kunstgeschichtlichen Bibliothek gehören. Da die Auflage von 2011 in kürzester Zeit vergriffen war, ist seine Neuauflage notwendig.
Knoll, Kordelia; Vorster, Christiane; Woelk, Moritz (Hrsg.): Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Katalog der antiken Bildwerke, Band II 1-2. Idealskulptur der römischen Kaiserzeit, München: Abegg-Stiftung 2011
ISBN-13: 978-3-7774-3051-5, 2 Bände, XII, 1153 S., 16 Farbtafeln und 1394 Abb., EUR 98.00
Recommended Citation:
René Sternke: [Review of:] Knoll, Kordelia; Vorster, Christiane; Woelk, Moritz (Hrsg.): Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Katalog der antiken Bildwerke, Band II 1-2. Idealskulptur der römischen Kaiserzeit, München 2011. In: ArtHist.net, Nov 20, 2012 (accessed Oct 10, 2024), <https://arthist.net/reviews/4265>.
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