„Die Figur in den Bildkünsten. Zwischen Zeichen und Material (1450-1750)“. Ein Workshop des Instituts für angewandte Kunst- und Bildwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal, Einsiedeln, Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, 25. – 27. Juli 2024
An der von Maximilian Geiger (Konstanz) konzipierten und organisierten Tagung konnte der Verfasser als Mitglied der veranstaltenden Wuppertaler Institution im Publikum teilnehmen. Über inhaltliches Konzept und Programm der Tagung hat Geiger auf diesen Seiten bereits im Juni informiert, darauf sei verwiesen (https://arthist.net/archive/42044).
Seit einigen Jahrzehnten rückt das Zusammenspiel von Figuration und Figur, die Frage, wie materielle Form und Gestaltung des Werks und Motivs als eigene Ausdruckswerte mit inhaltlichen Aspekten der Darstellung vielschichtig und komplex interagieren, verstärkt in das Augenmerk der Forschung. Was von verschiedensten Seiten bewunderungswürdig theoretisch durchdrungen ist, könnte freilich im Zusammenwirken von intellektueller Schärfe, sinnlicher Intelligenz und klarer Sprache noch größere Breitenwirkung im Fach gewinnen. Die Tagung in Einsiedeln bot einen bunten Strauß von Einzelstudien, immer auf die methodische Fragestellung zugespitzt. Verbindungslinien zwischen den Beiträgen wurden vereinzelt in Diskussion und Randgespräch gezogen. Die folgenden knappen Notizen zu den Vorträgen können dem kaum gerecht werden, sind stark vereinfachend und subjektiv.
Dürers früher Kupferstich mit „Hieronymus in der Wüste“ ist berühmt für die auf Schöpferkräfte der Natur verweisende phantastische Strukturierung der Felsmotive, die anthropomorphe Formen erscheinen lassen. Simon Breitenmoser (Zürich) machte in faszinierender Lektüre auf ein bislang übersehenes Detail bei Dürers Monogramm aufmerksam: Dieses legt sich über Kratzspuren, die wie von der nahen Löwenpranke im Felsenboden verursacht scheinen. Der genaue Blick erkennt, wie eine der Krallen spitz vorragt. So wird selbstreferentiell auf Instrument und Tätigkeit des Kupferstechers selbst verwiesen. Breitenmoser verfolgte solche Anspielungen in Dürers weiterem Werk, im Kupferstich „Hieronymus neben dem Weidenbaum“ wirkt Dürers Signatur wie in eine Felsfläche eingegraben, anderswo krümmen sich Finger wie Kratzwerkzeuge. Darf man bei dem frühen „Hieronymus“ noch weitergehen als Breitenmoser, blickt der Löwe mit ungehaltenem Ausdruck auf die Signatur des Kratzkonkurrenten?
Am Beispiel von Holbeins „Gesandten“ untersuchte Sandra Hindriks (Wien) die nicht nur motivische Nähe der Schädelanamorphose mit Gedanken von Vanitas und Vergänglichkeit, spielt der Schädel als optische Täuschung doch mit Grenzen der Repräsentation und zugleich unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Formfiguration und Figurenfiktion oszillieren. Menschliche Erkenntnis gerät an Grenzen. Gedanken Roland Krischels aufnehmend brachte Hindriks die Anamorphose Holbeins mit den Totenkopfdarstellungen auf Rückseiten der beweglichen Flügel von Porträtdiptychen in Zusammenhang: Beim Öffnen und Schließen erscheinen sie perspektivisch verzerrt, Holbein könnte durch den Gebrauch derartiger Bildobjekte zu seiner Anamorphose inspiriert worden sein.
Zofia Jackson (Zürich) stellte am Beispiel der im späten 15. Jahrhundert im höfischen Europa weit verbreiteten Troja-Bildteppiche ein ungemein komplexes Beieinander, Zusammenspiel und auch Kontrastieren von Text und Bild vor. Antike Quellen, mittelalterliche Adaptionen in französischen und lateinischen Beischriften, identifizierende Namenangaben werden unterschiedlich in den Darstellungen der Teppicherzählung berücksichtigt. Dabei begegnen auch Irrtümer, Missverständnisse, bewusste Veränderungen und Widersprüche. Entwicklungen über verschiedene Planungsphasen und Ausfertigungen bilden aus all dem ein höchst dichtes Geflecht von die Darstellungen durchwebenden Faktoren. Im genauen, exemplarischen Blick bot Jackson für Untersuchungen der burgundisch-französischen Teppichproduktion ein neues Anspruchsniveau von bewunderungswürdiger Sorgfalt.
Ins Zentrum der Darstellungskunst von Niklaus Manuel Deutsch führte der mit Beobachtungs-, Analyse- und Versprachlichungsfähigkeit glänzende Vortrag von Markus Rath (Trier). Inhalte des Dargestellten wirken durch Ausdruckspotential von freiem Linienspiel, von Farben und Malmaterial. Figur und Figuration verbanden sich in Niklaus Manuels Zeichnungen und Malereien zu großer affektiver Wirkungsdichte. Der Hinweis auf selbstreferentielle Qualitäten der Darstellungen ermunterte die anschließende Diskussion zu gewagten Thesen. Spiegelt Manuel etwa in seiner Baseler „Enthauptung des Täufers“ das prominent in der Mittelachse angebrachte Namenssignet aus Buchstabenformen und Schwert genau darunter in einer Figuration von Henkerpose, Himmelsbogen und liegender Waffe zu einer Selbstaussage über furioses, schrankenloses Künstlertum?
Janina Burandt (Konstanz) bezog in die sorgfältige Analyse von Valentin de Boulognes Madrider „David mit dem Haupt Goliaths“ vom Künstler im Malprozess vorgenommene Übermalungen mit ein. Wie technologische Untersuchungen sichtbar machten, wurde Goliaths Stirnwunde von Valentin nachträglich durch Haare zu ikonographischer Verdunklung verdeckt, wurde der schöne, androgyn verrätselte biblische Held durch Entblößung der nackten Schulter erotisiert. Auch wenn Bibelexegese eine inhaltliche Konkretisierung der gezeigten Handlungssituation nahelegen könnte, dominiert doch eine im Caravaggio-Kreis willkommene gewisse Ambiguität.
In die künstlerische Welt deutscher Zeichenlehrbücher des 18. Jahrhunderts führte Alina Wolf (Wuppertal) mit ihrer vergleichenden Analyse von Tafeln der Augendarstellungen bei Johann Daniel Preissler und Georg Heinrich Werner. Anordnung und Gestaltung der Augenmotive zeigten nicht nur didaktische Ansprüche, sondern auch ästhetische, denen Wolf mit eigenem Künstlerblick nachspürte. Bei Preissler scheinen den aufgereihten Augen sogar wechselnde Ausdrucksqualitäten zugeordnet, in denen sich mühsam lernende Zeichenschüler emotional wiedererkennen mochten. Die Texte, mit denen der Lehrpraktiker Preissler seine Tafeln ergänzte, blieben hinter solchem Gehalt der Grafiken weit zurück.
Ulrich Heinen (Wuppertal) öffnete ein neues anschauliches Verständnis von Rubens‘ verschiedenen Fassungen der „Caritas Romana“, Darstellungen der den gefangenen Vater mit ihrer Muttermilch nährenden Tochter. Die konkrete malerische Gemachtheit der gezeigten Körper verhilft ihnen zu lebendiger individueller Präsenz – Heinen hat schon vor Jahrzehnten für Rubens‘ Körperkunst den treffenden Begriff der „Malphysiologie“ geprägt. Die Malerei enthüllt bei der „Caritas Romana“ dabei nicht nur tiefes Naturverständnis für Haut- und Körperformen, sondern deutet sogar auf lebensreformatorische Ziele der vielschichtig wirkenden Künstlerpersönlichkeit. Heinen ordnete sein Beispiel in einen knappen wie dichten, faszinierenden Überblick über die Entwicklung des „fingere“ von Figur und Figuration bei Rubens. Schlagwortartig seien etwa geometrische Körperkonstruktion, Collagetechnik von Vorlagen, Imaginationsanregung durch komposite Skizzenblätter, Studium von Passionen und Affektfiguren oder auch Sensibilität für Klangeffekte von Textquellen genannt. Schon früh überwand Rubens so die ingeniöse Kombinatorik von Schemata zugunsten eines freien Figurentheaters von Charaktergestalten.
Philippe de Champaignes „Flucht der hl. Familie nach Ägypten“ bietet eine Flächen- und Tiefenkomposition mit eigentümlicher bildparalleler Bewegungsrhythmik. Maximilian Geiger suchte sie nicht nur in ihrer narrativen Dimension, sondern auch mittels zeitgenössischer Geometrie- und Perspektivlehre (Girard Desargues) zu verstehen. Farbgestaltung und Landschaftsöffnung nutzte Geiger für Überlegungen, die ursprüngliche Position des Gemäldes in Val de Grâce, im zweiten Appartement der Anna von Österreich genauer als bisher zu rekonstruieren. Bildthema und seine farbliche Gestaltung ließen sich hier vor dem politischen Hintergrund der Fronde, der Flucht der königlichen Familie 1649, deuten. Die Diskussion ergänzte einen möglichen vertieften religiösen Gedanken: Die statuenhaft ideale Gestalt Josephs mit Christusphysiognomie trägt geschultert ein Holz. Ist hier als Vorausschau auf Christi Kreuztragung alludiert? Erscheint die Rettung des Kindes in der Flucht so als kontrastierende Voraussetzung für den späteren Gang zur Erlösungspassion?
Der venezianischen Zeichenkunst der Renaissance widmete sich Claudia Reufer (Berlin) am Beispiel von Tizians „Umarmendem Paar“ in Cambridge. Die Charakteristika und Ziele des mittelitalienischen Disegno greifen hier nicht, die Darstellung entsteht unmittelbar in offenem, changierendem Leben von freiem, wie suchendem Linien- und Formenspiel. Das Motiv der Körperumarmung materialisiert sich dabei auch im Ausdrucksgehalt der Figuration, wo sich Eigenarten von Stich und Papierstruktur verschmelzend durchdringen. Die Zeichnung entstammt nicht dem Vorbereitungsprozess eines Gemäldes – so Reufer. Wenn das Blatt aber ein frühes Beispiel für autonome Zeichnung als Sammlerobjekt ist, reflektiert nicht auch seine Darstellung einer erotischen Umarmung diese neue Funktion? Der männliche Kunstliebhaber nimmt das begehrte Blatt besitzergreifend mit den Händen auf, beugt sich darüber, um sich in Darstellung und Struktur sinnlich genießend zu versenken.
Die wünschenswerte Publikation der Tagungsakten ist angekündigt. Glücklich, wer Vorträge und Diskussionen in der Bibliothek Werner Oechslin selbst erleben konnte. Es ist ein Ort einer zu verschwinden drohenden Wissenschaftswelt, wo Denken entstehen kann und gelenkt wird in einer einzigartig inspirierenden Atmosphäre von materialisiertem Wissen und Suchen, von Buch und Wort, von Bau, Bild und Natur, einem Gesamtkunstwerk aus unerschöpflicher Gelehrsamkeitstradition, ästhetischem Geschmack, kultivierter, fordernder Gediegenheit und gelassener Großzügigkeit.
Empfohlene Zitation:
Michael Rohlmann: [Tagungsbericht zu:] Die Figur in den Bildkünsten. Zwischen Zeichen und Material (1450-1750) (Einsiedeln, Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, 25.–27.07.2024). In: ArtHist.net, 07.09.2024. Letzter Zugriff 29.11.2024. <https://arthist.net/reviews/42473>.
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