Das Universum von Schuld und Schulden – „Monte di Pietà“ von Christoph Büchel.
Man betritt den Palazzo, der als Sitz der Fondazione Prada in Venedig fungiert, über einen Seiteneingang, um sein Billett zu lösen. Und schon ist man in jener erdachten Welt, in welcher seit kurzem, wie leicht festzustellen ist, der Insolvenzverwalter das Sagen hat. Das Pfandleihhaus „Queen of Pawn. House of Diamonds“, das hier seinen Sitz gehabt haben soll, ist offenbar bereits vor einiger Zeit in Konkurs gegangen. Der Palast, der von 1834 bis 1969 historisch tatsächlich eine Filiale des christlichen, in Italien ehemals weit verbreiteten Kreditinstituts „Monte di Pietà“ beheimatet hat, sowie das gesamte bewegliche Hab und Gut des aktuellen, durch Künstlerhand etablierten Pfandhauses stehen anscheinend zum Verkauf.
Entsprechend laut wird an der Fassade für die „liquidazione totale“ geworben. „Alles muss raus“, heißt es lakonisch. Bereits im Vestibül, wo die verbliebenen Angestellten die Besucher in dunkelblauen Poloshirts mit dem QOP-Firmenlogo empfangen, wird der Niedergang des Geschäfts deutlich: Staubige Regale, gefüllt mit Anzeigenblättern der Immobilienwirtschaft, weitgehend leere Schränke mit billigen Silberpokalen und Kopien figürlicher Antiken umrahmen den Tresen. Alles ist verblüffend spartanisch eingerichtet und daher kaum das erträumte Entree in einen Palast. Die Verblüffung über die Welt, in die die Besucher, denen mit Betreten des Hauses die Rolle eines Kaufinteressenten zugedacht ist, sich anschließend versetzt sehen, wird sich fortan von gelinder Verwirrung zu Überraschung und mächtigem Erstaunen steigern, das nach und nach in Bewunderung für eine künstlerische Arbeit münden wird, die man auf der Suche nach einem passenderen Begriff zunächst als immersive Installation bezeichnen kann.
Künstlerisches Labyrinth
Über drei Geschosse und mehr als zwanzig Gemächer, Zimmer und Säle hin hat der Schweizer Konzeptkünstler Christoph Büchel unter dem Titel „Monte di Pietà“ („Berg der Barmherzigkeit“) ein Universum aus tausenderlei bezeichnenden Gegenständen erschaffen, das auf vielen unterschiedlichen historischen, kulturhistorischen und künstlerischen Ebenen das Thema Schuld und Schulden, Glauben und Kredit als eine der finanzpolitischen Grundlagen der seit der Frühen Neuzeit prägenden Weltordnung des Kapitalismus verhandelt.
Beim Empfang steht das vormalige Klingeltableau, elegant aus Marmor und Messing gefertigt. Wer die dort eingravierten Namen liest, hat bereits eine Art Übersicht über die diversen Abteilungen, auf die er in der Folge stoßen wird. Als intellektuellen Stichwortgeber für seine Arbeit hat Büchel darauf „D. Graeber“ verzeichnet. David Graeber war ein US-amerikanischer Ethnologe und Kulturanthropologe, Aktivist, Initiator der Occupy Wall Street-Bewegung und Verfasser eines Standardwerks über das Kreditwesen („Schulden. Die ersten 5000 Jahre“). Es handelt von der „Schulden-Versklavung“ des Menschen durch die Einführung des Münzgeldes und deren bis heute gezeitigten, nicht zuletzt moralischen Folgen dieses Systems von Schuld und Schulden. Der Künstler setzt Graeber hier zugleich im Nebenbei ein Denk- und Erinnerungsmal, da der Wissenschaftler im Jahr 2020 – während einer Ferienreise – in Venedig verstorben ist.
Anstelle einer trockenen Thesenausstellung versteht es Büchel aber, seinen Gegenstand über charakteristisch gestaltete Räume und ihre Objekte sprechen zu lassen. Im Erdgeschoß zählen darunter der Auktionssaal nicht abgeholter Pfandstücke mit seinem abgewetzten Mobiliar sowie der gleich links vom Eingang „Banco Alimentare“ überschriebene Raum, der als christliche Lebensmittel-Bank alias Tafel fungiert und die Bedürftigen mit Lebensmitteln versorgt hat. Die Regale sind weitgehend leergefegt und künden vom Ende einer christlich-sozialen Einrichtung. Gegenüber türmen sich die Überreste gesprengter Geldautomaten. Das Geld ist auch in diesen öffentlichen Tresoren nicht sicher verwahrt und fällt Kriminellen in die Hände. Ein paar Schritte weiter steht ein „außer Betrieb“ befindlicher Geldautomat der Banco rosso, der ältesten Bank im venezianischen Ghetto.
Gleich gegenüber befindet sich eine schlecht beleuchtete Kapelle mit einem Altar und darauf ein Golgatha-Hügel aus Schutt. Ungewöhnlich sind die vielen Prothesen und Rollstühle an Wand und Decke. Sie ähneln Votivgaben und stellvertreten jenes Versprechen der Wunderheilung. Das hölzerne Confessionale markiert ebenso die Hoffnung einer Vergebung von Sünde und Schuld. Vis-a-vis liegt ein Raum, den ein zweisprachiges Schild als „Museo del Debito e della Guerra/Museum of Debt and War“ ausweist. Zerborstene Säulen- und Pfeilerstümpfe, aus denen die Stahlarmierung herausragt, künden vom Krieg. Erfahrbar wird der Zusammenhang, wenn für kurze Zeit die elektrische Glühbirne erlischt, man sich im Dunkeln wiederfindet und kaum wagt, sich zu bewegen. Im Hintergrund sind eine Anrichte mit diversen Shisha-Pfeifen und Glaskaraffen sowie ein billiger Plastiktisch mit zwei Sesseln zu sehen. Auf dem Tisch ein begonnenes Schachspiel. Neben dem Eingang aufgeschichtet Zementsäcke des führenden israelischen Zementherstellers Nesher. Die Anspielungen auf den Gaza-Krieg, eingestürzte Bauten und Schutzräume sowie einen möglichen Wiederaufbau sind deutlich.
Alles geschieht beiläufig, vieles erschließt sich erst auf den zweiten Blick, der nach inhaltlicher Orientierung und Zusammenhang sucht. Aber ohne Geduld und Neugier geht es nicht. Auf dem Tisch der Toilettenfrau liegen neben einem laufenden Minifernseher ein Porzellanteller für das Trinkgeld und eine Ausgabe der „Vogue Italia“. Aufgeschlagen wurde eine Doppelseite mit einem Porträt von Miuccia Prada, die gerade auf einem eleganten Sofa ihrer Wohnung im obersten Stock der Ca‘ Corner della Regina Platz genommen hat, jenem Palazzo, in dem man sich gerade befindet.
Die Räume des Erdgeschosses werfen Fragen von Geld und Armut, Krieg und Zerstörung auf. Büchel spiegelt hier die Außenwelt. Dagegen wird im Stockwerk darüber, dem Mezzanin, eher die Innenwelt dubioser Geldgeschäfte ausgeleuchtet. Hier folgen eine Spielbank, eine Pokerstube, ein Nachtclub, ein Billardsaal, eine Bar, ein Studio für Tiktok-Videos, ein Zimmer für das Mining einer neuen Kryptowährung namens „schei“ (venezianisch für Geld), eine Monitorwand mit Livebildern aus aktuellen Kriegsgebieten, eine Videospiel-Playstation und ein unbesetzter Raum mit Überwachungs-Aufnahmen des Erdgeschosses. Auf diesem Parcours rückt die digitale und virtuelle Welt des Geldes in den Blick.
Kunst- und Wunderkammer
Im nächsten Stockwerk, dem mit Stuck und Fresken ausstaffierten Piano nobile, befindet sich die eigentliche, hier vormals auch real angesiedelte Pfandleihe. Die Schalter sind durch schmiedeeiserne Gitter geschützt. In den Regalen gibt es Bücher, Spiele und Vasen, Haushaltsgegenstände und Möbel, Kleidung und Spielzeug, Gold- und Silberwaren und dergleichen Krimskrams zu kaufen, sämtlich übriggebliebene Pfand-Objekte. Stutzig wird man bei den Gegenständen von kunst- oder kulturhistorischem Wert. Wie hat sich ein Porträt der Caterina Cornaro von Tizian aus den Uffizien hierher verirrt, wie ein Pietro Longhi-Gemälde seines Venedig-Zyklus, was macht eine kreidebeschriftete Schultafel zum „erweiterten Kunstbegriff“ von Joseph Beuys an dieser Stelle, was ein Goldbarren-C-print von Thomas Demand oder das TV-Commercial „Full Financial Disclosure“ (1977) von Chris Burden, in dem er öffentlich seine monatlichen Geschäftsausgaben verhandelt?
Es finden sich hier verstreut zahlreiche weitere Werke der jüngeren oder zeitgenössischen Kunst, mehr oder weniger anonym eingeschmuggelt in das Universum der Pfandleihe. Sämtlich handeln sie direkt oder indirekt von Geld und Schulden, Bankrotten, Geldvernichtung oder Autodafés, darunter Arbeiten von Marcel Duchamp und Giacomo Balla, John Baldessari, Richard Serra und Carlota Fay Schoolman, Santiago Sierra, Theaster Gates, Les Levine, Wim Delvoye, Michael Landy, Robert Filliou, Marcel Broodthaers, The K Foundation, Edward Kienholz, James Hampton und Cildo Meireles. Keines dieser Werke drängt sich auf, aber alle warten darauf „erkannt“ und in den größeren Kontext jener historischen und intellektuellen Konfigurationen und Konfrontationen von Büchels Konzept gestellt zu werden.
Das Zentrum der gesamten Installation tritt in einer der vielen Vitrinen eines Verkaufstresens in Erscheinung: Büchels eigenes „The Diamond Maker. The Estate“. Diamanten blitzen auf, die in einem eleganten Prada-Lederkoffer mit vier geöffneten Schubladen und an der Seite von silbern glänzenden Handschellen präsentiert werden. Büchel hat im Jahr 2020 begonnen, die in seinem Besitz befindlichen eigenen Werke durch Pyrolyse und Graffitisierung in Labor-Diamanten umwandeln zu lassen. Die Schweizer Firma Algordanza, „Experten für Diamantbestattungen“, wandelt seine Arbeiten, angefangen mit den Kinderzeichnungen, nach und nach in synthetische Edelsteine. Im Koffer werden sie in Reih und Glied mit jeweils kurzer Objektbeschriftung präsentiert. Dabei sind für künftige Werke noch unbesetzte Felder auszumachen – ein Gesamtkunstwerk „in progress“.
Der Ur-Edelstein des Anstoßes aus dem Jahr 2021 wird separat in einem Schächtelchen samt Zertifikat ausgestellt. Versichert wird darin, dass „sowohl der Kohlenstoff als auch der erzeugte hexagonale Graphit, der für die Herstellung des HPHT-Diamanten 21-SD-11299 sowie der für die zukünftige Produktion benötigten Saatdiamanten aus dem Kot von Christoph Büchel stammt.“ Jetzt versteht man, warum draußen vor dem Palast ein „House of Diamonds“ annonciert wird und warum ganz in der Nähe des Diamantenkoffers sechs Konservendosen der „merda d’artista“ Piero Manzonis aus dem Jahr 1961 gezeigt werden. Der italienische Konzeptkünstler hat die neunzig 30 Gramm-Dosen zu einem damals dem Gewicht korrelierenden Goldpreis zum Verkauf angeboten.
Mit einem Augenzwinkern hat der Künstler seine diamantene Werkübersicht in der Nähe zweier anderer künstlerischer Kisten- und Kofferobjekte platziert: Marcel Duchamps „La Boîte-en-valise“ mit den Nachbildungen und Reproduktionen seines ausgewählten Werks, eine Box, die in erster Ausführung 1941 entstanden ist, sowie eine von mehreren Hundert „Time capsules“, in denen Andy Warhol ab 1974 konsequent alles was über seinen Schreibtisch ging als biographische und zeithistorische Dokumente gesammelt und verschlossen hat. Duchamp, Warhol, Büchel lautet hier, unauffällig arrangiert, die Trias der Großmeister eines Œuvres, das jeweils en miniature beziehungsweise in Boxform gestaltet ist.
Eine Maßgabe der grandiosen Schuld- und Schuldenschau im Kontext von Kunst, Kultur und Geschichte lautet erkennbar, die Betrachter nicht zu bevormunden, sich die Räume und die darin befindlichen Dinge selbst aussprechen und denken zu lassen, um das vielgestaltige und rhizomatische Beziehungsgeflecht der inhaltlichen Verknüpfungen vor Augen zu stellen. Die Korrespondenzen des von Büchel geschaffenen kultur- und finanzpolitischen Zeichensystems kultureller Objekte sind schier unerschöpflich. Dem Betrachter ist es aufgegeben, die dargebotenen Konstellationen im historischen und theoretischen Sinn mittels Anschauung zu begreifen.
Es sollte klar geworden sein, dass es viel Zeit braucht, die ungemein anregende Schau „Monte di Pietà" zu besichtigen. Sie plädiert für Langsamkeit und trägt damit dazu bei, das durchschnittliche Tempo, mit dem Ausstellungen häufig durchstreift werden, zu unterbieten. Und sie legt darüber hinaus mit Nachdruck klar, dass Kunst, ohne sich zu verbiegen, einen hervorragenden Beitrag zur Diskussion gesellschaftlicher Fragen leisten kann. Büchel vermag als Künstler, sein Werk mit leicht ironischer Distanz zur eigenen Person zu kuratieren, selbst in einem Palast, dessen Vorgängerbau im 15. Jahrhundert als Bewohnerin bereits Caterina Cornaro, spätere Königin von Zypern, gesehen hat und der in der Nachfolge heute Miuccia Prada als Hausherrin nennt.
Empfohlene Zitation:
Michael Diers: [Rezension zu:] Christoph Büchel, Monte di Pietà, Venedig (Fondazione Prada, Venedig, 20.04.–24.11.2024). In: ArtHist.net, 04.07.2024. Letzter Zugriff 27.11.2024. <https://arthist.net/reviews/42267>.
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