Inszenierungen der Küste
Tagungsbericht von den VeranstalterInnen Norbert Fischer, Susan Müller-Wusterwitz, Brigitta Schmidt-Lauber
Das interdisziplinäre Symposium „Inszenierungen der Küste“ versammelte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher natur- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen, um die durch verschiedene Akteure konstruierten Bilder und Vorstellungen der Nordseeküste im Sinne symbolischer, mentaler und materieller Repräsentationen zu diskutieren [1]. Die Vorträge des ersten Tagungsblocks widmeten sich übergeordneten Fragen zur Konstruktion der Küste. Der Biologe Hansjörg Küster (Hannover) skizzierte in seinem einführenden Vortrag über „Die Entwicklung der Küstenlandschaft an der Nordsee“ die naturkundlichen Voraussetzungen für die Ausbildung der Küstenlinie. Die Küstenlinie in der Deutschen Bucht wird durch die Punkte festgelegt, an denen eiszeitliche Gesteinsablagerungen der Geest bis an das Meer vorstoßen: in den nordwestlichen Niederlanden, im südwestlichen Jütland und an der Altenwalder Geest bei Cuxhaven. Küsterschilderte die von den Abbruchkanten der Geest ausgehende Bildung von Nehrungen, Barriereinseln und Sandbänken (Platen), deren Form von der Stärke des Gezeitenhubs bestimmt wird. Anhand von Wattflächen und Salzwiesen, die sich hinter den sandigen Nehrungen bildeten und eingedeicht zu fruchtbaren Marschen wurden, beschrieb Küster das Erscheinungsbild der Küstenlandschaft als Ergebnis des jahrhundertlangen Zusammenwirkens von Mensch und Natur.
Der naturkundlichen Perspektive schloss sich der Vortrag des Germanisten Ludwig Fischer (Hamburg) zum Thema „Naturlandschaft, Kulturlandschaft - Zur Macht einer sozialen Konstruktion am Beispiel Nordseeküste“ an. Fischer zeigte auf, dass das jeweilige wissenschaftliche, touristische oder künstlerische Verständnis von „Landschaft“ in höchstem Maße ein soziales Konstrukt und Ergebnis der Definitionsmacht einzelner Akteure bzw. Gruppen ist. Somit bleibt auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Landschaft unaufhebbar eingebunden in die nicht nur „symbolischen“ Kämpfe, die es - offen oder verdeckt - um die Durchsetzung der „Realkategorie Landschaft“ gegeben hat. Beispielhaft veranschaulichte Fischer die Konstitution von „Landschaft“ an den politischen Konflikten und sozialen Auseinandersetzungen um Naturschutzgebiete.
Die Frage, wie spezifische Bilder der Küste geschaffen und touristisch vermittelt werden, bildete das Vortragsthema des Geographen Jürgen Hasse (Hannover). Er untersuchte die Nordseeküste als „Die touristische Konstruktion einer ’besseren Welt‘. Zur kultursoziologischen und sozialpsychologischen Codierung einer Landschaft“. Auf Basis der Analyse gedruckter Werbeträger stellte Hasse die sich hier entfaltenden „Erlebnisschablonen“ vor, wobei die Verknüpfung zwischen Texten und Bildern eine besondere Rolle spielten. Als eines der Instrumente der Werbung stellte er erotisch konnotierte weibliche Figuren in einem lokalen Setting vor, die suggerieren, dass die Küste mehr verspreche als nur Meer und Strand. Tourismus wird auf diese Weise zur „Industrie der Imagination“, wobei die einzelnen Seebäder auf differenzierende „Alleinstellungs-Merkmale“ achten. Diesem Zweck dient beispielsweise die Darstellung von Naturlandschaft und Regionalkultur sowie des Sport- und Freizeitpotenzials in den Werbeträgern.
Im zweiten Tagungsblock stellten Referenten Fallbeispiele zu Projektionen, Imaginationen und Repräsentationen der Küste vor. Die Historikerin Marie Luisa Allemeyer (Göttingen) referierte unter dem Titel „.dass man dem grausam Toben des Meeres nicht etwa kann Widerstand thun mit Gewalt´. Eine Diskussion um Deiche und Dünen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“. Sie fokussierte den historischen Diskurs über die Wirksamkeit der „künstlichen“ und kostenträchtigen Deiche und die Frage, ob die „natürlichen“ Dünen Deiche ersetzen können. Anhand eines frühneuzeitlichen Beispiels von der Halbinsel Eiderstedt zeigte Allemeyer, dass dem technologisch avancierten, nicht zuletzt der Landgewinnung dienenden Deichbau programmatisch der konservative Küstenschutz durch Dünen gegenübergestellt wurde. Anhand der Analyse dieser Auseinandersetzung wurden mentalitätshistorische („künstliche Technik“ vs. „gottgegebene Natur“) und politische (Obrigkeit vs. Untertanen) Gegensätze und Konfliktlinien sichtbar.
Kontroverse Zuschreibungen und Verständnisse der Küste bildeten auch das Thema des Historikers Manfred Jakubowski-Tiessen (Göttingen). Am Beispiel heutiger Gegensätze zwischen Naturschutz und Küstenschutz zeigte er in seinem Vortrag „Buten und binnen. Grenzerfahrungen und Grenzziehungen in der Küstengesellschaft“ Diskrepanzen in der Wahrnehmung der Natur auf. Verweisen die Verfechter des „Nationalparks Wattenmeer“ auf eine ursprünglich amphibische Landschaft als Leitbild einer noch nicht gezähmten Natur in der Zeit vor dem Deichbau, so wird von anderer Seite - etwa den Marschenbauern - die (vermeintliche) technische Notwendigkeit der Deiche für den Küstenschutz akzentuiert. Beide Gruppen bedienen sich in ihrer Argumentation der Mythenbildung. Anknüpfend an den vorangegangenen Vortrag verdeutlichte Jakubowski-Tiessen, dass sich diese Gegensätze bereits in der Frühen Neuzeit herausgebildet hatten. In den aktuellen politischen Diskussionen um den „Nationalpark Wattenmeer“ würden demnach langfristige Mentalitäten sichtbar und wirksam.
Otto S. Knottnerus (Zuidbroek) betrachtete die Küste unter dem Aspekt der zunehmenden Grenzauflösung und Entmythologisierung („Eine gefahrvolle Existenz: Zur inhärenten Ambivalenz der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Gesellschaft“). Dabei thematisierte der niederländische Soziologe und Historiker den bis in die Frühe Neuzeit als gefahrvoll erlebten Umgang mit dem Meer, der sich allegorisch in den Darstellungen der Meerungeheuer niederschlug. Das Misstrauen der abendländischen Kultur gegenüber dem „wilden“ Meer habe relativ abgeschlossene Küstengesellschaften hervorgebracht. Knottnerus beschrieb das Leben an der Küste als „betwixt and between“, voller Gefahren und Widersprüche einerseits, mit vielfältigen, vor allem im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend genutzten Chancen für Wirtschaft und Handel andererseits. Die Säkularisierung und Entmythologisierung der Nordseeküste vollzog sich regional unterschiedlich, wie Knottnerus im Vergleich zwischen den norddeutschen und nordniederländischen Küstenregionen zeigte.
Der zweite Tagungstag begann mit zwei kunsthistorischen Referaten , die sich mit niederländischen Landschaftsbildern des 17. Jahrhunderts als Quellen zur zeitgenössischen Wahrnehmung und Deutung von Küstenlandschaften befassten. Tanja Michalsky (Frankfurt/M.) setzte sich in ihrem Vortrag „Sandige Wege. Zur Imagination niederländischer Dünenlandschaften“ mit dem Verhältnis von Landschaftsmalerei und Kartographie im 17. Jahrhundert auseinander. Sie verknüpfte die Entwicklung der Landschaftsmalerei als Repräsentationsform nationaler Inhalte mit Kartenwerken, deren Aufgabe nicht auf topographische und geographische Darstellung bestimmter Landstriche beschränkt war, sondern die auch deren Geschichte bildhaft vergegenwärtigten und verständlich machten. Dünenlandschaften wie die Jan van Goyens bildeten eine komplementäre Ergänzung der durch die weitverbreiteten kartographischen Bilder vermittelten Vorstellung der Niederlande: Die Gemälde boten eine natürlich wirkende ästhetische Erfahrung des Landes, das durch Karten formelhaft beschrieben war. Darüber hinaus zeigte Michalsky, daß die Maler künstlerische Verfahren entwickelten, mit denen sie - oft ohne direkten Realitätsbezug - authentisch wirkende Darstellungen schufen, in denen die Alltagserfahrung zu einem Landschaftserlebnis gesteigert wurde.
Die Kunsthistorikerin Susan Müller-Wusterwitz (Hamburg) befasste sich in ihrem Beitrag „Felsige Küsten als Projektionen der Fremde in holländischen Landschaftsbildern des 17. Jahrhunderts“ zunächst mit Repräsentationen der holländischen Küste als Ideallandschaft. Der Strand, durch Genreszenen thematisch erweitert, wurde zur Bühne einer horizontal gegliederten Gesellschaft, die in Frieden, Freiheit und innerer Einheit zu existieren schien. Bedrohliche Themen wie Sturm und Schiffskatastrophen wurden nicht am Strand gezeigt, sondern stets vor felsenbewehrten Küsten dargestellt. Die Vorstellung von der bedrohlichen und zugleich reizvollen Fremde, so Müller-Wusterwitz, wurde nicht zuletzt durch Illustrationen der um 1600 populären Reisebeschreibungen geprägt, deren Phantasielandschaften häufig durch Schilderungen von Felsen als nicht-holländisch gekennzeichnet waren. Die Genres „Strandbild“ und „Sturm und Schiffbruch vor felsiger Küste“, die in der Forschung bislang getrennt verhandelt werden, bilden zwei Seiten einer Medaille, die das Selbstbild der jungen niederländischen Republik formte.
Der letzte Themenblock des Symposiums widmete sich Fragen der Inszenierungen von Seebädern und ihrer inhärenten kulturellen Ökonomie. Zu Beginn dieser Sektion analysierte der Historiker Martin Rheinheimer (Esbjerg) auf der Grundlage einer empirischen Auswertung historischer Ansichtskarten den „Mythos der Seebäder. Visualisierung und Vermarktung der nordfriesischen Inseln als Seebäder (1880-1970)“. Neben Sylt, Amrum, Föhr und den Halligen griff er zum Vergleich auf die Insel Helgoland zurück. Mithilfe einer statistischen Analyse von Postkarten, die in einem bestimmten Zeitraum über das Internetportal Ebay erhältlich waren, zeigte Rheinheimer, in welchem Ausmaß und mit welchen visuellen Mitteln sich die Seebäder im Zeichen zunehmender Konkurrenz der Postkarte als Mittel zur Selbstdarstellung bedienten. Bildliche Topoi der Postkarten waren sowohl Naturdarstellungen als auch kulturelle Artefakte (z.B. Infrastruktur bzw. Architektur). Einzelne Seebäder inszenierten einen regelrechten „Mythos“ des eigenen Ortes, indem sie lokale Kleidertraditionen durch Fotomontagen zu einem unverwechselbaren Merkmal ihrer selbst deklarierten.
Das Thema des Sozial- und Kulturhistorikers Norbert Fischer (Hamburg) war: „Das Meer und der Tod: Gedächtnislandschaften an der Nordseeküste“. Die historischen Erfahrungen der Katastrophe (Sturmfluten, Schiffbrüche) haben an der Küste zu einer besonderen Nähe zu Tod und Trauer geführt. Diese zeigt sich in landschaftlichen Artefakten wie den Memorials für die „Auf See Gebliebenen“, Sturmflut-Memorials, Namenlosen-Gedenkstätten u.a. Die öffentlich gestaltete Form der Trauer wurde zur küstenspezifischen „Vergegenwärtigung“ der Vergangenheit. Fischer analysierte sie als Ausdruck eines reflexiven Umgangs mit der eigenen Vergangenheit, der sich unter zunehmenden Einflüssen der städtisch-bürgerlichen Kultur, ihrer Historisierungstendenzen und ihres „Gedächtniskultes“ seit Mitte des 19. Jahrhunderts - im Zeitalter des Seebäderwesens - entfaltet hat.
Das konkrete Werden einer solchen Repräsentation der Küste stand im Mittelpunkt der Ausführungen der Volkskundlerin Brigitta Schmidt-Lauber (Hamburg), die mit ihrem Vortrag „Maritime Denkmals(er)findung. Ein Küstenort inszeniert sich“ zugleich die Perspektive auf die Gegenwart lenkte. Am Beispiel des niedersächsischen Küstenortes Carolinensiel, der im Mai 2005 seine 275-Jahrfeier beging und zu diesem Anlass eine Skulptur einweihte, illustrierte sie den Entstehungsprozess dieser materiellen und symbolischen Selbstinszenierung als Ergebnis von Entscheidungen und sozialen Aushandlungen konkreter Akteure. Schmidt-Lauber zeigte auf, wie und ausgehend von welchen (heterogenen) Interessen sich der Ort eine sichtbare lokale Identität schaffte. Im Ergebnis präsentierte sie die Denkmals(er)findung als „zeitgenössische Form lokaler Selbstvergewisserung, als reflexive Selbstinszenierung, die als Identitäts-Marketing nach außen gewendet wird und nach innen wirkt“.
Franklin Kopitzsch (Hamburg) fasste den Ertrag der Tagung zusammen, indem er auf die Bedeutung des interdisziplinären Austauschs verwies sowie die konstruktive und anregende Atmosphäre des Dialogs zwischen Küstenforscherinnen und -forschern verschiedener Fächer hervorhob. Der Sozialhistoriker betonte die Notwendigkeit, Text- und Bildquellen gleichermaßen zu nutzen, und forderte, die Wechselbeziehungen zwischen den teils sehr unterschiedlich strukturierten Einzelterritorien an der Nordsee stärker als bisher herauszuarbeiten. Zugleich verwies er in seinem Forschungsausblick auf die frühen Reisebeschreibungen der Seebäder als noch weitgehend ungenutzte Quelle für weiterreichende interdisziplinäre
Forschungen.
Der Tagungsband ist unter dem Titel „Inszenierungen der Küste“ für Herbst 2006 geplant.
Anmerkung:
[1] Die Tagung fand im Rahmen des von der Isa Lohmann-Siems Stiftung Hamburg geförderten Forschungsprojekts „Inszenierungen der Küste“ statt.
Recommended Citation:
Norbert Fischer: [Conference Report of:] Inszenierungen der Küste (Warburg-Haus, Hamburg, Feb 17–18, 2005). In: ArtHist.net, Mar 21, 2006 (accessed Dec 21, 2024), <https://arthist.net/reviews/401>.
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