REV 07.01.2004

Lothar Sickel: Caravaggios Rom

Rezensiert von Arne Karsten, Berlin
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Gesellschaftliche Eliten haben zu allen Zeiten die Beschäftigung mit der Geschichte nicht zuletzt aus dem Interesse heraus gepflegt, in der Vergangenheit legitimierend-selbstvergewissernde Vorbilder für ihre eigene Position in der Gegenwart zu finden. Nur so dürfte es zu erklären sein, dass die moderne Kunstgeschichtsschreibung bei ihrer Auseinandersetzung mit frühmodernen Gemälden lange Zeit in Künstlern und Auftraggebern ebenso gebildete wie schöngeistige Intellektuelle hat sehen wollen. Besonders auffällig wird der anachronistische Charakter dieses Vorgehens im Falle jenes Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, den die Zeitgenossen eher als gewalttätigen Lebemann wahrnahmen denn als Kenner oder gar Anhänger tridentinischer Kunsttheorie - und seiner Auftraggeber, die als mehr oder minder erfolgreiche Karrieristen im hochkompetitiven Sozialklima der päpstlichen Wahlmonarchie noch anderes zu tun hatten, als vor allem über subtile Feinheiten kunsttheoretischer Überlegungen und ihrer konkreten Umsetzungen nachzudenken.

Lothar Sickel unternimmt in seiner Hamburger Dissertation über das soziale Umfeld von Caravaggios römischen Auftraggebern den verdienstvollen Versuch, einige Werke Caravaggios vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsbedingungen auf den Boden sozialgeschichtlicher Realität zurückzuholen. Er tut dies in einer relativ knappen, angenehm sachlich und unprätentiös geschriebenen Studie, die auf einem soliden Fundament großenteils bisher unpublizierter Quellen aufbaut.

Im ersten Kapitel des Buches untersucht der Autor die Entstehung des Patronagesystems, das Caravaggio in seinen römischen Jahren zu wesentlichen Aufträgen verhalf, die seine Etablierung in der konkurrenzreichen Kunstszene am Tiber zur Folge hatte. Dabei wird deutlich, dass es weniger reformorientierte Kreise um den Mailänder Erzbischof und Kardinal Federico Borromeo waren, denen die entscheidende Bedeutung zukam: „Die Illusion eines primär religiös fundierten und motivierten Karriereverlaufs [des Künstlers] verstellt vielfach den Blick für die Tatsache, dass der Kreis der an Caravaggios Werken interessierten Personen bis zum Jahr 1600 relativ klein war“ (S. 15), und stattdessen im wesentlichen aus Klerikern bestand, die Posten innerhalb der „Camera Apostolica“ bekleideten. In der Tat ist es ebenso auffällig wie kennzeichnend für frühneuzeitliche Klientelsysteme, dass gleich sechs Auftraggeber an dieser Behörde tätig waren und sich dementsprechend persönlich gut kannten: Die Kammerkleriker Melchiorre Crescenzi und Maffeo Barberini (Letzterer ab 1606 Kardinal und von 1623 bis 1644 Papst Urban VIII.), der tesoriere generale Tiberio Cerasi, der computista Ermete Cavalletti sowie die Depositare Ottavio Costa und Vincenzo Giustiniani, der, aus ebenso reicher wie einflussreicher Genueser Bankiersfamilie stammend, zusammen mit seinem Bruder, dem Kardinal Benedetto Giustiniani, auch in späterer Zeit ein wichtiger Mäzen des Malers blieb. Für diesen Personenkreis schuf Caravaggio zwischen 1597 und 1603 mindestens 20 Gemälde verschiedenster Sujets. Ausschlaggebend für die Förderung waren dabei nicht gemeinsame religiöse Überzeugungen, sondern eben soziale und berufliche Kontakte. An ihrer Stelle konnten natürlich auch familiäre Verbindungen treten, wie Sickel im anschließenden Abschnitt über Prospero Orsi und Gerolamo Vittrici nachweist, zweier „zentraler Randfiguren“ unter den Förderern Caravaggios.

Am Beispiel der Contarelli-Kapelle in S. Luigi dei Francesi zeichnet Sickel mit minutiöser Sorgfalt die Verwerfungen nach, die aus den Auseinandersetzungen um das Erbe eines Klerikers entstehen konnten. Nicht nur das, er untersucht auch die Rolle des als Mathieu Cointreul bei Nancy geborenen Kardinals Contarelli am päpstlichen Hof, die sich einigermaßen zwielichtig darstellt. Als Datar Papst Gregor XIII. Boncompagni (1572-1585) verstand es Contarelli offenbar hervorragend, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Nicht weniger auffällig stellt sich das Mäzenatentum des Kardinals dar, der zwar die Patronatsrechte in einer Kapelle der französischen Nationalkirche S. Luigi erwarb, in der Folgezeit aber mit über 20.000 scudi Projekte des traditionell spanienfreundlichen Jesuitenordens förderte. Vor dem Hintergrund der säkularen Auseinandersetzungen zwischen Spanien und Frankreich um die Vormachtstellung in Europa muss dieses Vorgehen auf die Zeitgenossen ungefähr so gewirkt haben wie dasjenige eines CDU-Bundestagsangehörigen, der eine zweistellige Millionensumme der Friedrich-Ebert-Stiftung spendet.

Die Ausstattung der Kapelle in S. Luigi kam hingegen erst lange nach dem Tod des Kardinals und nach erbitterten Rechtsstreitigkeiten zustande, und bei ihrer Gestaltung stellt sich dann doch die Frage, ob der Maler tatsächlich ein Interesse an der visuellen Inszenierung subtiler Kritik an den Bereicherungsmethoden des längst verstorbenen Contarelli haben konnte. Die Beweisführung bleibt auf nicht zwingende Indizienketten angewiesen, wie Sickel sympathischerweise selbst eingesteht: „Jedenfalls rechnet eine solche Interpretation mit einem zeitkritischen Intellekt, wie er für einen Künstler der damaligen Epoche wohl nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann“ (S. 119).

Vollkommen überzeugend hingegen fällt die Deutung des berühmten, heute in Berlin befindlichen „Amor Vincitore“ als Seitenhieb auf die zwischen 1592 und 1605 regierende Papstfamilie Aldobrandini aus. Anhand dieses Beispiels gelingt es Sickel, die Politsatire im Bild, die in Bezug auf die Contarellikapelle noch hypothetisch ins Feld geführt wurde, mit stichhaltigen Beobachtungen zu identifizieren. Vor dem Hintergrund der in Rom weitverbreiteten Kritik an den ungewöhnlich skrupellosen Bereicherungspraktiken Clemens‘ VIII. und seiner Angehörigen, die Sickel im einzelnen nachweist, gewinnt das vieldiskutierte Bild eine neue Bedeutungsebene, die im übrigen andere Interpretationen nicht ausschließt. Hilfreich wäre allerdings eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Auftraggeber des Bildes, Vincenzo Giustiniani, und Clemens‘ VIII. gewesen - dass Giustiniani als päpstlicher Depositar unter den ständigen Geldforderungen des Pontifex litt, ist jedenfalls als Erklärung für die eindeutige Verhöhnung der Aldobrandini in diesem Gemälde ein wenig dürftig, denn in vergleichbarer Situation dürften sich alle päpstlichen Depositare der frühen Neuzeit befunden haben.

Im abschließenden Kapitel über die Hintergründe und persönlichen Interessen, die der Aristokrat Massimo de‘ Massimi, aus einer der ältesten römischen Adelsfamilien stammend, zur Beauftragung Caravaggios mit der „Dornenkrönung Christi“ veranlassten, kommt der Autor abermals zu einer sorgfältig abwägenden Gewichtung von individuellem Frömmigkeitsideal und weltlichen, das heißt: repräsentativen Interessen; den ersteren gegenüber letzteren Prioritäten einzuräumen mache wenig Sinn, „denn beide Interessensphären standen in der römischen Kunstproduktion doch eigentlich nie in wirklichem Widerspruch“ (S. 200).

Das Buch ist leider nicht mit einem Register ausgestattet, und, was schmerzlicher auffällt, es fehlt ein abschließendes Kapitel, in dem die gewonnenen Einzelergebnisse mittels einer systematisierenden und pointierenden Synthese zusammengefasst werden. Nichtsdestotrotz liefert die Studie wichtige neue Impulse zur Verortung von Caravaggios Werk in seinem gesellschaftlichen und politischen Entstehungskontext.

Sickel, Lothar: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein dissonantes Milieu, Emsdetten [u.a.]: Edition Imorde 2003
ISBN-13: 978-3-9805644-5-8, 267 S

Empfohlene Zitation:
Arne Karsten: [Rezension zu:] Sickel, Lothar: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein dissonantes Milieu, Emsdetten [u.a.] 2003. In: ArtHist.net, 07.01.2004. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/40>.

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