REV 30.09.2023

Ingrid Pérez de Laborda et al.: Handbuch Werkverzeichnis

Rezensiert von Birgit Jooss, Wittelsbacher Ausgleichsfonds, München
Redaktion: Anke Blümm
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Das „Handbuch Werkverzeichnis Oeuvrekatalog Catalogue raisonné“ ist kein Handbuch im gewöhnlichen Sinne, wie der Titel möglicherweise suggeriert. Ein „Handbuch“ stellt gemeinhin eine Anleitung in Aussicht, die einen Sachverhalt eines bestimmten Wissensgebietes in systematischer, lexikalischer Form erklärt – quasi als praktische Gebrauchsanweisung. Doch das vorliegende „Handbuch Werkverzeichnis“ geht über diese Funktion weit hinaus. Und so werden die Rezipient:innen positiv überrascht sein, welch‘ breit gefächerten Kosmos der Sammelband eröffnet. Diejenigen, die eine konkrete Handreichung erwarten, finden fundierte Anregungen aus unterschiedlichen Perspektiven und für verschiedene Anwendungsgebiete. Allen anderen bietet das Buch über das zunächst sehr praxisbezogen klingende Thema hinaus einen tiefen Einblick in das „Betriebssystem Kunst“: Allgemeine Strukturen, Prozesse und Regeln werden im Kontext dieser speziellen kunsthistorischen Gattung erkannt und umfassend erörtert [1]. Das Buch wendet sich also nicht nur an jene, die mit der Erstellung eines Werkverzeichnisses beschäftigt sind, ebenso wenig nur an Mitarbeiter:innen in Museen, Sammlungen und des Kunstmarkts, sondern an alle, die Interesse am „System Kunst“ haben.

Der Klappentext erläutert den Anspruch des Buches eingehender: „Das Werkverzeichnis, auch Œuvrekatalog oder Catalogue raisonné genannt, gilt als grundlegendes Nachschlagewerk für Museen, Privatsammlungen, den Kunstmarkt und nicht zuletzt für die kunsthistorische Forschung. Sein Ruf als Instrument der Authentifizierung und Nobilitierung eilt ihm voraus. Doch welche Anforderungen sollten Werkverzeichnisse heutzutage erfüllen? Inwiefern können digitale Anwendungen und multidisziplinäre Ansätze einen Mehrwert bieten? Welche Rolle kommt Werkverzeichnissen bei der Echtheitsbestimmung oder im Bereich der Provenienzforschung zu? Und welche juristischen Aspekte sind zu beachten?“

29 knapp gefasste und durchwegs gut lesbare Beiträge von 35 fachkundigen Autor:innen, darunter Kunsthistoriker:innen, Archivwissenschafler:innen, Restaurator:innen, Provenienzforscher:innen oder Jurist:innen, decken interdisziplinär und multiperspektivisch das Thema ab. Keineswegs ist ein lineares Lesen erforderlich, vielmehr machen die deutlich gewählten Titel eine Auswahl gemäß dem eigenen Interesse leicht. Die Herausgeberinnen haben sich entschlossen, die Themen in drei Teile zu gliedern, deren Einteilung zwischen „Das Genre Werkverzeichnis“ und „Struktur, Grundlagen und Konsequenzen“ nicht immer trennscharf zu erkennen ist. Der dritte Teil hingegen, der den „Gattungen in der bildenden Kunst“ gewidmet ist, unterscheidet sich von den beiden ersten Teilen und erleichtert den Zugriff für Rezipient:innen, die sich mit einer speziellen Kunstgattung beschäftigen und diesbezüglich Informationen erwarten. Christien Melzer widmet sich den Zeichnungen (267-276), Dagmar Korbacher der Druckgrafik (277-287), Annette Seeler der Skulptur und Plastik (288-306), Christiane Heiser der Angewandten Kunst (307-320), Bernd Nicolai der Architektur (321-329), Siegfried B. Schäfer der Fotografie (330-342) und Renate Buschmann den zeitbasierten Medien (343-354). Aya Soika mit Gisela Geiger schreibt über Werkverzeichnisse der Moderne (355-367) und Eva Meyer-Hermann widmet sich der zeitgenössischen Kunst (369-378).
Sie alle berichten aus ihrer Praxis heraus und bieten anschauliche Fallbespiele, doch immer auch mit einem analysierenden Blick auf Vergangenheit und Zukunft.

Das Buch entstand im Rahmen des im November 2018 ins Leben gerufenen „Arbeitskreis Werkverzeichnis“, in dem die Herausgeberinnen (teils Gründungs-)Mitglieder sind und dem auch viele der Autor:innen angehören [2]. Erst spät erkannte man in Deutschland den Mehrwert eines systematischen methodischen wie organisatorischen Austauschs in Bezug auf die Erstellung eines Werkverzeichnisses (bereits 1993 wurde die „Catalogue Raisonné Scholars Association“ in den USA gegründet). Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass in so kurzer Zeit – mit Unterstützung der „Kaldewei Kulturstiftung“ – ein solch umfassendes Kompendium erscheinen konnte [3]. Es sei nebenbei erwähnt, dass der Arbeitskreis gleichzeitig noch einen als PDF herunterladbaren „Leitfaden für kunstwissenschaftliche Gutachten“ erarbeitete [4].

Der für Anwender:innen am allgemeinsten gefasste Beitrag des „Handbuch Werkverzeichnis“ ist der von Eva Wiederkehr Sladeczek, die unter dem Titel „Das Werkverzeichnis in der Praxis“ eine Anleitung gibt (141-155). Es wäre wünschenswert, einen solchen Leitfaden auch als durchsuchbares Dokument zur Verfügung zu haben. Daneben finden sich zahlreiche praktische Erfahrungsberichte zu Werkverzeichnissen, die konkret Stärken und Schwächen verschiedener Herangehensweisen nennen, so Nils Büttner zu Peter Paul Rubens (49-60), Anja Tiedemann zu Max Beckmann (61-77), Anna-Carola Krausse zu Lotte Laserstein und Hannah Höch (78-88), Dietmar Elger zu Gerhard Richter (89-98), Celina Berchtold, Gerald Dagit mit Christoph Wagner zu Johannes Itten (113-126) oder Gunnar Heydenreich mit Daniel Görres zu Lucas Cranach (190-203). Immer wieder steht die Frage im Fokus, was das Werk der Künstler:innen tatsächlich darstellt: wann beginnt ein Werk? Wer definiert das? Wie geht man mit vernichteten, verschollenen Arbeiten, wie mit Studien, Zu- und Abschreibungen oder Werkstattarbeiten um? Anhand der repräsentativ ausgewählten Beispiele wird deutlich, wie unterschiedlich Historie, Anforderungen und Umsetzungen der Werkverzeichnisse sein können, die technisch gesehen zwischen analoger, hybrider und rein digitaler Ausführung variieren können. Weitere technische Fragen nach der Erschließungstiefe, nach Standards und Normierungen, nach der Darstellbarkeit eines unsicheren Forschungsstands (238) u.v.m. zeugen von der Komplexität der Aufgabe.

Neben diesen konkreten Erfahrungsberichten weiten die Beiträge aus Nachbars- bzw. Schwesterdisziplinen den Blick und machen deutlich, wie umfassend die Aufgabe „Werkverzeichnis“ zu denken ist. Welche Aspekte zu beachten sind, wenn man auf das unmittelbare Wissen noch lebender Künstler:innen, ihrer Nachfahren oder Netzwerke zugreift, erläutern Anna Kathrin Diestelkamp mit Friederike Hauffe (99-112), während Petra Winter die schriftlichen Quellen, die zu einem späteren Zeitpunkt an Bedeutung gewinnen, in den Fokus rückt (165-176). Die veränderten Anforderungen an Werkverzeichnisse durch die seit den Washingtoner Principles (1998) [5] erheblich an Relevanz gewonnene Provenienzforschung erörtern die Beiträge von Ingrid Pérez de Laborda (156-164) und – aus juristischer Sicht – Gesa Jeuthe Viezen mit Benjamin Lahusen (233-240). Die juristischen Herausforderungen in Bezug auf Abbildungsfragen erörtert Sandra Sykora (204-214), in Bezug auf Haftungsfragen Friederike Gräfin von Brühl (215-222). Die Expertise aus dem Blickwinkel der Kunsttechnologie bringt Floria Segieth-Wuelfert ein (177-189).

An zahlreichen Stellen werden hochaktuelle und auch anderenorts diskutierte Fragen der Kunstwissenschaft angesprochen und durchleuchtet. Es sind dies – um nur einige zu nennen – umfassende Problemstellungen zu den Themen Kanon, Macht und Deutungshoheit (zur Kennerschaft Hubertus Butin, 223-232), zum Umgang mit Lücken und Irrtümern, zu Autorschaft und Kollaboration, zu Teilhabe und Einflussnahme, Auftraggeberschaft, Finanzierung und vielem mehr (zum Kunstmarkt Renate Goldmann, 241-251, zu Stiftungen Martin Hoernes mit Aya Soika, 251-266). Denn natürlich haben Werkverzeichnisse enormen Einfluss auf die Stellung der Künstler:innen und den Wert ihrer Arbeiten, was insbesondere im Interesse der Künstler:innen selbst, ihrer Nachfahren sowie von Institutionen des Kunstmarkts liegt. Auch die Problematik, dass progressive Kunstformen der zeitgenössischen Kunst eine neue Definition des Originals und damit neue Kategorisierungsstrukturen erfordern, wird angesprochen. Denn Konzeptkunst, Performances oder zeitbasierte Werke wie Videos sind schwer durch Erschließungsrichtlinien von Werkverzeichnissen herkömmlicher Kunstgattungen zu kategorisieren und so ist die ephemere Kunst meist nur über Dokumentationen und Beschreibungen zu erfassen (Buschmann, 343-354).

Der Band macht deutlich, in welch unterschiedlichen Kontexten Werkverzeichnisse entstanden bzw. entstehen und somit in Erscheinung treten. Historische Muster (zur Historie, Funktion und Entwicklung Ulrich Pfisterer, 23-35, und Anja Grebe, 36-48) können zwar als Grundlage immer noch gültig sein, doch deutlich erweitert durch neue Herangehensweisen. Die einstige Kennerschaft des Connaisseurs, der in Buchform ein abgeschlossenes Werk abliefert, wird abgelöst durch international, interdisziplinär und kollaborativ angelegte, komplexe digitale Wissensspeicher, die meist Langzeitprojekte darstellen und ihr Potenzial als Nachschlagewerk voll entfalten. Christian Huemer verdeutlicht anschaulich – unter Nennung einiger erfolgreicher Open-Data-Projekte – die Chancen dieser unter verteilter Autorschaft entstandenen Datenbanken nach FAIR-Prinzipien im digitalen Zeitalter (127-140). Natürlich stellen sich auch hier Fragen der institutionellen Anbindung sowie der Ressourcen, um permanente Wissenserweiterungen in Systeme einzuarbeiten, also der kontinuierlichen Pflege und Nachbetreuung.

Es erstaunt, dass der Band nicht auf die derzeit allzeit diskutierten Chancen der Künstlichen Intelligenz eingeht, gibt es doch schon Programme, die Signaturen, Pinsel- bzw. Strichführungen, Farbauswahl u.ä. mit teils erstaunlichen Ergebnissen vergleichen. Wird es künftig nicht nur die Ablösung der Kennerschaft durch ein menschliches Kollektiv in Verbundprojekten, sondern durch die Maschine geben? Wird diese also Fragen nach Originalität, Stilkritik, Materialanalyse, nach Echtheit und Fälschung, Zuschreibung oder Wertigkeit beantworten und so die Bearbeiter:innen von Werkverzeichnissen unterstützen? Allerdings ist (derzeit) kaum vorstellbar, dass sie komplexe Kontextfragen zum Werk von Künstler:innen lösen kann.

Dem Band ist anzumerken, dass er im Umfeld des „Arbeitskreises Werkverzeichnis“ entstand. Finanzstarke Institutionen des Kunstmarkts – Galerien und Auktionshäuser sowie von diesen eingerichtete eigene „Forschungsinstitute“ –, die immer stärker in den Vordergrund drängen und mit ihren Werkverzeichnissen nicht nur den Wert der von ihnen dokumentierten Künstler:innen steigern, sondern ohne Zweifel auch Deutungshoheit über das jeweilige Werk erlangen (Sotheby’s, Van Ham, Wildenstein etc.), wurden nur mit einem Beitrag integriert (Goldmann, 241-251) und nicht umfassend problematisiert. Wie soll sich die Kunstwissenschaft in Zukunft diesen interessensgeleiteten Institutionen gegenüber verhalten? Eine breite Reflexion über die aufgrund unterschiedlich vorhandener Ressourcen fraglos asymmetrischen Machtverhältnisse ist unerlässlich.

Dennoch: Alles in allem ist der Band, der tatsächlich erstmals innerhalb der Kunstwissenschaft das Thema Werkverzeichnis in dieser Komplexität beleuchtet, äußerst lesenswert. Zu wünschen wäre, dass ein solcher Band auch im open access zur Verfügung stünde, oder wenigstens in hybrider Form als e-book.

[1] Zum Begriff „Betriebssystem Kunst“ Kunstforum, Bd. 125, 1994, hrsg. von Thomas Wulffen.
[2] Zum Arbeitskreis Werkverzeichnis: https://arbeitskreis-werkverzeichnis.de/.
[3] Zur Kaldewei Kulturstiftung: https://kaldewei-kulturstiftung.de/.
[4] Leitfaden für kunstwissenschaftliche Gutachten, Heft 1 (2023), https://arbeitskreis-werkverzeichnis.de/heftreihe.
[5] Zu den Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art: https://www.kulturgutverluste.de/Webs/EN/Foundation/Basic-principles/Washington-Principles/Index.html.

Pérez de Laborda, Ingrid; Soika, Aya; Wiederkehr Sladeczek, Eva (Hrsg.): Handbuch Werkverzeichnis, Berlin, Boston: De Gruyter 2023
ISBN-13: 978-3-11-073887-2, 75,95 Euro

Empfohlene Zitation:
Birgit Jooss: [Rezension zu:] Pérez de Laborda, Ingrid; Soika, Aya; Wiederkehr Sladeczek, Eva (Hrsg.): Handbuch Werkverzeichnis, Berlin, Boston 2023. In: ArtHist.net, 30.09.2023. Letzter Zugriff 27.04.2024. <https://arthist.net/reviews/39762>.

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