REV 11.10.2012

Menschenbilder; Entdeckung des Menschen; Gesichter der Renaissance

Rezensiert von Sylvaine Hänsel, Münster/Berlin
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Sammelrezension:
Menschenbilder; Entdeckung des Menschen; Gesichter der Renaissance

Die Gattung Porträt erlebt neuerdings einen regelrechten Boom. Nach eindrucksvollen Ausstellungen in Den Haag, Paris, Madrid und London widmeten 2011/12 die Museen in Wien und München sowie in Berlin dem Thema opulente Schauen.[1] Ein weiteres Projekt für die Essener Villa Hügel musste aus finanziellen Gründen abgesagt werden; Referate eines 2009 vorbereitend veranstaltetem Trierer Kolloquiums sind in einem Band mit dem Titel „Menschbilder“ erschienen. Thematisch ergänzten sich die drei Unternehmen. Während die Berliner Ausstellung „Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst“ zeigte, präsentierte man in Wien und München „Das deutsche Porträt um 1500“ und in Trier „Beiträge zur Altdeutschen Kunst“. Beide Ausstellungen setzten auf die „Stars“: Berlin warb mit dem Gastauftritt von Leonardos „Dame mit dem Hermelin“, das Wien/Münchener Projekt prunkte mit „Dürer Cranach Holbein“.

Gemeinsam ist allen drei Projekten, dass Porträts gattungsübergreifend präsentiert werden. Vor allem in Berlin förderte die Zusammenschau von Malerei, Zeichnung, Skulptur und Medaillen ein differenzierendes Verständnis der jeweils unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten und Funktionen. Genannt sei hier als Beispiel die Reihe der Medici-Porträts, die mit Andrea del Verrocchios Büste des Giuliano di Piero de’Medici beginnt. Der 1478 ermordete Giuliano de’Medici ist mit drei Bildnissen vertreten, die Botticelli zwar nach derselben Vorlage anfertigte, aber die Hintergründe variierte, so dass sich ganz unterschiedliche Interpretationen ergeben, die von kontemplativer Bescheidenheit, Trauer über den Tod der verehrten Simonetta Cattaneo Vespucci bis zum Gedenken an Giulianos Ermordung reichen. An dieses Ereignis wiederum erinnert eine Medaille auf die Pazzi-Verschwörung, die auf der einen Seite Giuliano, auf der anderen Seite Lorenzo zeigt. Dessen Bildnis hielt auch Leonardo auf einer Skizze fest, wobei er vielleicht von einem in der Werkstatt seines Lehrers Verrocchio entstandenen Wachs-Votivbild ausging.[2] Den humanistisch gebildeten Staatsmann zeigt die Medaille des Niccolò Fiorentino ungeschönt, wie der Abguss der Totenmaske belegt. Das liebenswürdige Tempera-Bildnis des Piero di Lorenzo di Medivi von Gherardo di Giovanni del Fora zierte eine Homerausgabe, die so Lorenzos Bemühungen um die griechische Sprache im Bildnis seines Sohnes lobt.

Methodisch gehen die beiden Kataloge und der Tagungsband unterschiedlich vor. Die „Gesichter der Renaissance“ werden nach ‚Kunstlandschaften‘ gruppiert. Florenz, Venedig und die Höfe Italiens, vor allem Mantua, Ferrara und Mailand, erscheinen als Zentren der italienischen Bildnismalerei. Für die Katalogautoren in Wien und München hingegen bildet die Frage nach der Funktion von Porträts und nach den Anforderungen, die die Zeitgenossen um 1500 an ein Porträt stellten, den Ausgangspunkt. Die Aufsätze von Karl Schütz und Christof Metzger geben grundlegende Überlegungen zum Thema Porträt vor, die übergreifend auch die folgenden Kapitel prägen. Diese gelten zunächst den „Titelhelden“ Dürer, Cranach und Holbein, während sich weitere Beiträgen mit den unterschiedlichen Gattungen beschäftigen.

I. Menschenbilder

Für Andreas Tacke und Stefan Heinz als Herausgeber des Sammelbandes ging es im ersten Schritt um die Klärung, was eigentlich unter „altdeutscher Kunst“ zu verstehen sei. Der Begriff weckt in der Tat gemischte Gefühle; auch wenn man den Autoren zugestehen muss, dass sie ihn vor allem als „allgemein periodisierend, pragmatische und vergleichsweise wertneutrale Kategorisierung“[3] verstanden wissen wollen, bleibt dennoch ein Unbehagen, zumal sich nicht erschließt, was er gegenüber dem neutralen ‚deutsche Kunst um 1500‘ an Vorteilen bietet.

Auch der Begriff „Menschbild“ erscheint nicht eben unproblematisch. Das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ kennt ihn nicht; auch der allgemeine Gebrauch scheint denkbar beliebig. Entsprechend bunt präsentiert sich das Inhaltsverzeichnis. Stichworte wie Aktdarstellungen, Zigeuner, Feen, Dürers Selbstbildnisse, Bildnisepigramme und Marienbilder zeigen, dass der Titel „Menschenbilder“ nicht im Sinne einer kunsthistorischen Anthropologie, sondern als Sammelbegriff für ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher Überlegungen dient. Angesichts der Heterogenität des Materials drängt sich die Frage nach den Auswahlkriterien auf, denn einerseits fand nur etwa die Hälfte der Kolloquiumsbeiträge in dem Band Platz,[4] andererseits nahm man sechs Beiträge neu auf, ohne dass diese zum Thema „Menschenbilder“ Grundlegendes beizusteuern hätten. Franz Matsche etwa greift zwar mit dem Thema der rhetorischen Topoi in den Bildnisepigrammen des frühen 16. Jahrhunderts einen nicht nur für die Graphikproduktion wichtigen Aspekt auf und arbeitet die ambivalenten Erwartungen, die Betrachter an Porträts stellten, heraus; mit „Menschenbildern“ hat das aber weniger zu tun, als mit der kritischen Hinterfragung, was ein Bildnis zu leisten vermag.

Der Band beginnt mit einer Reihe von Aufsätzen zum Thema „Akt“. Berthold Hinz beschreibt Dürers Weg fort von den formelhaften Aktdarstellungen der spätgotischen Kunst hin zu ‚natürlichen‘, am Modell beobachteten Akten, die der Künstler dann unter dem Eindruck der italienischen Kunst wiederum zu systematisieren und in ideale Proportionsschemata und Maßtabellen zu überführen suchte, die er 1528 in dem Projekt der „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ zusammenstellte. Die so gewonnenen Daten erwiesen sich dabei als so vielfältig, dass sie weniger als Musterbuch, denn als Fundus zum Aktstudium betrachtet werden können. „Hiermit“, schließt Hinz, „wären wir […] wieder bei der Anfangsthematik angelangt – nur gleichsam, wie auf einer Spirale, eine Windung höher, nach einem Vierteljahrhundert währenden Arbeits- und Erkenntnisprozess, in dem der subjektive Griff nach der Natur – wissenschaftlich objektiviert – letztlich wieder rehabilitiert erscheint.“[5]

Heiner Borggrefe widmet den Badeszenen einen Beitrag, der sehr anschaulich das Spannungsfeld von beobachtender Neugier, Sinnlichkeit, Voyeurismus, Satire und moralisierender Kritik beschreibt. Seine Feststellung, „Die frühneuzeitliche Blüte der bildenden Kunst ist überwältigender Ausdruck der gesellschaftlichen Nachfrage nach visueller Evidenz“,[6] passt auch zu Christoph Metzgers Überlegungen zu dem Jesuskind des Nikolaus Gerhaert von Leyden, das zu einer Gruppe naturgetreuer Kinderstatuetten gehört, die bekleidet und wie ‚echte‘ Kinder umsorgt wurden; diese quasi unmittelbare Begegnung mit dem Jesuskind diente der Intensivierung der frommer Erfahrung. Den niedlichen Kinderfiguren kontrastiert Stefanie Knöll in ihrem Beitrag die „Garstige Alte“ aus dem Frankfurter Liebighaus, die ebenso wie die „Nackte Alte“ Daniel Mauchs von einem Ulmer Künstler stammt. Die Darstellung des alten weiblichen Körpers interpretiert sie als Verdrängungsleistung angesichts der erotischen Verlockung junger Frauen.

Nach Ulrike Heinrichs Beitrag über „Kennzeichen des Komischen in Dürers Zeichnungen zur Baseler Terenz-Edition“ wendet sich Nicolaus Bock den Illustrationen des Melusine-Romans des Thüring von Ringoltingen zu: „Ein Blick auf die zeitgenössische Buchproduktion verspricht […] methodisch interessant zu sein, da sich in den Buchillustrationen auf breiter Basis Sehgewohnheiten manifestieren, die ein weitaus breiteres Publikum ansprechen als nur eine hochgebildete, humanistisch geprägte Elite“,[7] die sich etwa an den Akten Dürers erfreute.

Während Erwin Pokorny Zigeunerdarstellungen in der deutschen Kunst um 1500 aufreiht, widmete Martina Sitt dem Lukasaltar der Hamburger Jacobikirche eine sozialgeschichtlich orientierte Untersuchung, die „die Rolle der Zünfte um 1500“ in den Blick nimmt. Daria Dittmeyer wiederum beschäftigt sich mit der „Tortur der Märtyrer in der spätmittelalterlichen Tafelmalerei nördlich der Alpen“, wobei ihr Fazit, die fehlenden Äußerungen von Schmerz bewiesen die Glaubens- und Heilsgewissheit der Heiligen, nicht eigentlich überrascht.

Zwei Beiträge von Maike Christadler über Urs Grafs zeichnerische Selbstentwürfe und von Sibylle Weber am Bach über Hans Baldung Griens Marienbilder im Wettstreit mit der Venus des Apelles schließen den Band ab. Vor allem letzterer schildert differenziert das Spektrum zum Teil widersprüchlicher Erwartungen, denen sich ein Maler um 1500 gegenübersah. Im Wettstreit mit den antiken Künstlern sollte er „aus einer nackten Venus eine „keusche“ Maria machen“[8] und gerade dadurch seine Meisterschaft beweisen.

Von den zahlreichen Tagungsbeiträgen, die sich mit der Gattung Porträt beschäftigten, fand nur der Aufsatz von Kerstin Merkel Eingang in den Band, die der politischen Funktion von Lucas Cranachs Bildnissen der konkurrierender Wettiner Brüder nachgeht. Thomas Eser steuerte ergänzend einen Beitrag zu Dürers Selbstbildnissen bei. In einer „Deutungsüberschau“ arbeitet er drei Interpretationsansätze heraus: die biografisierenden Interpretationen, psychologisierende Erklärungsmuster und die Würdigungen als Pionierwerke, um dann festzustellen, dass die Bildnisse zwar für alle Ansätze suggestive Aufsatzpunkte lieferten, diese aber in der archivalisch-historischen Überlieferung keine Entsprechung fänden. Diesen Deutungen stellt Eser in einem zweiten Schritt eine eigene These gegenüber: „Dürers Selbstbildnisse seien Probestücke für den Nürnberger Bildnismarkt. Darauf deuteten sowohl die hohe Qualität der Malmittel als auch die Brillanz der Ausführung. Auch Eser kann einer biografisierenden Interpretation nicht ganz entraten, wenn er feststellt, der „normenfixierte Dürer“[9] folge den Gepflogenheiten, die er aus dem Goldschmiedehandwerk kennengelernt habe.

Dass die Gattung Porträt, die im Kontext „Menschenbilder“ doch vielversprechendes Material beisteuern könnte, in dem Sammelband nur mit drei sehr heterogenen Beiträgen vertreten ist, mag daran liegen, dass das gescheiterte Ausstellungsprojekt in enger Zusammenarbeit mit dem Kunsthistorischen Museum in Wien entwickelt worden war, wo Mitte 2011 die Ausstellung „Dürer – Cranach – Holbein“ eröffnet wurde.

II. Dürer – Cranach – Holbein

Hinterließ der Aufsatzband letztlich einen eher zwiespältigen Eindruck, halten Ausstellung und Katalog, was der Untertitel verspricht: es geht um „das deutsche Porträt um 1500“. Karl Schütz leitet den Katalog mit einem Essay ein, der Entstehung, Charakteristika und Entwicklung der deutschen Porträtkunst beschreibt. Das autonome Porträt entsteht aus dem Stifterporträt und zeichnet sich durch drei Merkmale aus. Ähnlichkeit setzt Studien nach der Natur voraus und verknüpft Individualität unmittelbar mit der physiognomischen Erscheinung; Lebendigkeit zielt auf das kommunikative Potential des Porträts, während Wesensnähe vom Maler verlangt, dass er malen solle, was nicht gemalt werden kann, also die Seele oder die „virtus“ – ein geläufiger Topos auch der von Matsche in dem Trierer Aufsatzband vorgestellten Bildnisepigramme. Die frühesten Bildnisse entstehen im Kontext der höfischen Kunst des 14. Jahrhunderts; ab etwa 1460 findet man auch in Deutschland die ersten autonomen Porträts, zunächst meist Brustbilder vor dunklem Grund, später weiten sich die Ausschnitte und die Hintergründe variieren.

Das klingt einleuchtend und einfach, doch Christoph Metzger warnt in seinem anschließenden Essay vor Vertrauensseligkeit und fragt: Wie verlässlich ist das, was die Bildnismalerei (und den Zeitgenossen) der Dürerzeit präsentiert?“[10] Schließlich fehlte etwa bei den Herrscherbildern auch den Zeitgenossen häufig die Möglichkeit, das Bild mit dem lebenden Modell zu vergleichen. Vorbereitende, unmittelbarere Skizzen haben sich nur selten erhalten und ganz offensichtlich verwendete man Standardformeln oder sogar Pausen, die „erst in der malerischen Ausführung individuell angepasst wurden.“[11] Am Beispiel der zahlreichen Bildnisse Maximilians I. versucht Metzger, das komplexe Verhältnis von Modell und den Abbildern, die unterschiedliche Erwartungen Funktionen zu erfüllen hatten, zu beschreiben. Zu den Bildnissen Dürers oder Bernhard Strigels treten auch literarische Beschreibungen hinzu, wobei etwa in den Traktaten zur Physiognomik sich kurioserweise die zunächst negativ konnotierte Hakennase möglicherweise unter dem Eindruck des kaiserlichen Porträts in ein positives Merkmal verwandelt.

Dass im folgenden Katalogteil neben Porträts auch Charakterstudien gezeigt werden, mag zunächst irritieren, doch verdeutlichen diese sehr genau, dass Lebendigkeit, charakteristische, individuelle Gesichtszüge oder Gemütsbewegungen noch kein Porträt ergeben. Auch für diesen Bereich erarbeiteten sich um 1500 die Künstler ein Repertoire, das wie die Gesichtszüge dem jeweiligen Individuum angepasst werden konnte.

Karl Schütz, Alice Hoppe-Harnoncourt und Jochen Sander widmen jeweils ein eigenes Kapitel Dürer, Cranach und Holbein. In den zugehörigen Katalogteilen werden auch Vergleichswerke anderer Künstler präsentiert herangezogen, um wechselseitige Einflüsse, aber auch Unterschiede zu verdeutlichen. Interessant sind Zweifelsfälle, etwa Cranachs Bildnis dreier Damen, das mit guten Argumenten sowohl für ein Gruppenporträt, als auch für „modische Genrebildnisse“ oder für eine Werkstattvorlage gehalten wurde.[12] Sie schärfen die Aufmerksamkeit des Betrachters und Lesers und nötigen ihn, immer wieder die eigenen Kriterien und Erwartungen zu hinterfragen. Dem Cranachschen Gemälde wird Hans Dörings zwanzig Jahre früher entstandenes Gruppenporträt des Philipp Graf zu Solms mit seinen zwei Söhnen gegenübergestellt. Christoph Metzger nimmt den Umstand, dass die drei relativ dicht gedrängt, aber ohne zu interagieren nebeneinanderstehen, als Schwäche, die er in dem Cranachschen Werk korrigiert sieht; dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass Döring hier Porträt-Konventionen folgte, die so auch bei Doppelporträts der Zeit zum Tragen kamen. Auch überzeugt nicht, dass er, anders als Hoppe-Harnoncourt, welche zurecht die Frage „Porträt oder nicht?“ offenhielt, Cranachs drei Damen zu einem „der Hauptwerke der deutschen Porträtkunst des 16. Jahrhunderts“ erhebt.[13] Als Beleg dient ihm die lebendige Bewegtheit der Personen; ein Umstand, der jedoch gegen die sonst übliche würdige Gefasstheit der Dargestellten verstößt und daher, zusammen mit der stark typisierten Auffassung der Gesichter, eher gegen die Einordnung als Porträt spräche.

Die folgenden Kapitel untersuchen unterschiedliche Gattungen. Erwin Pokorny und Eva Michel behandeln Bildniszeichnungen der Dürerzeit und zeigen, wie sich diese einstigen „Hilfsmittel im Werkprozess“ in eine „eigene künstlerische Ausdrucksform“ wandeln, „die um ihrer selbst willen geschätzt, gekauft und gesammelt“ wurden.[167] Jens Ludwig Burg, der das „Porträt in der deutschen Skulptur um 1500“ vorstellt, greift noch einmal den problematischen Begriff der „Ähnlichkeit“ auf. Vor allem in der Grabplastik stellt sich die letztlich nicht zu beantwortende Frage, ob „die veristische Darstellung nicht doch an einen Idealtypus gebunden bleibt, bzw. ob der Betrachter nicht einem überzeugend vorgetragenen Anschein von Mimik erliegt, der naturalistische Gesichtszüge als rhetorischen Topos einsetzt.“[14] Während lebensgroße Statuen eher die Ausnahme bleiben, entstehen kurz vor 1500 eigenständige Porträtbüsten, wohl in Anlehnung an italienische Vorbilder. Häufiger sind Porträtreliefs, und vor allem Medaillen. Letztere, so von Annette Kranz und Achim Riether in ihrem Aufsatz über „Vervielfachte Vielfalt des Porträts in Medaille und Druckgraphik“, erlangten im Kontext des Augsburger Reichtags von 1518 deutlich später als in Italien Popularität; sie sich nicht zuletzt dem Augsburger Künstler Hans Schwarz verdankt , der neben zahllosen Entwürfen fast hundert Medaillen schuf. Anders als in Italien fungierten in Deutschland nicht höfische Kreise, sondern Angehörige des städtischen Patriziats als Auftraggeber.

Anschließend gibt Stefan Krause Hinweise zum Umgang mit Porträts, wobei er etwa nach Anlässen für Porträtaufträge fragt oder zusammenfasst, was wir über Präsentation und Aufbewahrung wissen. Spätestens seit Angelika Dülbergs 1990 erschienener grundlegender Untersuchung über das Privatporträt[15] weiß man, dass Bildnisse keineswegs von vorneherein als Wandschmuck dienten, sondern häufig mit Deckel geschützt oder als Pendants „zusammengeklappt“ aufbewahrt wurden. Wie schwer es aber immer noch fällt, dieses Wissen für die Interpretation fruchtbar zu machen, zeigt der Katalogtext zu Strigels ungewöhnlichem Diptychon von 1520, das auf den Innenseiten die kaiserliche Familie zeigt, während auf den Außenseiten die Familie des Kanzlers Johannes Cuspinianus und eine aufwendige Inschrift, die den Maler als zweiten Apelles preist, erscheinen. Dass diese Konzeption darauf deutet, dass es sich um ein von Cuspinianus in Auftrag gegebenes „Privatporträt“ handelt, wird im Katalogtext jedoch nicht einmal erwogen.

Dem seit einiger Zeit erwachte Interesse an kostümkundlichen Fragen entspricht der Aufsatz von Anna Morath–Fromm. Leider gilt auch hier, dass die zugehörigen Katalogbeiträge relativ allgemein gehalten sind und auf die Kleidung der Dargestellten nur oberflächlich eingehen. Der abschließende Beitrag von Andreas Tacke schlägt den Bogen zum Anfang, indem er noch einmal die Frage nach Erwartungen, Ähnlichkeit und Enttäuschung aufwirft.

III. Gesichter der Renaissance

In dem Berliner Katalog über die italienischen Renaissance-Porträts greift Stefan Weppelmann das Thema der „Ähnlichkeit“ auf. Dabei geht es ihm jedoch nicht, wie im Wien/Münchner Katalog, um die methodisch wichtige Frage, ob oder inwiefern der heutige Betrachter vom Abbild auf die abgebildete Person schließen kann, sondern vor allem um zeitgenössische, humanistisch geprägte Reflexionen über die Möglichkeit, im Bild den Charakter einer Person zu erfassen. Die Schwierigkeit, Ähnlichkeit der Erscheinung mit der Entsprechung des Wesens in Einklang zu bringen, gehört zu den Topoi humanistisch geprägter Bildreflexion. Individualisierte Züge können Ähnlichkeit bedeuten ohne tatsächlichen Bezug auf ein Vorbild, so wie es Donatellos Büstenreliquiar des heiligen Rossore vorführt, das eine wichtige Rolle für die Entstehung der italienischen Porträtskulptur spielt. Irving Laving hatte 1970 gezeigt, dass damit bei den Büsten auch die Vorstellung vom Körpers als Gefäß der Seele mitschwinge; ob man das so auch auf Gemälde wie Giovanni Bellinis Bildnis des Dogen Leonardo Loredan übertragen kann, sei dahin gestellt. Dass die individuellen Züge bestimmten Ideal-Vorstellungen angepasst wurden, wird zwar in der zeitgenössischen Literatur kritisiert, erscheint aber nur folgerichtig. Die „Überhöhung der Gestalt“ ermöglicht die „physische Evidenz moralischer Perfektion“.[16]

Im zweiten Teil seines Essays analysiert Weppelmann das Porträt der Cecilia Gallerani, das Leonardo „wahrnehmungsgemäß konstruiert“ habe,[17] indem er das Bildnis nicht geleichmäßig plastisch durchgearbeitet, sondern dem Sehprozess entsprechend etwa das Gewand gegenüber dem Gesicht zurückgenommen habe. Die ungewöhnliche Wendung des Kopfes bezieht sich auf Ludovico Moro, dem sie sich, wie der Hermelin dem Jäger, um sein reines, weißes Fell zu schützen, hingibt. Damit, so Weppelmann, sei es Leonardo gelungen, zugleich Erscheinung und Wesen der jungen Frau abzubilden. Leonardos Bildnis stelle ein „Kondensat“ der „Entwicklung vom Abdruckhaften zum Ausdruckhaften“ dar, das die Entwicklung des italienischen Quatrocentroporträts präge.[18]

Rudolf Preimesberger schließlich geht in seinen grundsätzlichen Porträtüberlegungen von Albertis Beobachtung aus, dass ein bekanntes Gesicht inmitten der Szenerie eines Gemäldes die ganze Aufmerksamkeit des Betrachters an sich reiße. Für Alberti verdankt das Konterfei diese Kraft dem Umstand, dass es aus der Natur gezogen ist, was sich wiederum in der italienischen Bezeichnung „ritratto“ widerspiegelt. Damit, so Alberti „besitzt die Malerei eine göttliche Kraft und leistet nicht nur, was man der Freundschaft nachsagt, die abwesende Menschen gegenwärtig macht; vielmehr lässt sie die Verstorbenen nach vielen Jahrhunderten noch wie lebend erscheinen, […].“[19] Preimesberger stellt die Frage nach der Verbindung zur Poetik des Aristoteles, der mit der Wirkung der Dichtkunst etwa der Tragödie die Kraft zuschreibt, Mitleid oder Furcht zu erregen, eine Fähigkeit, die Alberti wiederum auch dem Porträt zuspricht.

Die Eingangsessays von Patricia Rubin, Beverly Louise Brown und Peter Humfrey zum Porträt in Florenz, an den (nord-)italienischen Höfen und in Venedig geben einen Überblick, gehen aber nicht über die klassischen Einführungen von John Pope-Hennessy oder Enrico Castelnuovo bis Lorne Campell hinaus. Hervorragend sind jedoch die ausführlichen Katalogeinträge, die alle „Gesichter der Renaissance“ nicht nur überzeugend beschreiben und analysieren, sondern auch den Forschungsstand umfassend darstellen.

So avanciert der Katalog angesichts der Qualität, Vielzahlt und Bandbreite der Exponate zu einem informativen Nachschlagewerk, das zugleich als spannendes Lesebuch über den Anlass hinaus Interesse verdient. Das gilt mit Einschränkungen auch für den Wien/Münchener Katalog, der jedoch darüber hinaus in den Essays grundlegende Fragen etwa zum Problem der „Ähnlichkeit“ anschneidet und damit ein methodisch wichtiges Themenfeld öffnet, nämlich die simple Frage, wie man mit den Informationen, die uns die Porträts liefern, umgehen soll, wenn wir nur wenige Möglichkeiten haben, die Richtigkeit unserer Überlegungen am ‚lebenden Objekt‘ zu überprüfen. Der Band über die „Menschenbilder“ weckt Bedauern, dass die geplante Ausstellung nicht zustande kam. Die Aussagekraft der Objekte und Katalogeinträge hätte sicherlich die Heterogenität der Aufsätze ausgeglichen und Verbindungen hergestellt, die die Einzelbeobachtungen zu einem Gesamtbild zusammengefügt hätten.

Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a.: Ausst. Kat. The Spanish Portrait, Madrid, Prado 2004/05. – Ausst. Kat. Titien. Le pouvoir en face, Paris, Musée du Luxembourg 2006. – Ausst. Kat. Aufgeklärt Bürgerlich. Porträts von Gainsborough bis Waldmüller 1750-1840, Wien, Galerie Belvedere 2006/07. - Ausst. Kat. Portraits Publics – Portraits Privés 1770-1830, Paris, Grand Palais, London, Royal Academy of Arts, Guggenheim Museum, New York 2007. –Ausst. Kat. Holländer im Porträt, London, National Gallery / Den Haag, Mauritshuis, 2007/2008, Stuttgart 2007. - Ausst. Kat. Renaissance Faces, London, National Gallery, 2008.
[2] Ausst. Kat. Gesichter der Renaissance, Berlin, Bode-Museum, München, Hirmer 2011, S. 180, Kat. Nr. 54.
[3] Andreas Tacke, Stefan Heinz, Menschenbilder. Beiträge zur altdeutschen Kunst, Petersberg 2011, S. 9
[4] Das Tagungsprogramm unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11753. Vgl. Anna Morath-Fromm, Menschenbilder in der deutschen Kunst (1450-1550), in: das Münster 62, 2009, S. 231-233.
[5] Tacke/Heinz, Menschenbilder, S. 29
[6] Ebd. S. 50
[7] Ebd. S. 7
[8] Ebd. S. 272
[9] Ebd. S. 171
[10] Ausst. Kat. Dürer – Cranach – Holbein, Wien, Kunsthistorisches Museum, München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München 2011, S. 21
[11] Ebd. S. 22
[12] Ebd. S. 131, Kat. Nr. 69
[13] Ebd. S. 132, Kat. Nr. 70
[14] Ebd. S. 188
[15] Angelika Dülberg, Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1990.
[16] Ausst. Kat. Gesichter der Renaissance, S. 67
[17] Ebd. S. 72
[18] Ebd. S. 76
[19] Ebd. S. 83

Andreas Tacke, Ingrid-Sibylle Hoffmann (Hrsg.): Menschenbilder. Beiträge zur Altdeutschen Kunst, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011
ISBN-13: 978-3-86568-622-0, 318 S., EUR 49.95

Sabine Haag, Christiane Lange, Christof Metzger, Karl Schütz (Hrsg.): Dürer, Cranach, Holbein. Die Entdeckung des Menschen: das deutsche Porträt um 1500 ; eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien und der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, München: Abegg-Stiftung 2011
ISBN-13: 978-3-7774-3701-9, 351 S., EUR 39.90

Keith Christiansen, Stefan Weppelmann (Hrsg.): Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst [eine Ausstellung des Bode-Museums, Berlin; Metropolitan Museums of Art, New York], München: Abegg-Stiftung 2011
ISBN-13: 978-3-7774-3581-7, 420 S., EUR 47.50

Empfohlene Zitation:
Sylvaine Hänsel: [Rezension zu:] Andreas Tacke, Ingrid-Sibylle Hoffmann (Hrsg.): Menschenbilder. Beiträge zur Altdeutschen Kunst, Petersberg 2011; Sabine Haag, Christiane Lange, Christof Metzger, Karl Schütz (Hrsg.): Dürer, Cranach, Holbein. Die Entdeckung des Menschen: das deutsche Porträt um 1500 ; eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien und der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, München 2011; Keith Christiansen, Stefan Weppelmann (Hrsg.): Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst [eine Ausstellung des Bode-Museums, Berlin; Metropolitan Museums of Art, New York], München 2011. In: ArtHist.net, 11.10.2012. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/3969>.

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