REV-CONF 01.10.2012

Das Atrium von San Marco in Venedig. Die Genese der Genesismosaiken

Bad Homburg, Forschungskolleg Humanwissenschaften, 22.–23.06.2012

Bericht von Rebecca Müller, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Herbert L. Kessler, Johns Hopkins University
Martin Büchsel, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Redaktion: Rainer Donandt

Das Atrium von San Marco in Venedig. Die Genese der Genesismosaiken und ihre mittelalterliche Wirklichkeit/ The Atrium of San Marco in Venice. The Genesis of the Genesis Mosaics and their Medieval Reality

Bericht der Organisatoren

Die Tagung wollte ein Zeichen setzen: ein Zeichen, dass es geboten sei, sich erneut der Cotton Genesis und ihrem ausdrücklichsten mittelalterlichen Nachfahren, den Schöpfungsmosaiken der Vorhalle von San Marco in Venedig, zuzuwenden. Die Diskussion dieser Verbindung von frühchristlichen Illuminationen, die nur noch in wenigen verkohlten Fragmenten überliefert sind, mit den mittelalterlichen Mosaiken ist seit der Entdeckung durch Johan Jakob Tikkanen 1889 geführt worden. Sie kam 1986 mit der Edition der Cotton Genesis durch Kurt Weitzmann und Herbert Kessler zu einem vorläufigen Abschluss. Die Mosaiken erschienen als weitgehend getreue Kopie der Buchmalereien der Handschrift, die dabei allein redaktionelle, aber keine konzeptionelle Veränderungen durch die Mosaizisten erfahren hätten.

Herbert Kessler rückt nun von dieser Vorstellung ab. Er setzte auf der Tagung die Überlegungen fort, die er in zwei jüngeren Publikationen begonnen hat (2009/10). Seiner Meinung nach wies die Cotton Genesis schon im 13. Jahrhundert erhebliche Lücken auf. Diesen Lücken spürte er nun innerhalb des Spektrums der Mosaiken des gesamten Atriums nach. Gerade die Weltschöpfungsillustrationen hätten so große lacunae aufgewiesen - vielleicht seien nur noch die Illustrationen des dritten und des vierten Tages vorhanden gewesen -, dass mehr von einer Neuschöpfung in San Marco als von einer Kopie gesprochen werden könne. Die ungewöhnliche Konzeption der Mosaiken ist demnach mittelalterlich. Darin haben lediglich Elemente der frühchristlichen Illustrationen Eingang gefunden. Auch bei der Darstellung der Erschaffung des Menschen, die Anleihen an die spätantike Prometheusikonographie macht, denkt Kessler nicht mehr an einen Rückgriff auf die frühchristliche Vorlage, sondern an eine mittelalterliche Antikenrezeption. Die mittelalterliche Konzeption hat demnach frühchristliche und antike Vorlagen miteinander verbunden.

Die Abkehr von der Edition von 1986 ist der Grund, dass Herbert Kessler das Interesse daran gefunden hatte, zusammen mit Martin Büchsel ein Kolloquium zu veranstalten, der 1991 darauf hingewiesen hatte, dass drei Schöpfungsmosaiken schwerlich unmittelbar auf Vorlagen der Handschrift zurückgehen können. Büchsel vertrat nicht nur damit eine Minderheitenmeinung. Marie Thérèse d’Alverny war 1957 zu dem Schluss gekommen, dass die Konzeption der den Tagen entsprechenden Vermehrung von Personifikationen, die auf den Schöpfer bezogen sind, am besten durch Augustinus’ Theorie der Erkenntnis der Engel zu erklären sei. Sie stellte sich vor, Augustinus habe eine illustrierte alexandrinische Handschrift in der Art der Cotton Genesis vorgelegen, die ihn zu seinem Erkenntnismodell der geistigen Kreatur angeregt habe. So stand die Explikation durch Augustinus nicht der fast allgemein akzeptierten Annahme einer alexandrinischen Herkunft der Cotton Genesis, einer griechischen Handschrift, entgegen. In der Diskussion wurde d’Alvernys Argumentation mehrheitlich nur für die Darstellung des ersten Tages akzeptiert, für die die französische Forscherin am nachdrücklichsten Augustinus reklamiert. So schien damit eine mittelalterliche Überformung oder ein mittelalterliches Addendum aufgezeigt worden zu sein.

Büchsel hingegen sieht in den Schöpfungsmosaiken ein durchdachtes Konzept, das zeigt, wie die Engel die Erkenntnis des Geschaffenen auf das Wort Gottes zurückwenden und so zu Reflexionsfiguren der Schöpfung werden. Der gleichen Intention folge die Darstellung “Adam gibt den Tieren Namen”. Hier werde die Ursprache gesprochen, die die Menschen mit dem Sündenfall verloren haben. Die Erschaffung des Lichtes am ersten Tag folgt nach Büchsel der Idee, dass das Licht mit der geistigen Kreatur identisch ist und dass in der Scheidung von Licht und Finsternis die Scheidung von Gut und Böse angelegt ist. Sehr speziell auf "De genesi ad litteram" sei in San Marco die Erschaffung des Menschen bezogen. Am sechsten Tag wird nur der Leib geformt, am Eingang zum Paradies erfolgt die Beseelung. Das entspricht dem Vorschlag, mit dem Augustinus die unterschiedlichen Beschreibungen der Erschaffung des Menschen im ersten und im zweiten Kapitel des Buches Genesis erklärt. Zugleich rückt damit Augustinus die menschliche Seele auf die gleiche Stufe wie die Engel. Mit diesen zusammen sei sie am ersten Tag erschaffen worden. In San Marco wird Büchsel zufolge der rechte Gebrauch der Schöpfung vor der Sünde vor Augen geführt, um dann um so ausführlicher den Lapsus zu schildern. An den lacunae, die er in den Mosaiken erkennen kann, sieht er keine Anzeichen dafür, dass in Venedig eine theologisch orientierte Redaktion der frühchristlichen Illuminationen erfolgt ist. Er geht davon aus, dass schon in diesen eine theologische Intellektualisierung der Bildmotive erfolgt ist. Kunsthistorisch interessant ist vor allem die Frage der Vorstellungssynthese, die in San Marco oder in den Illustrationen der Cotton Genesis oder in beiden zugleich, aber auf unterschiedliche Weise vollzogen wird: Mehrere antike Motive gehen in die Schöpfungsdarstellung ein, die eng mit der theologischen Aussage verbunden werden.

Die Bedeutung von Augustinus’ Konzept der Erkenntnis der Engel im Mittelalter und insbesondere die eher auf Ablehnung gestoßene Vorstellung der Erschaffung des Menschen bedarf noch in manchem der Klärung. Welches Interesse konnte man in Venedig damit verfolgen? Oder wird eher eine frühchristliche Konzeption mittransportiert, weil die Wiedergabe von Illuminationen einer griechischen Handschrift besonders attraktiv erschien? Alexander Brungs erklärte die Struktur mittelalterlicher Genesiskommentare, die zwar alle auf Augustinus zurückgreifen, aber damit andere Gedanken verbinden. Daher schlug er vor, nicht nur nach augustinischen Aspekten in den Mosaiken zu suchen, um gerade dadurch die mittelalterliche Diktion offen zu legen.

Die Schöpfungsmosaiken von San Marco sind ein Solitär und werden dennoch als wichtigstes Zeugnis der Cotton-Genesis-Tradition betrachtet, die für mittelalterliche Schöpfungsdarstellungen zum Gattungsbegriff geworden ist. Herbert Broderick machte sich auf die Suche, in dieser Tradition Antworten auf die Frage zu finden, ob die Vermutung zahlreicher Lücken in den Illuminationen der Handschrift eine Bestätigung finden könne. Die Antworten machten die Ambivalenz der Fragestellung deutlich. Auch Katrin Müller suchte den Vergleich. Zu den eindrucksvollsten Schöpfungsdarstellungen des 12. Jahrhunderts gehören die Mosaiken in Monreale im normannischen Sizilien. Die Nähe zu den zuvor in Palermo entstandenen Genesismosaiken macht die klare Strukturiertheit der Darstellungen in Monreale deutlich. Müller zeigte auf, dass hier signifikante Elemente der mittelalterlichen Kommentartradition eingegangen sind. In viel einfacherer Weise als in San Marco wird realisiert, dass die Erschaffung des Lichtes die Erschaffung der Engel bedeutet und dass deren Wissen nach den Schöpfungstagen geordnet ist. Sieben Engel, von denen ein Lichtkranz ausgeht, wenden sich dem Schöpfer zu. Die auf die Einzelerklärung abzielende Kommentartradition macht den Unterschied zum weitumfassenden Entwurf der Erkenntnis der geistigen Kreatur in San Marco deutlich, der außerdem durch den starken Rückgriff auf frühchristliche und antike Vorlagen nicht den Eindruck mittelalterlicher Traditionsbildung hervorruft. Es ist damit geboten, gerade die Unterschiede zwischen dem jeweiligen exegetischen und intellektuellen Niveau der Darstellungen herauszuarbeiten.

Das mittelalterliche Konzept in San Marco drückt sich unmittelbar darin aus, dass die Darstellung der Genesis in fünf Kuppeln realisiert wird, die entscheidende Unterschiede untereinander aufweisen. Davon gingen die Überlegungen von Peter Scholz zu dem bislang kaum beachteten zentralen Medaillon der Schöpfungskuppel aus. Auch Karin Krause setzte hier an. Sie lenkte den Blick auf das Bild-Text-Verhältnis. Die Texttradition ändert sich bei der Darstellung des Sündenfalls. Statt auf die Vulgata wird nun auf eine kompilatorische Form zurückgegriffen, die die Zusammenfassung jeweils mit “hic” beginnt - für Krause auch eine Zäsur in der Bilddarstellung. Sie zeichnete genau nach, wie die Textabfolge in den einzelnen Kuppeln organisiert wird, beschäftigte sich aber auch mit der Frage der Lesbarkeit und der Kalligraphie der Schrift.

Die fünf Kuppeln überspannen das Atrium, das nach wie vor in seiner Entstehung Fragen aufwirft, die auf der Tagung zu einer Kontroverse zwischen Beat Brenk und Rudolf Dellermann führten. Brenk hält die Umgestaltung des Atriums im 13. Jahrhundert für wesentlich weitreichender als Dellermann. Gestützt auf jüngste Ergebnisse der Bauforschung bewertet dieser das Atrium als Teil des Baukonzepts des im Dogat Domenico Contarinis (gest. 1071) begonnenen Kirchenbaus. Dellermann machte auch auf die nicht auf Dogen beschränkte Grabfunktion des Atriums und den Friedhof um San Marco aufmerksam, die eine intensive Memorialpraxis in der Vorhalle implizierten.

Brenk stellte auf der Grundlage eines breit geführten Vergleichs mit Nartices besonders im byzantinischen Bereich die Frage nach dem programmatischen Zusammenhang zwischen den Mosaiken der Vorhalle und den hier errichteten Dogengräbern (wobei er unterstrich, dass die Funktion des Atriums als dogale Grablege für das 11. Jahrhundert hypothetisch bleiben muss). In Venedig habe das Interesse bestanden, die dem Anspruch der Dogen entsprechend überaus aufwendige Ausstattung der Kirche durch ein alttestamentliches Programm zu ergänzen, das aber keinen Anhaltspunkt für einen Bezug auf die Gräber biete. Auf Reflexe der Portalsituation in den Mosaiken der Schöpfungskuppel wies Tobias Frese hin. Henry Maguire hatte alle Mosaiken der Vorhalle vor Augen, wenn er die zentrale Frage stellte, wem das Atrium als Plattform diente, dem Dogen oder den Klerikern von San Marco. Mit Thomas Dale (1994) teilt er die Meinung, dass es angemessen sei, von einer politischen Ausrichtung auszugehen. Auch die alttestamentlichen Darstellungen hätten nicht nur eine deskriptive, sondern auch eine interpretative Funktion. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf die Personifikationen der Tugenden Justitia, Charitas und Spes. Damit rückt er von Otto Demus, dem die Erforschung der Mosaiken von San Marco viel verdankt, und Kurt Weitzmann ab. Mit Dale sieht er in Joseph eine Repräsentanzfigur der guten Regierung und damit einen Prototyp oder ein Idealbild des Dogen.

An Michael Jacoff (2010) anschließend, führte Thomas Dale aus, dass die Genesismosaiken erlaubten, eine Verbindung von Venedig zum Heiligen Land, dem Ziel der Kreuzfahrer, und zu Ägypten, dem Ort des Martyriums des Evangelisten Markus herzustellen. Er suchte nach weiteren Indizien, wie sich Venedig in die Weltkarte des Heilsgeschehens eingetragen haben könnte. Politische Vorbilder einer idealen Regierung und die heilstopographische Propagierung seien so Hand in Hand gegangen.

Eine Publikation der Ergebnisse der Vorträge und der intensiven Diskussionen ist geplant. Die Tagung wurde finanziert von der Fritz Thyssen Stiftung, der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität sowie der Benvenuto Cellini-Gesellschaft Frankfurt am Main.

Kolloquiumsprogramm:

I Der Ort der Bilder. Funktionen des Atriums/ The Place of the Pictures. The Atrium's Function

Beat Brenk, Rom: Bildorte: Der Narthex als Ort von Mosaiken und Fresken
Rudolf Dellermann, München: Das Atrium von San Marco vor den Genesismosaiken - Aspekte der Bau-, Ausstattungs- und Nutzungsgeschichte
Tobias Frese, Heidelberg: Die Vorhalle als Paradies? Überlegungen zur mittelalterlichen Kirchensymbolik

II Exegese und Bildkritik. Die Cotton Genesis und ihre mittelalterlichen Adaptionen/ Theology and Picture Reception. The Cotton Genesis and its Medieval Adaptations

Herbert L. Kessler, Baltimore: “Ob hier wirklich ein geschichtlicher Zusammenhang existiert mag vorsichtigerweise bis zu einer genaueren Prüfung dahingestellt bleiben”: Thirteenth-Century Venetian Revisions of the Cotton Genesis Cycle
Martin Büchsel, Frankfurt: Theologie und Bildgenese. Modelle der Transformation antiker bzw. frühchristlicher Vorlagen
Alexander Brungs, Zürich: Augustinische Genesis-Auslegung und Beseelungslehre im frühen Mittelalter

III Theologie und Narration vor San Marco/ Theology and Narration before San Marco

Herbert Broderick, New York: Northern Light: Late Anglo-Saxon Genesis Illustration and the Mosaics of San Marco
Kathrin Müller, Frankfurt: Fragwürdige Bilder. Die Genesismosaiken in Monreale

IV Schrift, Narration und Ornament/ Writing, Narrative, and Ornament

Karin Krause, Basel: Die Inschriften der Genesismosaiken
Peter Scholz, Zürich: Die Geometrisierung des Göttlichen? Zur ornamentalen Darstellung Gottes in den Genesismosaiken von San Marco

V Politische Mythographien/ Political Subtexts

Henry Maguire, Baltimore: The Political Content of the Atrium Mosaics
Thomas Dale, Madison: Biblical Narratives of the Holy Land and Venetian Mythmaking of the Thirteenth Century

Empfohlene Zitation:
Rebecca Müller, Herbert L. Kessler, Martin Büchsel: [Tagungsbericht zu:] Das Atrium von San Marco in Venedig. Die Genese der Genesismosaiken (Bad Homburg, Forschungskolleg Humanwissenschaften, 22.–23.06.2012). In: ArtHist.net, 01.10.2012. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/3922>.

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