Spätestens seit dem Schwabinger Kunstfund und dessen Veröffentlichung im November 2013 ist Provenienzforschung in aller Munde und der Name Gurlitt ein prominenter Dauerbrenner. Jüngst hat die Ausstellung „Gurlitt. Eine Bilanz“, die von September 2022 bis Januar 2023 im Kunstmuseum Bern gezeigt wurde, die Faszination befeuert. Zuvor hatte die höchst umstrittene Restitution von Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“ durch den Berliner Senat im August 2006 bereits national und international hohe Wellen geschlagen.[1] Und auch die Diskussionen um die Eigentumsverhältnisse an den Elgin Marbles und den Benin-Bronzen vermögen es, wöchentlich Schlagzeilen zu produzieren. Befördert durch das mediale Interesse an NS-Raubgut und Kulturgut aus kolonialen Kontexten ist das Thema Provenienzforschung längst keines mehr für Spezialisten, sondern hat ein breites öffentliches Interesse gefunden. Die Frage nach Herkunft und Eigentum von Kulturgütern bewegt die Gemüter.
Die Zahl der Publikationen, die jedes Jahr zu Themen der Provenienzforschung erscheinen, ist für den Laien inzwischen kaum zu überblicken. Das Spektrum reicht von Tagungs- und Sammelbänden, die eingegrenzte Problematiken fokussieren, bis hin zu Veröffentlichungen, in denen einzelne Museen ihre Erkenntnisse zur Herkunft der eigenen Sammlung präsentieren. Zudem hält die Website des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste (DZK) ein umfangreiches Informationsangebot bereit. Darunter befinden sich auch kostenfreie PDF-Downloads, die dem Titel nach einführenden Charakter haben, wie der „Leitfaden Provenienzforschung“.[2]
Warum Christoph Zuschlags am 13. Oktober 2022 erschienene „Einführung in die Provenienzforschung“ es dennoch vermag, eine Lücke zu schließen, liegt an der Zielgruppe, die der Bonner Professor für die Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart in den Blick nimmt. Es sind nämlich in erster Linie Studierende und Lehrende, an die sich die Ausführungen des Hochschullehrers richten und nicht die Mitarbeiter*innen von Museen, Bibliotheken und Archiven für die der Leitfaden des DZK geschrieben wurde. Zweifellos kann aber auch letztere Gruppe diese Einführung mit Gewinn zur eigenen Selbstvergewisserung lesen. Doch auch der interessierte Laie, der den öffentlichen Diskurs zum Thema verfolgt, findet hier in allgemeinverständlicher Sprache die Grundlagen ausgebreitet, die eine Meinungsbildung ermöglichen.
Christoph Zuschlag forschte bereits zur Translokation von Kunst im Dritten Reich, bevor die Beschäftigung mit dem Thema en vogue und aufgrund der Washingtoner Prinzipien von 1998 zur moralischen Verpflichtung wurde. Bereits 1991 veröffentlichte er seine Dissertation zur Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ von 1937 und den in der Folge in ganz Deutschland gezeigten, gleichnamigen Propagandaausstellungen. Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Professur, die er seit 2018 bekleidet, hat die Schwerpunkte Provenienzforschung und Sammlungsgeschichte, sodass seine Erfahrung im Bereich der Lehre in das Buch eingeflossen ist.
Zunächst stellt Zuschlag fest, dass Provenienzforschung kein neues Phänomen ist, sondern seit jeher zum Kerngeschäft der Kunstgeschichte gehört. Lediglich das Erkenntnisinteresse hat sich gewandelt und erweitert. So war und ist die Herkunft eines Kunstwerks bei der Zuschreibung an einen Künstler stets von zentraler Bedeutung, da sie den materiellen und immateriellen Wert mit definiert. Nicht umsonst fälschte Wolfgang Beltracchi nicht nur Kunstwerke, sondern Provenienzmerkmale und Sammlungszugehörigkeiten gleich mit.
Die Rekonstruktion und Dokumentation von Objektbiografien trieb den homo colligens allerdings bereits um, bevor es Kunsthistoriker*innen gab. Von “legendarischen Provenienzen“ (S. 21f.) spricht Zuschlag bei Reliquien, denn die verehrten Skelettteile und Stoffreste erhalten erst durch Inszenierung und Herkunftsangabe ihre religiöse Überzeugungskraft. Über Inventare und Galeriewerke folgt Zuschlag der Geschichte der Provenienzangabe bis zu ihrer Verwissenschaftlichung im 19. Jahrhundert und ihrer Standardisierung im Jahr 2018.[3]
Vor der Inventarisierung und Dokumentation stand und steht für Kulturgüter oft ein langer Weg. Im dritten Kapitel unternimmt der Autor den Versuch, die Kontexte zu systematisieren, in denen Objekte transloziert werden. Mit historischem Blick umreißt Zuschlag das Feld der Translokationsforschung als einen wichtigen Teil der Provenienzforschung. Er beginnt seine Ausführungen über die Verbringung von Kulturgut in kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Triumphzügen antiker Herrscher und schlägt den Bogen über Napoleon bis zur staatlich angeordneten Verbringung von Kulturgut im Dritten Reich und den Trophäenjägern der Roten Armee nach 1945. Bereits mit der Haager Landkriegsordnung von 1907 hätte die Plünderung von Kulturgut im Krieg eigentlich ein Ende finden sollen. Der Raub und die Verwüstung in den Museen und Archiven im ukrainischen Cherson durch russische Besatzer vom Oktober 2022 zeigen allerdings, dass diese Praxis bis heute traurige Aktualität hat. Doch auch weniger dramatische Gründe für die Bewegung von Kunstwerken werden von Zuschlag thematisiert: vom Museumsbetrieb mit Leihverkehr bis hin zu Erbschaft und Kunsthandel.
Das „Herzstück“ seiner Einführung, wie Zuschlag es in der Einleitung selbst bezeichnet (S. 19), bilden die Kapitel vier und fünf. Ersteres beschäftigt sich mit den Methoden der Provenienzforschung. Kurz und knapp wird hier der ideale Ablauf einer einzelfallbezogenen Untersuchung vom Rückseitenbefund über die Recherche im eigenen Museumsarchiv bis hin zur Auswertung von Literatur, online-Datenbanken und externen Archiven geschildert. Die verschiedenen Probleme, die dabei selten allein, sondern häufig in Kombination auftreten, benennt Zuschlag ebenfalls: Wie gehe ich mit Provenienzlücken um? Kann ich überhaupt sicher sein, dass in den Quellen tatsächlich das in Frage stehende Werk gemeint ist (Stichwort Werkidentität)? Wie gehe ich mit seriell gefertigten Massenprodukten um, die obendrein im Konvolut erworben worden sind (Stichwort large scale collections)? Was sind die spezifischen Herausforderungen der Provenienzforschung in Bibliotheken, Archiven oder ethnologischen Sammlungen? Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Frage nach der Dokumentation und der zeitgemäßen Vermittlung der Rechercheergebnisse. Hier geht es nicht nur um die formale Standardisierung von Provenienzangaben wie sie 2018 durch den Leitfaden des Arbeitskreises Provenienzforschung e. V. vorgeschlagen wurde, sondern auch um die nachvollziehbare und nachprüfbare Dokumentation von Rechercheschritten. Unabhängig von dem/r Wissenschaftler*in, die eine Provenienzprüfung ursprünglich vorgenommen hat, muss es möglich sein, an bestehende Forschungsergebnisse anzuschließen, wenn etwa neue Quellen zugänglich werden.
Das eingangs beschriebene öffentliche Interesse an der Provenienzforschung, ob im Bereich des NS-Raubguts, der Aneignung in kolonialen Kontexten oder in jüngerer Zeit auch der SED-Diktatur, liegt sicherlich vor allem an der engen Verknüpfung mit begangenem Unrecht und dem gesellschaftlich verankerten Bedürfnis, dieses anzuerkennen, aufzuarbeiten und ggf. zu entschädigen. Unrechtskontexte liegen dann vor, wenn eine gesellschaftliche Konstellation Unrecht strukturell und systematisch begünstigt, wie es in den drei oben genannten Beispielen der Fall ist. Der Terminus Unrechtskontext ist dabei kein bindend definierter, juristischer Fachbegriff, sondern spiegelt gesellschaftliche Wertvorstellungen. Dass die Provenienzforschung, die nach 1998 (Washington Conference) vor allem nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut fahndete, mittlerweile auch Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in den Blick nimmt und zunehmend auch die Mechanismen des Kulturgutentzugs in der SBZ/DDR erforscht, bezeugt die Wandelbarkeit der Normen und Rechtsvorstellungen. Die wichtige Rolle, die die Provenienzforschung bei der Aufarbeitung von Unrechtskontexten spielen kann, reißt Zuschlag in Kapitel fünf an, das die historischen Kontexte und die daraus erwachsenen rechtlichen Rahmungen behandelt. Indem das Schicksal von Opfern thematisiert und die verbrecherischen Mechanismen hinter dem Kulturgutentzug herausgearbeitet werden, erfahren die Opfer Respekt, auch wenn Wiedergutmachung unmöglich bleibt.
Auf knapp 160 Seiten (plus Apparat) können die Interdisziplinarität, Komplexität und Vielschichtigkeit der Provenienzforschung von Christoph Zuschlag meist nur angerissen, Problemfelder oft nur aufgezeigt werden. Aber das liegt in der Natur einer Einführung. Die Literaturliste und die Hinweise zur Internetrecherche laden die Leser*innen ein, tiefer in die Materie einzusteigen. Die Stärke dieser Einführung in die Provenienzforschung besteht in den prägnanten Beispielen, die die überblicksartigen Ausführungen anschaulich machen. Sie führen vor, was in diesem Forschungsbereich geleistet wurde und wird, und wo noch Arbeit für Jahrzehnte wartet.
Anmerkungen:
[1] Erworben – Besessen – Vertan. Dokumentation zur Restitution von Ernst Ludwig Kirchners ‚Berliner Straßenszene‘, hg. v. Ludwig von Pufendorf für den Förderkreis Brücke-Museum, Bielefeld 2008.
[2] Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Leitfaden Provenienzforschung, online unter: https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Recherche/Leitfaden/Index.html, zuletzt geprüft am 08.02.2023.
[3] Leitfaden zur Standardisierung von Provenienzangaben, hg. v. Arbeitskreis Provenienzforschung, Hamburg 2018, Link: https://bit.ly/3IqsGyt [von der Red. gekürzt], zuletzt geprüft am 08.02.2023.
Zuschlag, Christoph: Einführung in die Provenienzforschung. Wie die Herkunft von Kulturgut entschlüsselt wird, München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 2022
ISBN-13: 978-3-406-78046-2, 237 Seiten u. 16 Tafeln, 28 € (21,99€ e-book), table of contents
Recommended Citation:
Corinna Alexandra Rader: [Review of:] Zuschlag, Christoph: Einführung in die Provenienzforschung. Wie die Herkunft von Kulturgut entschlüsselt wird, München 2022. In: ArtHist.net, Feb 15, 2023 (accessed Dec 23, 2024), <https://arthist.net/reviews/38573>.
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