Die Annexion der Herzogtümer Schleswig und Holstein durch Preußen und die anschließende Gründung der preußischen Provinz Schleswig-Holstein im Jahr 1867 brachten den ehemals dänisch regierten Fürstentümern eine entscheidende politische und wirtschaftliche Wende. Dennoch ist die historistische Architektur Schleswig-Holsteins bis heute – von wenigen monographischen Arbeiten abgesehen – kaum erforscht [1]. Dies gilt auch für die kaiserzeitliche Architektur der Stadt Kiel, die als Reichskriegshafen im Zentrum der Flottenpolitik Kaiser Wilhelms II. stand und sich binnen weniger Jahre zu einem bedeutenden Industriestandort des Deutschen Reiches entwickelte [2]. Entsprechend rasant stiegen die Einwohnerzahlen und damit auch das Bauaufkommen: 1867 zählte Kiel 24.000 Einwohner, 1900 waren es bereits 100.000 und 1910 hatte die Stadt die Marke von 200.000 Einwohnern überschritten.
Angesichts der Literaturlage ist die Publikation über den 1839 in Holstein geborenen Heinrich Moldenschardt, der sich 1867 kurz nach Inkrafttreten der preußischen Verfassung in Kiel als selbständiger Architekt niederließ und dort bis zu seinem Tod 1891 tätig war, sehr zu begrüßen. Als Ausnahme unter den schleswig-holsteinischen Architekten erscheint Moldenschardt bereits durch seine Ehrgeiz und Anspruch verratende Ausbildung: Nach drei Jahren Studium am Polytechnikum in Hannover, einer der bedeutendsten deutschen Architekturschulen unter Leitung von Conrad Wilhelm Hase, zog es ihn an das noch junge Polytechnikum in Zürich zu Gottfried Semper. Von beiden Architekten übernahm Moldenschardt Anregungen, gilt jedoch wegen seiner Vorliebe für die Neurenaissance vor allem als Semperschüler.
Der Schwerpunkt von Moldenschardts Tätigkeit liegt in Kiel, aber auch an anderen Orten der preußischen Provinz entstanden Bauten von seiner Hand wie beispielsweise die Bahnhofsgebäude entlang der Eisenbahnstrecke Kiel – Flensburg. Zu seinen prominentesten Arbeiten zählen das (kriegszerstörte) Thaulow-Museum gegenüber dem alten Kieler Bahnhof, der Ausbau der kaiserlichen Yacht „Hohenzollern“ und das Denkmal für die gefallenen Krieger von 1870/71 im Schlossgarten. In seinem Nachruf in der „Deutschen Bauzeitung“ (1891) wurde Moldenschardt als der bedeutendste und meistbeschäftigte Architekt der Elbherzogtümer bezeichnet. [3] Dass seine Bauten das Bild der Stadt Kiel prägten, ist angesichts ihrer weitgehenden Zerstörung – in erster Linie durch die Bomben des Zweiten Weltkrieges, aber in nicht unerheblichem Maße auch durch spätere Bauvorhaben – heute nicht mehr sichtbar. Kritik an dem zum Teil groben Umgang mit Moldenschardts Bauten wird daher zu Recht an mehreren Stellen des Buches laut.
Grundlage der Publikation wie auch einer von November 2009 bis Januar 2010 im Schloss Gottorf in Schleswig gezeigten Ausstellung ist der baukünstlerische Nachlass des Architekten, der Zeichnungen zu circa 150 Bauten und Projekten umfasst. Mit mehr als 3.400 Blättern zählt er zu den großen Architektennachlässen des 19. Jahrhunderts. Eine erste Untersuchung lieferte Dietmar Klewitz in seiner 1968 vorgelegten, leider unveröffentlichten Dissertation, von der eine knappe Zusammenfassung in „Nordelbingen“ erschien. [4] Angesichts der erst zu dieser Zeit überhaupt in den Blickpunkt von Fachwelt und Öffentlichkeit geratenen Architektur des Historismus erstaunt der frühe Zeitpunkt dieser Forschungsarbeit. Der Nachlass befindet sich heute als Dauerleihgabe der Stiftungen Schleswig-Holsteinische Landesmuseen im Architekturarchiv der Architekten- und Ingenieurkammer Schleswig-Holstein, wo die meist großformatigen kolorierten Zeichnungen konserviert werden und für weitere Forschung zugänglich sind.
In Ulrich Höhns Einführung „Ein Architekt des Historismus“ überrascht zunächst der Pessimismus gegenüber der Akzeptanz kaiserzeitlicher Architektur. Als „wenig geschätzt“ und „schwierige Epoche der Architekturgeschichte“ (S. 8) kann der Historismus mit Blick auf die allseits beliebten Gründerzeitbauten und die zahlreichen seit den 1970er Jahren erschienenen Publikationen schon lange nicht mehr gelten. Höhns Plädoyer für eine größere Wertschätzung dieser Epoche läuft daher etwas ins Leere, während sein Appell für einen stärkeren Schutz historistischer Architektur in Schleswig-Holstein berechtigt und notwendig ist.
In dem folgenden, zentralen Artikel des Buches liefert Höhns einen kompakten und informativen Überblick zu Moldenschardts Werk zwischen 1867 und 1891 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Architektur in der preußischen Provinz: Um 1870 zeigten die modernen Bauten in Schleswig-Holstein keine Bevorzugung eines bestimmten Stils. Während die vorwiegend von preußischen Baubeamten entworfenen Marinebauten der Berliner Schule zuzuordnen sind, wurde der Kirchenbau von der Neugotik Hannoverscher Prägung beherrscht, nicht jedoch andere öffentliche Bauten: „Die architektonische Situation schien offen zu sein“ (S. 22). Eine bedeutende Rolle spielte daher das 1875-78 in Renaissanceformen errichtete Thaulow-Museum, das als Hauptwerk Moldenschardts ausführlich vorgestellt wird. Zu den ab 1867 entstandenen Arbeiten, die sowohl Formen der Neurenaissance als auch neugotisches Vokabular zeigen, zählen auch mehrere Entwürfe für große internationale Wettbewerbe wie das Museum in Riga und das Konzerthaus in Leipzig. Mit seinem Engagement über die Landesgrenzen hinaus kommt Moldenschardt eine Sonderrolle unter den schleswig-holsteinischen Architekten zu. Der Schwerpunkt seines Werkes liegt jedoch auf dem privaten Wohnungsbau, vor allem auf anspruchsvollen und komplett ausgestatteten Häusern des gehobenen Bürgertums. Als Höhepunkt erscheint dabei Moldenschardts Zusammenarbeit mit dem Möbelfabrikanten und Direktor des Flensburger Kunstgewerbemuseums Heinrich Sauermann.
Mit Hans-Dieter Nägelkes Essay „Historismus in Schleswig-Holstein“ wird erstmals der Versuch unternommen, die schleswig-holsteinische Architektur in den gesamteuropäischen Historismus einzuordnen. Den Historismus definiert Nägelke einleitend als „eine durch die Krisenerfahrungen des Modernisierungsprozesses geprägte, intellektuell bestimmte Haltung zur Vergangenheit“ (S. 70). In den Herzogtümern Schleswig und Holstein setzte der Historismus demnach erst spät ein: Anders als in dem von Revolution und Kriegen erschütterten Kerneuropa habe der Dänische Gesamtstaat von 1773 bis zur Schleswig-Holsteinischen Erhebung 1848 eine „Phase äußerer wie innerer Stabilität“ erlebt, „die nur allmählich von nationalistischen Tendenzen bedroht wurde“ (S. 71). Den Historismus in Schleswig-Holstein als vergleichsweise späte Erscheinung zu deuten, die maßgeblich von Anregungen aus dem Ausland abhängig war, ist überzeugend, auch wenn die Epoche des sich formal wenig verändernden dänischen Klassizismus differenzierter betrachtet werden sollte: Mit Blick auf das 1806 von der dänischen Krone inkorporierte Herzogtum Holstein, das 1815 wiederum dem Deutschen Bund eingegliedert wurde, den Staatsbankrott von 1813, Uwe Jens Lornsens Verfassungswerk und die 1834 in Kraft getretene Provinzialständeverfassung ist kaum von einer stabilen Phase zu sprechen.
Ein interessantes Fallbeispiel liefert der seit 1859 geforderte Neubau des Kollegiengebäudes der Kieler Universität, das als Zeugnis der kulturellen Eigenständigkeit der Herzogtümer gegenüber dem Dänischen Gesamtstaat verstanden wurde. Der erst 1873-76 auf Betreiben des preußischen Kultusministeriums nach Entwurf von Martin Gropius und Heino Schmieden errichtete Bau zeigte jedoch einen eindeutig „preußischen Stil“. Wie Nägelke etwas vorsichtig formuliert sei es „gut möglich, dass die Berliner Zentralbehörden hier wie auch in den zahlreichen anderen Staatsbauten, die nach 1867 in Schleswig-Holstein entstanden, ein bewusstes Zeichen kultureller Inbesitznahme setzen wollten“ (S. 76). Dieser Versuch scheiterte jedoch, da in Berlin nach 1871 an Stelle der tektonischen Schinkelschule ein nach Bauaufgaben unterscheidender Stilpluralismus in reicheren Formen bevorzugt wurde.
Isabel Maria Arends gibt in ihrem Beitrag über die “Hase-Schule“ einen informativen und schlüssigen Überblick zu der sicherlich wichtigsten Architekturschule des 19. Jahrhunderts in Norddeutschland. Wie Arends betont, wurde die erste Phase der Hannoverschen Schule (1835-65) noch vom Rundbogenstil geprägt, erst um 1860 entfaltete sich die als „Sonderform der Neugotik“ bekannte Architektursprache. Als Student des Zivil-Baufaches (1856-59) erlebte Moldenschardt somit genau die Zeit der scharf geführten Stildiskussionen. Neben seinen neugotischen Arbeiten kann auch sein Interesse an der Innenarchitektur auf die Ausbildung bei Hase zurückgeführt werden. Im Konkreten bleiben die Gemeinsamkeiten jedoch zuweilen unklar: so nennt Arends zwar den Einfluss von Hases königlichem Lustschloss Marienburg (1858-62) auf einen neugotischen Wohnhausentwurf Moldenschardts (1861), worin die Übereinstimmungen genau bestehen, muss sich der Leser aber anhand der Abbildungen selbst erschließen.
Henrik Karges Artikel „Gottfried Semper als Vorbild“ behandelt Moldenschardts Schweizer Jahre von der Zeit am Polytechnikum (1860-62) bis 1867 und deren architektonische Prägung auf den jungen Architekten. Der besondere Wert von Moldenschardts planerischem ¼uvre liegt, wie Karge betont, in der Möglichkeit, die Werkgenese eines Semperschülers der frühen Züricher Jahre zu studieren. Die meisten seiner ab 1867 entstandenen Bauten zeigen eine Variante der Neurenaissance, die Karge als individuellen Stil ausgehend von Sempers Neurenaissance sächsischer Prägung und eigenen Studien in Italien interpretiert. Dass Moldenschardt mit seinen Neurenaissancebauten im preußischen Schleswig-Holstein eine weitgehend eigenständige, „eventuell auch isolierte Position“ eingenommen habe (S. 115), wäre noch genauer zu analysieren, schließlich hatte sich die Neurenaissance ab 1870 in großen Teilen der preußischen Provinz etabliert.
Mit der Publikation über Heinrich Moldenschardt wurde erstmals eine größere Auswahl von Arbeiten aus dem umfangreichen und architekturhistorisch höchst interessanten Nachlass veröffentlicht. Mit Blick auf die weitreichenden Zerstörungen seiner Bauten kommt den Entwürfen auch ein wichtiger dokumentarischer Wert zu. Die thematisch gut ausgewählten Beiträge liefern dem Leser zahlreiche Informationen über diesen für den Historismus in Schleswig-Holstein bedeutenden Architekten. Eine individuelle Handschrift Moldenschardts, die sich sowohl in den neugotischen als auch den Bauten in Renaissanceformen abzeichnet, wird jedoch nicht ganz deutlich; ebenso bleiben die betonte „hohe Qualität der Arbeit“ (S. 7) und seine „ausgeprägten künstlerischen Fähigkeiten“ (S. 35) weitgehend unbegründet. Ähnlich verhält es sich mit der Wertschätzung als „der herausragende Architekt des Historismus in Schleswig-Holstein“ (S. 15) und der Zuordnung zur „Spitzengruppe der deutschen Architekten“ (S. 35). Hierfür wäre eigentlich ein Vergleich mit den Bauten anderer führender Architekten der Zeit notwendig gewesen, vor allem Moldenschardts Kollegen in Schleswig-Holstein (wie Johannes Otzen und Hugo Groothoff). Auch fehlen Literaturverweise im Werkverzeichnis und eine kritische Auseinandersetzung mit anderen (älteren) Meinungen, wie der Einschätzung des früheren Landeskonservators Hartwig Beseler: „Moldenschardt war keiner der Großen seiner Zeit, doch in seiner grundsoliden Haltung geeignet, als Typus zu gelten.“[5] Allerdings versteht sich die als „Werkschau“ bezeichnete Publikation keineswegs als umfassende Forschungsarbeit zu Moldenschardt, sondern möchte vielmehr als Grundlage für weitergehende Untersuchungen dienen (S. 9).
Das Buch enthält reiches Bildmaterial mit zahlreichen großformatigen farbigen Abbildungen in guter Qualität. Besonders positiv erscheint, dass neben den ästhetisch ansprechenden Präsentationsblättern auch Grundrisse und Schnitte sowie – wo es möglich war – aktuelle Fotografien der Bauten gezeigt werden. Insgesamt erhält der Leser ein sehr sorgfältig aufgemachtes und informatives Buch, das einen wichtigen Beitrag zu der bis heute vernachlässigten Forschung zum Historismus in Schleswig-Holstein leistet.
Anmerkungen:
[1] Beseler, Hartwig: Bauten in Schleswig-Holstein 1830-1930, Heide 1970, 2. Auflage 1980, S. 14-21; David-Sirocko, Karen: Bauten höherer Schulen in Schleswig-Holstein im Kontext des Historismus und der Neugotik. In: Nordelbingen 61 (1992), S. 145-180. Wichtige Monographien: Bahns, Jörn: Johannes Otzen 1839-1911. Beiträge zur Baukunst des 19. Jahrhunderts, München 1971; Behrens, Sabine: Norddeutsche Kirchenbauten des Historismus. Die Sakralarchitektur Hugo Groothoffs 1851-1918, Kiel 2006.
[2] Melhorn, Dieter-J.: Architekturführer Kiel, Berlin 1997, S. 13; Nägelke, Hans-Dieter: Der Gropius-Bau der Kieler Universität. Architektur zwischen regionaler Identität und preußischer Politik, Kiel 1991; Stoy, Vera: Kiel auf dem Weg zur Großstadt: die städtebauliche Entwicklung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Kiel 2003.
[3] Todtenschau, Deutsche Bauzeitung 25 (1891), S. 452: nach Klewitz, Dietmar: Heinrich Moldenschardt (1839-1891). Ein Architekt des Historismus in Schleswig-Holstein, unveröffentlichte Dissertation, Technische Hochschule Darmstadt 1968, S. 29.
[4] Klewitz 1968 wie Anm. 3; ders.: Heinrich Moldenschardt (1839-1891). Semperschüler. Ein Architekt des Historismus in Schleswig-Holstein, in: Nordelbingen 38 (1969), S. 51-66. Vgl. Goerges, Nicole: Der Nachlass des Kieler Architekten Heinrich Moldenschardt (1839-1891). In: Nordelbingen 74 (2005), S. 177-190.
[5] Beseler wie Anm. 1, S. 22.
Höhns, Ulrich; Alberts, Klaus; Moldenschardt, Heinrich (Hrsg.): Heinrich Moldenschardt 1839 - 1891. Stilvolle Architektur in Schleswig-Holstein (= Schriftenreihe des Schleswig-Holsteinischen Archivs für Architektur und Ingenieurbaukunst; 7), Heide: Boyens Buchverlag 2009
ISBN-13: 978-3-8042-1289-3, 159 S.
Empfohlene Zitation:
Eva von Engelberg: [Rezension zu:] Höhns, Ulrich; Alberts, Klaus; Moldenschardt, Heinrich (Hrsg.): Heinrich Moldenschardt 1839 - 1891. Stilvolle Architektur in Schleswig-Holstein (= Schriftenreihe des Schleswig-Holsteinischen Archivs für Architektur und Ingenieurbaukunst; 7), Heide 2009. In: ArtHist.net, 03.09.2010. Letzter Zugriff 26.12.2024. <https://arthist.net/reviews/376>.
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