Raum und Zeit der documenta fifteen.
Die diesjährige documenta stand bereits vor ihrer Eröffnung in der Kritik, die seither nicht abgeklungen ist, im Gegenteil. Antisemitismus, zu wenig Kunst, Scheitern der Kollektive, Unbestimmtheit der ästhetischen Form im Politischen u.a. gehören zu den kontroversen Aspekten. Ästhetische Formen stehen und entstehen jedoch immer in Raum und Zeit. Der Name des indonesischen Kurator*innenkollektivs „ruangrupa“ ließe sich als „Kunstraum“ oder „Raumform“ übersetzen. Welche Räume bespielt also die documenta fifteen, auf welchen zeithistorischen Reflexionsraum verweist sie, was ist das „Lokale“ und wie verbindet es sich zu ästhetischer Erfahrung?
documenta als etablierter Reflexionsraum von Globalität
Jedes Nachdenken über Globalität enthält Fragen nach Räumen. Diese können politisch legitimiert und ästhetisch reflektiert werden. Das Kurator*innenkollektiv ruangrupa untersucht gemeinschaftlich geteilten Ressourcen, versinnbildlicht im lumbung, einer Reisscheune. Es thematisiert kaum wahrnehmbare Zonen und will das Kunstmachen partizipativ und mit möglichst wenigen Hierarchien organisieren.
Inklusion, Teilhabe und Gastfreundschaft sind jedoch seit langem gestellte Fragen auf der documenta. Sie lassen sich bereits auf Catherine Davids didaktischem „Parcours“ der documenta X finden, wurden dann 2002 vom Team um den nigerianischen Kurator Okwui Enwezor auf der Documenta11 nachhaltig globalisiert, indem im Vorfeld der eigentlichen Ausstellung in Wien/Berlin, Neu Delhi, St. Lucia und Lagos Versammlungsforen zur Verhandlung politischer, sozialer und ästhetischer Fragen geschaffen wurden. Die geografische Ausweitung 2002 war Teil einer Strategie, Prozesse der Dekolonisierung in Gang zu bringen. Die Documenta11 fand für diese Foren komplementär zum eigentlichen Ausstellungsraum in Kassel den Begriff der Plattform, der sicherlich der damaligen Hoffnung auf neue Formen des medialen Austauschs Ausdruck verlieh.
Plattform bezeichnete in der documenta-Geschichte einen potenziellen Raum des globalen Austauschs der Kultur, lang bevor man vor einigen Jahren im sogenannten Plattformkapitalismus die Eigenschaften transnational vernetzter Märkte analysierte.
Die Ungleichheit der Marktteilnehmenden wurde beispielsweise 2017 auf der documenta 14 zum Thema gemacht, als in einem erweiterten Ausstellungsprozess mit Athen und Kassel als gleichberechtigten Standorten die Frage nach Zentrum und Peripherie auf europäischer Ebene gestellt wurde. Was ist die Peripherie Europas, wenn Griechenland einerseits für die fundierende Kraft seines Denkens steht, jedoch andererseits das Beispiel für eine vermeintlich verschwenderische Praxis europäischer Wirtschaftspolitik abgeben kann?
Die documenta ist somit ein gutetablierter Denk-, Experimentier- und Ausstellungskontext für Formen global-künstlerischer Intervention, in der die vermeintlichen Zentren und Peripherien in einen neuen Austausch treten. Das Format documenta selbst ist schließlich ein Spiel mit der Peripherie, als die sonst eher regional bedeutende Mittelstadt Kassel einmal alle fünf Jahre für 100 Tage ein gewichtiges Aufmerksamkeits- und Diskurszentrum der transnationalen Kunstszene bildet.
Wahrscheinlich hat auch diese lange Praxis von Peripherie-Zentrums-Interaktionen die Findungskommission dazu bewogen, ruangrupa als Kurator*innen zu berufen und sie u.a. dazu aufgefordert, eine nachhaltige „Plattform“ für mehr Kollektivität und Beteiligung an und in der (lokalen) Kunst zu bilden.
Das Lokale der documenta fifteen – Suche nach der gemeinsamen Scheune
Was tun ruangrupa mit diesem global etablierten Kunstraum? Sie fokussieren erneut das „Lokale“. Orientierungshalber gibt es durchaus gewisse Zentren, beispielsweise des ruruhaus am Friedrichsplatz, für Veranstaltungen, Tickets und den Buchladen. Ein kleineres Ausstellungssegment im ruruhaus-Keller macht die lokale Dimension Kasseler Lebenskunst anschaulich.
„EINE LANDSCHAFT. Lokales Wissen Kassel Ost“ nennt sich eine dort ausliegende, kostenlose Publikation im handlichen Zeitungsformat. Gestaltet wurde sie in einem vernetzten Kontext künstlerisch-urbaner Forschung des Düsseldorfer Künstlers Markus Ambach und greift zurück auf eine für die d15 charakteristische „erfahrungsbasierte, ortsspezifische und kontextbezogene Arbeits- und Lebenspraxis“. Anhand von neun Transformations- (im Gegensatz zu Produktions-) Orten wird ein Kasseler Querschnitt von Initiativen und Mini-Institutionen vorgestellt, die ihr Lebenszentrum im selten beachteten Kasseler Osten gefunden haben. Die Koch- und Fluchtgeschichte eines syrischen Imbissbesitzers, die Leidenschaft eines Autoschraubers oder eine Mikro-Bio-Brauerei erscheinen auf den ersten Blick wie mäßig originelle, erzählte Werbeanzeigen für Kleinunternehmer, bei näherem Hinsehen erkennt man dennoch die ‚Verankerung’ dieser Lebens- und Arbeitspraxis im Kasseler Gesamtgeschehen des marginalisierten Ostens.
Die Darstellung dieser ästhetischen Praxis zeigt sich in einer Sektion über Prostitution, die exakt zu documenta-Zeiten ein überdurchschnittlich hohes Aufkommen von sexuellen Dienstleistungen erkennen lässt. Was in den zumeist asymmetrischen und erkauften Intimbeziehungen genau geschieht, ist unsichtbar; so lautet auch folgerichtig der Titel dieses Kapitels und zeigt repräsentativ eine schwarze Druckseite.
Die Zeitschrift ist das Ergebnis eines zweijährigen Forschungsprozesses, den der documenta-Künstler mit den verschiedenen Protagonist*innen auf seiner Durchforstung des Lebens im Kasseler Osten durchlaufen hat. Dieser Prozess ist nicht immer plausibel darstellbar, die Zeitung „EINE LANDSCHAFT“ zeigt viele Gruppen- und Einzelfotos, einige Karten und Abbildungen von eigentlich unspektakulärem, täglichen Tun. Ambach versteht seine Kunst genau in der Herstellung dieser Einzelmomente, in denen Lebens- und Arbeitsorte wenig prominenter Menschen als Zusammenkunft von Erfahrung und einer Kunst im Sinne geteilter Praxis entstehen.
Probleme wirft diese Praxis auf, wenn sie als allzu ‚natürlich’ auftritt. Dass ein Stück Garten durchaus ein Ort sein kann, an dem Menschen zusammenfinden und dabei „Gemeinschaft“ erleben, ist vielerorts vorstellbar. Und doch lässt es sich als vermeintlich ‚naturnahe’ Lebensform nicht universalisieren, so weist auch Ambachs Publikation auf das westliche Konzept romantischer Gartenidyllen hin, welches hier zum gemeinsam gefeierten Nutzgarten und Versorgungsanker wird. Manchmal scheint sie kurz auf, die Scheune als ästhetische und soziale Praxis.
Der Tenor der meisten im Naturkundemuseum Ottoneum ausgestellten Arbeiten lautet: Am Anfang aller Geschichten war das Dorf, dessen Bauern von dem lebten, was sie selbst produzierten. Beim zweiten Hinschauen ist die „Tropics Story“ des koreanischen Kollektivs ikkibawiKrrr über japanischen Kolonialismus jedoch disharmonischer als ein solch simpler Rousseauismus. Rousseau betonte die Entwicklung des Menschen und die Schritte des Lernens. Das spanische Kollektiv INLAND versteht seine künstlerische Forschung auch als ein „Curriculum“ für das ökologische Interagieren des Menschen, sie koordinieren das Netzwerk „Confederacy of Villages“ und in dessen Beschreibung im Kurzführer steht zu Beginn der Begriff „Plattform“. Bringt die documenta fifteen also rurale Plattformen hervor? Auch die für diese Ausstellung zentrale Semantik des lumbung deutet in die Richtung einer ländlichen Verortung. Doch wo haben die 4,5 Milliarden Stadtbewohner*innen der Welt ihre derart organisierte „Scheune“?
Evidenz des Kämpfens und Abhängens
Das implizite oder explizite Zentrum jeder documenta-Ausstellung war/ist das Fridericianum, jener repräsentative Museumsbau der hessischen Aufklärung, dessen Gestaltung der sechs ionischen Säulen am Eingang frühzeitig einen Eindruck der gestalterischen Grundstimmung vermittelt. Dan Perjovschi bietet hier mit seinen großflächig pointierten Zeichnungen und Cartoon-Wortwitzen einen betont niederschwelligen Zugang zur einst hohen Kunst. Und diejenige, die sich einst von den ausgestellten readymades und Alltagsgegenständen der Konzeptkunst mit den verächtlich gemeinten Worten „Das kann doch jedes Kind!“ abwandte, wird gleich links hinter dem Eingang mit der ersten Spielgruppe der documenta-Geschichte konfrontiert. Im Raum rurukids können Workshops, Rollenspiele, Malen und vieles mehr stattfinden. Wenn im Erdgeschoss also ein zusammengezimmerter Raum zum Zocken für Jugendliche eingerichtet ist und Hängematten die legendäre Rotunde des ersten Museumsbaus auf dem europäischen Kontinent zieren, so ist die Kunst mehr als eindeutig vom Sockel geholt.
So umweht das Fridericianum nun eine brisante Mischung aus Kämpfen und Abhängen. Dass der Widerstand algerischer Frauen, People of Colour oder der Roma gegen alltägliche Unterdrückung tatsächlich Gestalt gewinnt, indem die Zuschauerin es sich auf Stühlen oder im Sitzsack bequem macht, um sich Fotografien, Bücher oder Filme anzuschauen, dass sich also die Dramatik politischer Kämpfe manifestiert, indem der Betrachter dokumentarische Medien konsumiert, erscheint zunächst abwegig.
Und dennoch konnte ich einige Elemente des Entstehens kollektiven Austauschs anhand einer Videodokumentation des 2016 in Tunis gegründeten Kollektivs El Warcha nachvollziehen. Vom bequemen Holzstuhl aus zeigte sich in Interviewschnipseln mit Mitgliedern der Gruppe, gemeinsamen Koch- und Diskussionstreffen, dem gemeinsamen Bauen von Installationen, zwischenzeitlichem Gesang (Es wird sehr viel auf dieser documenta gesungen!) eine Möglichkeit, die Gemeinschaft ins Werk zu setzen.
Angesichts der vielen documenta-Kollektive, die das Medium Film verwenden, ließen sich durchaus Fragen zur Medialität dieses alltäglichen Mediums anschließen. Mit welchen filmischen Techniken erzählt sich ästhetische oder künstlerische Praxis? Einige Filme der Ausstellung folgen eher der Logik eines So-ist-es-gewesen, ohne die Gemachtheit dieser Evidenz in Frage zu stellen. Es tut insofern gut, in der Installation des syrischen Kollektivs Komina Film Fragen der teilnehmenden Protagonisten wie „Filmt ihr schon?“ zu sehen, um die ‚Natur’ des Filmens selbst in Frage zu stellen. Denn es ist selbst soziale wie ästhetische Praxis, welches den darzustellenden Raum des Politischen mitgestaltet.
Die wirkungsmächtige Relevanz dieser documenta besteht darin, Ästhetik im wahrsten Sinne des Wortes zugänglich zu machen und der Kunst einen alltäglichen Raum der Erfahrung zu verleihen. Und dennoch scheitert sie in Teilen daran, die Ausstellungsorte nicht besucher*innenfreundlich zusammenzuführen. Ruangrupa lenkt die Frage nach Zentrum und Peripherie auf das Stadtgebiet Kassel. Das führt dazu, dass die d15-Standorte weit auseinanderliegen. Straßenbahnen des ÖPNV bringen das Publikum an die erwähnte Randzone des Kasseler Ostens.
Der umfangreiche Standort „Hafenstraße“ dagegen ist auf den ersten Blick vom Zentrum aus nur fußläufig erreichbar, was beispielsweise vom Fridericianum aus fast eine dreiviertel Stunde dauert. Auswärtige, die sich nur zwei Tage Übernachtung in der Stadt leisten können, müssen sich von der Idee verabschieden, den größten Teil der ausgestellten Arbeiten zu sehen. Drei Tage ist eigentlich für diese documenta das Besuchs-Minimum. Das ‚Abhängen’ und im lockeren Gespräch neue Freund*innen zu finden, ist sicherlich eine gutgemeinte Idee, bei einem Eintrittspreis von 27€ pro Tag sind dem gewisse ökonomische Grenzen gesetzt.
Wer kann also diese Ausstellung in der Präsenz aller ihrer Örtlichkeiten wirklich erfahren? Die ortsansässige Bevölkerung Kassels mittels einer Dauerkarte! Für sie ist diese Ausstellung sehr ergiebig. Die auswärtigen Besucher*innen mussten dagegen über gute finanzielle Ressourcen (eine gefüllte Reisscheune) für Übernachtungen und Eintrittspreise plus örtliche Verpflegung verfügen. Ob dieser ‚Orts’-Effekt von den Macher*innen so intendiert ist, bleibt Spekulation. Man hätte damit eine ehemalige Weltkunstschau gewissermaßen konsequent ‚provinzialisiert’, im positiven Sinn.
So treffend die documenta einerseits vorführt, dass man (kollektive) ästhetische Erfahrungen nur dann machen kann, wenn sich Besucher*innen auf ortsspezifische Wahrnehmungsprozesse einlassen, so wenig erfahrbar mag dies für diejenigen bleiben, die nicht über die notwendigen Zeit- und Geldressourcen verfügen.
Kaiza, A. K. (Hrsg.): documenta fifteen Handbuch. Deutsch, Berlin: Hatje Cantz Verlag 2022
ISBN-13: 978-3-7757-5282-4, 1 Online-Ressource (301 Seiten), Deutsch, Englisch, ePDF
Empfohlene Zitation:
Gregor Kanitz: [Rezension zu:] documenta fifteen (Kassel, 18.06.–25.09.2022). In: ArtHist.net, 24.09.2022. Letzter Zugriff 27.11.2024. <https://arthist.net/reviews/37505>.
Dieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.