REV-CONF 18.06.2007

Bildprozesse

ZKM, Karlsruhe, 03.–04.05.2007

Bericht von Martina Sauer, Bühl
Redaktion: Carolin Behrmann

Bildprozesse. Imagination und das Imaginäre im Dialog zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, ZKM, Karlsruhe.

Wie entstehen Bilder im Kopf und in welchem Verhältnis stehen diese zu den produzierten Bildern - auf der Leinwand, im Film, in sprachlichen Zeichen und in wissenschaftlichen Modellen? Imagination (Einbildungskraft) auf der einen Seite und das Imaginäre (das Phantasierte) auf der anderen Seite treffen in diesen Fragen unmittelbar aufeinander. Mit Hilfe naturwissenschaftlicher Ansätze und bildwissenschaftlicher Fragehorizonte wurde auf der Tagung "Bildprozesse. Imagination und das Imaginäre im Dialog zwischen Kultur- und Naturwissenschaft" des Graduiertenkollegs "Bild - Körper - Medium" der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe zwei Tage lang nach Antworten gesucht [1]. Im Vorfeld bildeten dazu Forscher aus den Bild- und Neurowissenschaften sowie der Psychologie Tandems und stellten in einem - etwas zu - dichten Programm von 9 bzw. 18 Referaten die Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit vor [2].

Aus der Perspektive eines Bildwissenschaftlers (aus der allein berichtet werden kann), für den sich hier ein neues Feld eröffnete, waren insbesondere die Antworten der Naturwissenschaften von Interesse. Was bedeutet es für sie, wenn von "Aufmerken, Ausrichten und Wahrnehmen" die Rede ist? Olaf Breidbach (Neurobiologie und Philosophie, Jena) verwies auf "Neuronenantworten". Gemeint sind damit die Reaktionen von Neuronen im Gehirn auf Stimulationen von außen. Mit Hilfe der funktionalen Magnetresonanztomographie (fMRT) können diese visualisiert werden. Auf ein "Ich" dahinter, lassen diese, so Breidbach, jedoch zunächst keine Rückschlüsse zu. In den Beiträgen von Rudolf Groner (Allgemeine und Medienpsychologie, Bern) und Christoph Klein (Neurowissenschaft, Bangor/ Großbritannien) wurde dieser Zusammenhang mit Blick auf die Tätigkeit des menschlichen Auges präzisiert. Demnach erfolgen die Augenbewegungen nicht gleichförmig, sondern in Sakkaden (Blickrichtungswechseln bzw. Sprüngen, ca. drei Mal pro Sekunde) und Fixationen (Stillstellungen) des Auges. Sogenannte top-down ("von oben", willentliche) und bottom-up (nicht willentliche, von außen gesteuerte) Informationsverarbeitungsprozesse nehmen darauf Einfluss. So wird die Wahrnehmung einerseits von den eigenen, individuellen Differenzen (Kultur, Vorwissen, etc.) und andererseits von äußeren visuellen Reizmerkmalen, wie etwa der Helligkeit, Farbe und Ausrichtung des Stimulans gesteuert. Wobei sich die bottom-up-Prozesse gegenüber den top-down-Prozessen, so Groner, als evolutionär sehr effizient und robust erwiesen haben. Daran schließen sich "Suchprozesse" an, in deren Verlauf, so lässt sich ergänzen, im Anschluss an die bottom-up-Prozesse ein bewusster Gesamteindruck ohne Detailwahrnehmung entsteht ("vision at a glance", pop-out bzw. feature-search) bzw. in Weiterführung der top-down-Prozesse Details gezielt herausgestellt werden (conjunction bzw. serial search) [3].

Dass zudem über die Beobachtung von Hirnprozessen auf das Verhalten und Erleben geschlossen werden könne, machte der Tandempartner Breidbachs Kai Vogeley (Kognitive Neurowissenschaft und Philosophie, Köln) aufmerksam. Anknüpfungspunkte bildeten für ihn ebenso wie für spätere Referenten zum Thema die "mirror neurons" (Spiegelneuronen). So wurde zunächst an Affen (Makaken) beobachtet, dass, wenn diese einen anderen Affen z.B. nach einer Banane greifen sehen, im Hirn dieselben Regionen (F5) aktiviert werden, so als würden sie selbst danach greifen [4].

Von zwei Seiten beleuchteten die Literaturwissenschaftlerin Birgit Mersmann (Basel und Wien) und der Psychologe Rudolf Groner das Lesen lernen von japanischen und chinesischen Schriftzeichen im Gegensatz zum Englischen. Beim Lernen der logographischen japanischen und chinesischen Schriftzeichen spielen visuelle Diskrimination und sensomotorische Lernprozesse eine größere Rolle als bei den alphabetischen Schriften [5]. Die Zeichen werden visuell erfasst und durch stetes Schreiben eingeübt, während lautsprachliche Elemente, die für das Buchstabieren einer alphabetisch aufgebauten Sprache grundlegend sind, in geringerem Ausmaß notwendig seien. Eine stärkere neuronale Stimulierung lasse sich entsprechend in der rechten, okzipitalen Hirnregion beobachten, in der das bildräumliche Erkennen erfolge.

Inwiefern es möglich sein kann, eine bildwissenschaftliche These, zumindest vom Ansatz her, in einen neurowissenschaftlichen Versuchsaufbau umzusetzen, vermittelte Martin Kurthen (Neurologie, Zürich). Aufgefordert wurde er dazu von Marc Jongen (Philosophie, Karlsruhe), der im Anschluss an Vilém Flusser die These formulierte, dass die nachgeschichtliche Epoche (nach der rationalen, geschichtlich-linearen) von einem Denken in Hyperbildern - "Bildern von Begriffen" - geprägt sei. Ein neurowissenschaftliches Experiment, das diesen Perspektivenwechsel von "der sprachlichen zur nachsprachlichen Kognitation messen könne", erfolge in der Regel, so Kurthen, entsprechend drei Ebenen. Erstens einer Handlungsanweisung, der zweitens eine spezifische Theorie der kognitiven Funktion zu Grunde liege, die drittens über eine Apparatur gemessen werde. Ein theoretischer Schlüssel zur Messung könnten hier die bereits erwähnten Spiegelneuronen sein, die im Sprachzentrum des Menschen (Broca-Areal) liegen. Ein Absinken von Sprache in basale oder - wie hier vermutet - in eine höherstufige Form ließe schließlich Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Hyperimagination zu [6].

Hans Dieter Huber (Kunstwissenschaft, Stuttgart und Wien) setzte mit seinem Abendvortrag den Schwerpunkt auf die Phantasie, die sich an den Leerstellen und nicht am Sichtbaren entzünde. Die Leerstellen, so Huber, können sowohl simulierend (reproduktiv, bildhaft-erinnernd) als auch stimulierend (zukunftsweisend, schöpferisch-bildhaft) wirken. Die Phantasie (Imagination) könne entsprechend "als das eigentliche Leben" angesehen werden, die für die Wahrnehmung ein Korrektiv darstelle. Das habe methodisch-didaktische Konsequenzen, so Huber. So gelte es die Kreativität, die durch die Phantasie freigesetzt werde, aktiv zu stärken, zu formen und zu bilden und nicht sich selbst zu überlassen.

Wie lässt sich der Prozess der Kunstbetrachtung besser verstehen? Mit Hilfe physiologisch-psychologischer Untersuchungen geht der Kunstwissenschaftler Raphael Rosenberg (Heidelberg) dieser Frage seit einiger Zeit gemeinsam mit dem Neurowissenschaftler Christoph Klein nach. Das von ihnen entwickelte "psychologisch interaktionistische Modell der ästhetischen Erfahrung", mit dem die Blickbewegungen bei der Bildbetrachtung gemessen werden können, zeigt, dass Experten Gemälde anders, nämlich strukturierter betrachten als Laien [7].

Wie ein Bild die Imagination anzuregen vermag, so dass es, dem Ansatz William T. Mitchells nachfolgend, als "quasi-lebendig" empfunden werde, zeigte Christiane Kruse (Kunstwissenschaft, Marburg) am Beispiel einer barocken Bildbeschreibung auf. Doch wie Empathie funktioniert, die eine solche Betrachtungsweise voraussetzt, ist für die Naturwissenschaften, so Thomas Götz (Neurobiologie und Psychiatrie, Berlin), noch offen. Vielmehr können mit Hilfe der Reaktionen von Spiegelneuronen nur erste Rückschlüsse auf motorische bzw. handlungsbezogene (embodied cognition) oder auch emotionale Elemente gezogen werden.

Die Frage, wie in anatomischen Zeichnungen Morphologie (Bild) und Funktion (Sinn) aufeinander bezogen werden, wurde für das Tandem Tanja Klemm (Kunstwissenschaft, Berlin) und Giovanni Galizia (Neurobiologie, Konstanz) leitend. Hier zeigte sich, obwohl dies nicht explizit ausgesprochen wurde, dass anatomische Bilder sowohl im Mittelalter als auch in der heutigen Wissenschaft als Projektionsflächen für Theorien angesehen werden können. Klemm stütze sich dabei auf frühe Zeichnungen aus dem 14. bis 16. Jahrhundert, u. a. von Leonardo und Dryander. Anatomie und Funktion seien in ihnen deutlich von einander getrennt, so Klemm. Statt auf den Ort (Lokalisation eines Sinnesorgans) und die entsprechende Funktion verweisen diese Zeichnungen wie "Kippformulare" auf die zu ihnen gehörigen Texte bzw. auf die Seele des Menschen. Am Beispiel der Duftwahrnehmung von Insekten zeigte Galizia auf, wie heute in den Naturwissenschaften Bilder genutzt werden: sehr schematisiert und normiert. Sie dienen weniger wissenschaftlichen Zwecken als zur Kommunikation, bzw. als "reine Projektionsflächen für Theorien". Die für einen Bildwissenschaftler spannende Frage nach der Eigengesetzlichkeit der Wahrnehmung gegenüber dem Denken und damit der Bilder gegenüber den Theorien kam hier leider nicht auf.

Naturwissenschaftler, so lässt sich zusammenfassen, blicken nicht auf Bilder, sie arbeiten mit ihnen, sei es als Mittel zur Kommunikation und Theoriebildung oder zur neurologischen, physiologisch-psychologischen Untersuchung des Wahrnehmungsprozesses selbst. Sie befragen sie nicht um ihrer selbst willen. Welche Theorie mit welchem Bild und wie vermittelt wird steht für sie nur funktional, jedoch nicht grundlegend zur Diskussion. Erst wenn am Ende der verfolgten Wahrnehmungsprozesse deutlich wird, wie sehr diese Prozesse von bottom-up und top-down-Prozessen bzw. von äußeren Faktoren und von bewusst selektierenden Prozessen beeinflusst sind, wird es wohl nicht nur für einen Bildwissenschaftler spannend. Richtet sich der Blick etwa weniger auf die top-down als auf die bottom-up-Prozesse, stellt sich die Frage, von was und wie diese im Bild stimuliert werden. Wie frei ist dann die Wahrnehmung eigentlich? Allein in der Erforschung dieser Fragen liegen, so ein erstes Fazit, die Chancen für eine weitere fruchtbare Zusammenarbeit.

Anmerkungen:
[1] Für die Konzeption der Tagung zeichnen verantwortlich Christiane Kruse, Birgit Mersmann, Tanja Klemm und Frank Furtwängler.
[2] Nicht eigens besprochen werden die Beiträge von Carsten Juwig/Bartosz Zurkowski, Raphaèle Preisinger/Matthias Schmidt und Barbara Stafford, deren Tandempartner Warren Neidich nicht erscheinen konnte.
[3] Vgl. hierzu ergänzend den Glossar zu Wahrnehmungsprozessen bzw. Augenbewegungen des Instituts für Psychologie III, Angewandte Kognitionsforschung der Technischen Universität Dresden1 (08.05.2007)
[4] Vgl. u.a. ergänzend: Lexikon, Wiener Zeitung: Intuitives Gedankenlesen, Die Rolle der Spiegelneuronen beim Erfassen der Absichten anderer Menschen von Peter Markl (Analytische Chemie, Wien) 2 (08.05.2007)
[5] Vgl. Groner, R. (1998). Bild und Schrift. Medienpsychologische Betrachtungen und experimentelle Analyse ihrer Interaktion und Schrift (in FestCD Lang).pdf (08.05.2007)
[6] Vgl. Anm. 4, zur Lokalisierung von Spiegelneuronen: "Diese Beobachtung liefert vielleicht den neurobiologischen Beweis der seit langem diskutierten Vermutung, dass primitive manuelle Gesten der Evolution der Sprache vorausgegangen sein könnten.".
[7] Vgl. hierzu die erste Zusammenfassung der Ergebnisse des Forschungsteams von Ulla Bettge, Augenbewegungsforschung. Der gefesselte Blick, in: Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 102, Heft 121, v. 25.05.2005, A 1534, 27. Mai 2005.

Empfohlene Zitation:
Martina Sauer: [Tagungsbericht zu:] Bildprozesse (ZKM, Karlsruhe, 03.–04.05.2007). In: ArtHist.net, 18.06.2007. Letzter Zugriff 27.12.2024. <https://arthist.net/reviews/370>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^