REV 11.12.2003

Christiane L. Joost-Gaugier: Raphael's Stanza della Segnatura

Rezensiert von Ulrich Pfisterer, LMU München
Redaktion: Rainer Donandt

Christiane L. Joost-Gaugier kennt die Arbeiten von Erwin Panofsky nicht. Nur so läßt sich erklären, daß 63 Jahre nach Veröffentlichung der „Studies in Iconology“ mit der überarbeiteten englischen Fassung von Panofskys methodischer Grundlegung der Ikonographie und Ikonologie (nochmals 1955 publiziert in „Meaning in the Visual Arts“) ein Buch erscheinen kann, das zwar im Titel eine Untersuchung zur ‚Bedeutung‘ von Raffaels Stanza della Segnatura ankündigt, dann aber permanent gegen die Regeln des Dreischritts von vor-ikonographischer Beschreibung, ikonographischer und ikonologischer Analyse und ihren jeweiligen kritischen Kontrollmöglichkeiten verstößt.

Das Vorhaben, die ‚ganze Stanza‘ - das erste Ausstattungsprojekt Raffaels für Julius II. und den Vatikan, begonnen wohl Ende 1508, beendet 1511 - interpretierend in den Blick zu nehmen, wird mit der schlechten Literaturlage gerechtfertigt (S. 1): „Little has been said ...“ - gerne gesteht man zu, daß eine ‚definitive Deutung‘ des Raumprogramms noch aussteht, aber der Thematik der Fresken ‚wenig Forschungsinteresse‘ zu attestieren, irritiert angesichts der zahlreichen Studien von E. Wind, G.I. Hoogewerff, H. v. Einem, J. Shearman, M. Winner und vielen anderen. Zumal die ‚ganze Stanza‘ bei Joost-Gaugier keineswegs bedeutet, daß nun tatsächlich alle Bildfelder und -gegenstände behandelt oder auch nur aufgezählt würden: Die Autorin erspart dem Leser vielmehr alles außerhalb ihrer Thesen (S. 7) - so sucht man etwa im Haupttext vergebens einen Hinweis darauf, daß das Justinian-Fresko mit größter Wahrscheinlichkeit gar nicht von Raffael, sondern von Lorenzo Lotto stammt (dann doch noch vermerkt in Anm. 1 zu S. 136), ganz unerwähnt bleiben die selten abgebildeten Grisaillen der Fensterlaibungen mit ihren programmatischen Szenen (Richtspruch des Zaleucus, ‚Zwei-Schwerter-Lehre‘ usw.).[1] Eine Vorstellung gar vom größeren Kontext der Stanza im Gefüge des Vatikanischen Palastes oder auch von den Forschungskontroversen, dem jeweiligen Beitrag früherer Autoren, der Grenzlinie zwischen Gesichertem und eigener Mutmaßung - all dies lassen die 172 Text- und 67 Anmerkungsseiten weitgehend im Unklaren.

Die wirkliche Verunsicherung des Lesers beginnt jedoch mit Kapitel 2 und 3, wird hier doch Tommaso ‚Fedra‘ Inghirami noch vor jeder Analyse der Bilder und sozusagen ex cathedra als Programmentwerfer mit ausführlicher Biographie vorgestellt. Die Argumente für diese fundamentale Zuweisung sind verblüffend einfach: Inghirami kannte nachweislich sowohl Raffael als auch Julius II., dessen Bibliothekar er 1505 wurde. Die Stanza della Segnatura diente (wahrscheinlich) ursprünglich als Bibliothek. Ihre Fresken zeigen zudem viele griechische Gelehrte und Dichter, der Papst selber beherrschte aber kein Griechisch, dafür Inghirami - also könne am päpstlichen Hof (mit seinen Heerscharen von Humanisten) eigentlich nur dieser als Inventor in Frage kommen. Vorausgreifend sei gleich anmerkt, daß auch die späteren Seiten des Buches für diese an sich nicht unplausible Hypothese keinen auch nur entfernt zwingenden Beweis erbringen. Streng genommen erfährt man insgesamt sehr wenig über die ‚Erfindung‘ des Programms, die Entwurfs- und Entscheidungsprozesse zwischen Papst, humanistisch-theologischem Berater und Künstler: Der ‚Biographismus‘, dem die Autorin huldigt, scheidet Julius als ‚Kriegerpapst‘ eigentlich von jedem subtileren Verständnis seiner in Auftrag gegebenen Fresken aus. Der ‚humanistische Kontext‘ wird ohne wirkliche Berührungspunkte parallel zur Bildbetrachtung entwickelt. Und wieso ist keine einzige der Vorstudien und Entwurfszeichnungen Raffaels abgebildet, deren Analyse doch die Programm-Genese hätte nachvollziehen helfen (eine kurze Erwähnung S. 65)?

Spätestens mit Kapitel 7 und 8, gewidmet der „Schule von Athen“ und dem „Parnaß“, drängt dann die Frage nach dem ‚Who is who?‘ unaufhaltsam in den Vordergrund: Es geht nun auf weiten Strecken darum, Philosophen-, Dichter-, Theologen- und Künstlerporträts zu identifizieren - u.a. Pindar als Pendant Sapphos am Fuße des Parnaß oder Apelles und Protogenes am rechten Rand der „Schule von Athen“ -, wobei sich Giovanni Pico della Mirandola als ein vermeintlicher Hauptprotagonist herausstellt, den Joost-Gaugier nicht nur in dem blond gelockten Jüngling im linken Vordergrund der „Disputà“, sondern auch noch gleich zweimal auf der „Schule von Athen“ ausmacht, nämlich in dem weiß gekleideten Jüngling links, der den Betrachter anblickt, und seinem die Treppe hinaufsteigenden Pendant rechts.

Für die hier allenthalben zum Tragen kommende ‚Beweisführung‘ sei nur ein Beispiel näher erläutert, nämlich die Frage, nach welchen Vorbildern oder Überlegungen Raffael die Physiognomien seiner zentralen Gestalten Platon und Aristoteles gestaltete. Aufgrund der Ähnlichkeit von Raffaels Platon mit der bekannten Turiner Leonardo-Zeichnung eines bärtigen älteren Mannes folgert Joost-Gaugier, diese zeige „mit Sicherheit“ kein Selbstbildnis Leonardos, wie meist angenommen, sondern müsse angesichts ihrer Bezüge zu antiken Platon-Bildnissen (welchen?) viel eher als Nachzeichnung der verlorenen Platon-Büste der Florentiner Akademie gelten - nach dieser sechs Zeilen umfassenden Argumentation (S. 92f.) ist für die Autorin eindeutig: Leonardos Zeichnung zeigt Platon, womit die Vorstellung von dessen Bildnis um 1500 nachgewiesen ist. Der intensiv um antiquarisch korrekte Antikenrezeption bemühte Raffael habe dann für den Aristoteles wohl ebenfalls eines von dessen in der Renaissance bekannten antiken Bildnissen adaptiert - Joost-Gaugiers Vergleichsabbildung (14) zeigt eine Büste aus der Villa Albani. Aber warum soll dieser Inschriften-lose Kopf auf weitgehend erneuerter Büste Aristoteles darstellen? Der wissenschaftliche Katalog der Villa Albani identifiziert einen unbekannten „bärtigen Athleten (?)“, dessen vage Ähnlichkeit mit den Philosophen-Bildnissen aus der gleichen Entstehungszeit der den römischen Repliken zugrunde liegenden griechischen Originale resultiert.[2] Nun wird niemand - außer stellenweise Joost-Gaugier (etwa S. 127f.) - das Wissen der modernen Archäologie für Raffael voraussetzen, so daß man für das 16. Jh. immer noch von einer Verwechslung des Athleten-Kopfes mit Aristoteles ausgehen könnte. Aber gerade für Aristoteles läßt sich die Renaissance-Vorstellung von seinem Aussehen anhand von Buchmalereien, Medaillen, Plaketten und Büsten recht genau rekonstruieren - Ausgangspunkt dürfte eine in Griechenland gefertigte, schon durch diese Herkunft ‚authentifizierte‘ Zeichnung des Ciriaco d‘Ancona sein: ein älterer Mann mit langem Spitzbart, gebogener Nase und vor allem einer ungewöhnlichen Kappe auf dem Kopf.[3] Diesen Typus wird noch der gelehrte Fulvio Orsini 1570 in der ersten Auflage seiner „Imagines et elogia virorum illustrium“ abbilden, erst der 1606 posthum gedruckte Kommentar zur zweiten Auflage korrigiert teilweise diese falsche Identifizierung, war doch zwischenzeitlich eine gegen 1590 gefundene und inschriftlich bezeichnete Büste des Aristoteles nun mit kurzem Bart in den Besitz Fulvios gelangt.[4] Dagegen scheinen die in mehreren Exemplaren aus dem 16. Jahrhundert erhaltenen Relieftondi mit den Profilporträts des alten, langbärtigen Platon und des jüngeren Aristoteles mit gestutztem Bart ihrerseits auf das Vorbild Raffaels zurückzugehen und gerade nicht den ‚streng wissenschaftlichen‘ Stand antiquarischer Forschung zu spiegeln. So bleibt auch nach Joost-Gaugier weiterhin die Frage, wie Raffaels zwei Philosophen-Könige zu ihren Gesichtern kamen.

Nur aus Vollständigkeitsgründen sei erwähnt, daß dann Kapitel 9 versucht, die drei Tugenden Prudentia, Temperantia und Fortitudo der ‚Gerechtigkeits‘-Wand nicht als solche, sondern ausschließlich als die Drei Grazien im Sinne von wesenhaften Aspekten der Justitia zu deuten.

Schließlich „The Pavement“ (Kap. 10): Zuletzt hat J. Shearman ausführlich begründet, daß bei dem unter Julius II. gefertigten marmornen Bodenbelag mit seinem an Cosmaten-Arbeiten erinnernden Muster nach Entfernung der Buchregale durch Leo X. Streifen vor den Wänden und insbesondere auch zwischen den Türen erneuert wurden. Joost-Gaugier referiert dies, um dann auf der nächsten Seite über die Inschriften auf diesen ergänzten Boden-Kompartimenten zu schreiben (S. 148): „GLOVIS (gloriosus vise?) under the ‚Jurisprudence‘, and SEMPER and SVAVE, under the ‚Parnassus‘, suggest a construct of Julian „virtues“ - glory and power, everlasting and sweet.“ Kann ihr tatsächlich entgangen sein, daß es sich bei SEMPER um die bestens bekannte Familien-Devise der Medici, bei SVAVE (ein Verweis in Anlehnung an Mt. 11, 29f. auf das ‚süße Joch‘, das als Gehorsamsforderung sowohl der Papst auf sich nimmt als auch seinen Untertanen auferlegt - und das unter dem Schriftzug auch bildlich dargestellt ist) und GLOVIS (die ‚umgekehrte‘ Schreibweise von SI VOLG[e], ‚es kehrt sich um‘ bzw. ‚es kehrt wieder‘) um ebenso geläufige Impresen Leos X. handelt und also mit Sicherheit keine Allusion auf Julius vorliegt?[5] Kann es sein, daß der Autorin diese allgegenwärtigen Bildzeichen und Schriftzüge auf den hölzernen Türen und Fensterläden der Stanzen selbst, aber auch auf dem Fresko von „Clemens I.“ alias Leo X. in der angrenzenden Sala di Costantino nie aufgefallen sind? Und kann es zudem sein, daß der Auflösungsversuch von GLOVIS als „gloriosus vise“ eigentlich das lateinische „gloriosa vis“ meinen soll - wie man es auch insbesondere nach Lektüre von „viri illustribus“ (S. 39), „De incarnationes verbe“ (S. 67) oder „De differentiis Platonis et Aristotelo“ (S. 89) vermuten möchte?Spätestens an diesem Punkt ist zumindest dem Rezensenten jede Verpflichtung zu ausgewogener Bewertung und jede Motivation ausgetrieben, in dieser Ansammlung von „science, non-science and nonsense“ (M. Kemp) den möglicherweise ‚richtigen‘ Beobachtungen und weiterführenden Bemerkungen nachzuspüren. Diese mag es zweifelsohne geben, sie sind aber in jedem Fall schon bekannt: Denn der Großteil der Untersuchung, die zentralen sieben Kapitel (2-9), wurde bereits während der letzten zehn Jahre als Aufsätze, ihrerseits zehn an der Zahl, in der Gazette des Beaux-Arts, in Artibus et Historiae und im Renaissance Quarterly publiziert - also an leichtest greifbaren Orten und häufig wortgleich mit der Buchfassung.

Anmerkungen:

[1] Ernst Steinmann, Chiaroscuri in den Stanzen Raffael‘s, in: Zeitschrift für bildende Kunst, N.F. 10, 1898/99, 169-178

[2] Forschungen zur Villa Albani. Katalog der antiken Bildwerke II, hg. Peter C. Bol, Berlin 1990, S. 342-344 (Kat. 245).

[3] Leo Planiscig, Leonardos Porträte und Aristoteles, in: Festschrift für Julius von Schlosser zum 60. Geburtstag, hg. Arpad Weixlgärnter und Leo Planiscig, Zürich u.a. 1927, S. 137-144; Phyllis Williams Lehmann und Karl Lehmann, Samothracian Reflections, Princeton 1973, S. 15-25; Michaela Kalusok, Büste des Aristoteles, in: Die Beschwörung des Kosmos. Europäische Bronzen der Renaissance, hg. Christoph Brockhaus, Duisburg 1994, S. 79f.

[4] Dazu etwa Franz Studniczka, Das Bildnis des Aristoteles, Leipzig 1908, S. 3-5 und 15-20; zur Zeichnung des Rubens nach der Aristoteles-Büste s. Marjon van der Meulen, Corpus Rubenianum Ludwig Burchard XXIII: Copies after the Antique, London 1994, Bd. 2, S. 231f. - Als Fälschung des 16. Jh.s sieht diese Büste Jan H. Jongkees, Fulvio Orsini‘s Imagines and the Portrait of Aristotle, Groningen 1960.

[5] Zu den Impresen Rudolf Quednau, Die Sala di Costantino im Vatikanischen Palast, Hildesheim/New York 1979, S. 230f. und Janet Cox-Rearick, Dynasty and Destiny in Medici Art, Princeton 1984, 15-40. - Joost-Gaugier verweist in Anm. 3 zu S. 148 sogar auf Cox-Rearick, offenbar ohne deren Ausführungen (S. 29) über den Satzteil: „The word GLOVIS as such is meaningless (...)“ hinaus zu rezipieren.

Joost-Gaugier, Christiane L.: Raphael 's Stanza della Segnatura. Meaning and invention, Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press 2002
ISBN-10: 0-521-80923-1, XIII, 267 S

Empfohlene Zitation:
Ulrich Pfisterer: [Rezension zu:] Joost-Gaugier, Christiane L.: Raphael 's Stanza della Segnatura. Meaning and invention, Cambridge [u.a.] 2002. In: ArtHist.net, 11.12.2003. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/37>.

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