Als einer der wichtigsten deutschen Architekturkritiker hat Wolfgang Pehnt mit seinen Stellungnahmen die Diskussion um die Nachkriegsarchitektur in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich geprägt – nicht nur als er das „Ende der Zuversicht“[1] und den „Anfang der Bescheidenheit“[2] in der Architektur propagierte und die bis heute grundlegende 1973 erstmals erschienene – und leider seit Jahren vergriffene – Studie zur „Architektur des Expressionismus“[3] vorlegte. Der Band, den der Hatje Cantz Verlag, dem er lange auch als Lektor verbunden war, zu Pehnts 80. Geburtstag herausgegeben hat, fasst eine Auswahl von 20 seiner Vorträge und Essays aus den letzten 20 Jahren zusammen, einige von ihnen bisher unveröffentlicht. Das beeindruckende Spektrum der in diesem Band versammelten Beiträge reicht von Forschungen über die Kulturgeschichte der Tür über die Architektur der Weltausstellungen, den deutschen Zyklopenstil, der Architektur des Expressionismus bis hin zu Goethes Gartenhaus, dem Kirchenbau, Architektur als Symbol oder Ernst Neuferts Bauentwurfslehre als Sittengeschichte. Immer wieder stehen Fragen der Rekonstruktion, der Stadterneuerung und der Denkmalpflege im Zentrum seiner Überlegungen. Aus dem breit gesteckten Rahmen von Pehnts Essays seien exemplarisch folgende herausgegriffen.
In seinen Betrachtungen über den „Modellwechsel. Das Bauhaus und die Organisation seines Nachruhms“ untersucht Pehnt, wie es das Bauhaus als kleine Schule in den Provinzstädten Weimar und Dessau geschafft hat, eine ganze Epoche auf den eigenen Namen zu verpflichten, gleichsam als Synonym für die Moderne. Dies obwohl Carl Schäfer, Otto Wagner, Hermann Billing, Theodor Fischer oder Hans Poelzig, die Lehrer der großen Architekten der Moderne, alle nicht am Bauhaus unterrichtet haben. Pehnt arbeitet heraus, dass es zudem keinen einheitlichen „Bauhaus-Stil“ gab. Vielmehr schaffte es das Bauhaus, sich im häufigen Paradigmenwechsel alle zwei bis drei Jahre neu zu erfinden und so jeweils die verschiedenen Erscheinungsformen der zeitgenössischen Avantgarde anzunehmen (157). Mit dieser Strategie und mit seiner bewussten und gezielten Markenbildung kreierte sich das Bauhaus seinen Weltruhm. Zudem wurde die Architektur des Bauhauses möglicherweise auch deshalb rückblickend in der kollektiven Erinnerung als demokratisch wahrgenommen, da es wie die Weimarer Republik als die erste Demokratie in Deutschland 1919 in Weimar gegründet in Berlin 1933 endete.
Scharfsinnig analysiert Pehnt in „Einfach sein ist schwierig“ die Rhetorik der populären These Vittorio Lampugnanis, dass „alles zu kompliziert geworden sei“ (196) und seine Forderung nach einer neuen Einfachheit, nach Rigorosität und Purismus in der Architektur. Die Sehnsucht ist angesichts der effektheischenden postmodernen Architektur nur zu verständlich, die Grenze zwischen ästhetisch überzeugender Schlichtheit und der Banalität einer „Architektur der zusammengebissenen Zähne“ oft schmal, und schnell kann die Einfachheit zu einer bemühten Kulisse werden. So erinnert ihre Kargheit oft an Brechts maßgeschneiderte, teure Proletarierhemden. Ordnung als Selbstzweck ist armselig, wie nicht nur Heinrich Tessenow wusste. Nach Pehnt übersieht Lampugnani, dass das, was im Maßstab des einzelnen Hauses funktioniert und im Kontrast zum Umfeld der Stadt oft wohltuend wirkt, besonders wenn es als eine Lückenbebauung geplant ist, zwanghaft wirken kann, wenn damit ganze Stadtteile und Wohnquartiere gestaltet werden sollen. Hingegen ließen die viel zitierten historischen Vorbilder des alten Bauens, wie etwa in Siena, immer Ausnahmen von den Regeln zu, sodass das Einfachheitsgebot nie einen rigoristischen Zug annahm.
Zwei wiederkehrende Themen Pehnts betreffen die Frage der Rekonstruktion und damit eng verbunden die der Denkmalpflege. Aus einer falsch verstandenen Kritik an der modernen Architektur und aus einem vermeintlichen Verdruss über ihre Zumutungen mag die heute allerorts anzutreffende „Sehnsucht nach Geschichte“ – so der Titel eines weiteren Aufsatzes – bestärkt worden sein, die zu populären kompletten Rekonstruktionen wie des Berliner oder Potsdamer Stadtschlosses, der Kommandantur Unter den Linden oder dem Frankfurter Römerberg führt. Mit ihrem Anspruch auf Makellosigkeit können sie keine Spuren der Geschichte oder sinnlichen Qualitäten als Folge der Zeitläufte mehr erkennen lassen, da sie aus der Konserve stammen (218). Zudem bedrohen sie die noch vorhandenen Baudenkmäler. Denn wo alles ersetzt und rekonstruiert werden kann, fehlt das Bewusstsein, dass authentische historische Substanz bewahrt werden muss. Die Erkenntnis, dass mit einem Bruchteil der Mittel, die aktuell für rekonstruierende Imageproduktionen eingesetzt werden, angesichts der schwindenden Mittel der Denkmalpflege gefährdete Baudenkmale gerettet werden könnten (278), scheint in der heutigen Gesellschaft nicht mehr mehrheitsfähig zu sein. So werden historische Bauten zu jederzeit reproduzierbaren Produkten, die wie jüngst das Frankfurter Thurn und Taxis-Palais (2004-09) auch an anderer Stelle und sogar in verändertem Maßstab wieder errichtet werden können, wenn dies den Investoren nützt.
Einen anderen respektvolleren Umgang mit Denkmälern, den Übergang vom manierierten Kontrastbau zum Kontinuitätsbau, beschreibt Pehnt als Pendelbewegung zwischen dem Respekt vor dem Alten, dem bewussten Abstand oder der „Kunst der Fuge“ (233) einerseits und dem – fugenlosen – unbekümmerten Umgang mit der alten Substanz andrerseits, den bereits das 19. Jahrhundert mit den gotisierenden Neubauten der Domtürme von Köln, Meissen, Regensburg und Ulm pflegte. In „Abschied von der Wundpflege“ stellt Pehnt anhand von exemplarischen Projekten von Eduardo Souto oder Alvaro Sizas beim Wiederaufbau von Lissabon 1988-97 nach dem Altstadt-Brand positiv den sensiblen Weiterbau der bestehenden Strukturen heraus. An Peter Zumthors Kölner Diözesanmuseum hingegen kann Pehnt keinerlei Wundpflege mehr erkennen: Die Ruinen von St. Kolumba ebenso wie die kleine oktogonale Kapelle, die Gottfried Böhm für die spätgotische Madonna in den 1950er Jahren einfügte, um diese Kriegswunde zu pflegen, sind restlos von Zumthor überbaut und damit aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden.
Pehnts Essays regen zum Nachdenken an und fordern zu einer streitbaren Architekturkritik auf, z. B. indem er auf den Erfolg der Markenbildung des Bauhauses, die Bedeutung von Ausnahmen von der Regel, die Erkenntnis der günstigen wie wertvollen Rettung gefährdeter Bauwerke oder den sensiblen Weiterbau bestehender Strukturen hinweist. Hinzu kommen seine gut verständliche Sprache und sein pointierter, im besten Sinne feuilletonistischer Stil, die das Buch sowohl für Fachleute als auch für Laien anregend machen. Dies ist zu begrüßen. Denn in einer Zeit, in der wir Bauwerke zunehmend als ephemere Gebrauchsgüter betrachten, die jederzeit rekonstruiert werden können, sind ein solches kritisches Bewusstsein und eine in der Gesellschaft breit geführte, aktive Diskussionen mehr denn je notwendig. Gewünscht hätte man sich mitunter bessere Schwarz-Weiß-Abbildungen, die zudem leider oft über ein Briefmarkenformat nicht hinausreichen; hilfreich für die zeitliche Einordnung wäre gewesen, das Erscheinungsjahr der jeweiligen Aufsätze bereits bei deren Titel oder im Inhaltsverzeichnis zu nennen. Wer beim Lesen dieser Texte Lust auf mehr gewonnen hat, dem liefert der Band eine beeindruckende Literaturliste, die den Zugang zu fast 400 Aufsätzen und Artikeln von Wolfgang Pehnt in Büchern, Katalogen und Zeitschriften eröffnet.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Pehnt: Das Ende der Zuversicht. Architektur in diesem Jahrhundert. Ideen, Bauten, Dokumente. Berlin 1983.
[2] Wolfgang Pehnt: Der Anfang der Bescheidenheit. Kritische Aufsätze zur Architektur des 20. Jahrhunderts. München 1983.
[3] Wolfgang Pehnt: Die Architektur des Expressionismus. Stuttgart 1973. 3. Auflage, Ostfildern 1998.
Pehnt, Wolfgang: Die Regel und die Ausnahme; Essays zu Bauen, Planen und Ähnlichem, [s.l.]: Hatje Cantz Verlag 2011
ISBN-13: 978-3-7757-3140-9, 320 S.
Empfohlene Zitation:
Lucas Elmenhorst: [Rezension zu:] Pehnt, Wolfgang: Die Regel und die Ausnahme; Essays zu Bauen, Planen und Ähnlichem, [s.l.] 2011. In: ArtHist.net, 03.09.2012. Letzter Zugriff 21.12.2024. <https://arthist.net/reviews/3681>.
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