„Venite et videte“- Kunstgeschichtliche Dimensionen der Aachener Heiligtumsfahrt. Interdisziplinärer Studientag des Kunsthistorischen Instituts der RWTH Aachen und der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen.
Anläßlich der im Sieben-Jahres-Rhythmus stattfindenden Weisung der vier großen Aachener Tuchreliquien fragte der gemeinsam vom Kunsthistorischen Institut der RWTH Aachen und der Bischöflichen Akademie veranstaltete Studientag „Venite et videte“ nach den Ursprüngen sowie der Geschichte dieser Weisung. Mit einem breiten Spektrum von historisch, kunsthistorisch, theologisch und frömmigkeitsgeschichtlich ausgerichteten Vorträgen wollten die beiden Veranstalter die zentralen Aspekte der Aachenfahrt möglichst umfassend beleuchten. Referenten verschiedener Fachrichtungen nahmen die Aachener Heiligtümer als materialem Ausgangspunkt der Aachenfahrt selbst. Ferner ging es um die Bedeutung der verehrten Gegenstände im Kontext mittelalterlicher Stoffreliquien sowie ihre Inszenierung durch Architektur und Ritual, nahezu immer verbunden mit der Problematisierung des Phänomens „Schaufrömmigkeit“.
Den Auftakt bildete, nach der Begrüßung durch Karl Allgaier und Alexander Markschies als Initiatoren, der Abendvortrag von Bruno Reudenbach (Hamburg) zu den funktionalen, medialen und performativen Aspekten in der Beziehung der Reliquien zu dem sie umgebenden Marienschrein. Der Schrein als Behältnis der Gewandreliquien Jesu und Mariens, so Reudenbach, bedürfe einer Erklärung, da es sich bei den Reliquien doch eben nicht um Körperreste handelte. Diese anachronistische Form, so seine Deutung, sollte den gen Himmel gefahrenen Körper ergänzen. Die Verschränkung von Kleid- und Körperthematik fand Reudenbach dabei in der Auffälligkeit der faltenreichen Gestaltung von Kleidung und Körper auf den Dachreliefs des Schreins selbst.
Geeigneter für einen Abendvortrag wäre wohl der erste Referent des zweiten Tages, Dieter P.J. Wynands (Aachen) gewesen, dessen material- und kenntnisreicher Vortrag zu Kontinuität und Wandel der Aachener Heiligtumsfahrt sich teilweise wörtlich an eine seiner Abhandlungen zur Heiltumsfahrt anlehnte [1]. Auch lag sein Fokus mehr auf den Kontinuitäten und Wandlungen von Weisungsort und Prozessionen in der Neuzeit und entsprach damit weniger der mittelalterlichen Ausrichtung der Gesamtveranstaltung.
Die während der Zeit der Heiligtumsweisung viel gefragte Textilkonservatorin des Aachener Doms, Monica Paredis-Vroon, gab Einblicke in das Innere des Marienschreins. Unter dem Titel „Stoffwechsel“ thematisierte sie nicht nur die Reliquien sowie Thesen zu deren Provenienz und Alter, sondern auch die Verhüllung der Reliquien durch weitere Stoffschichten. Im Anschluß nahm Stefanie Seeberg (Aachen/Köln) eine Einordnung der Aachener Reliquien in den Gesamtzusammenhang der Wahrnehmung von Textilreliquien vor, einer bereits auf einer Kölner Tagung beachteten Thematik [2].
Neben dem Vortrag von Bruno Reudenbach stellten die Vorträge von Matthias Untermann (Heidelberg) und Norbert Schnitzler (Chemnitz/Brüssel) den zweiten Höhepunkt des Studientages dar. Untermann wandte sich gegen eine Betrachtung der Chorhalle des Aachener Münsters als Reliquiar. Nicht nur der Marienschrein habe einen Aufstellungsort außerhalb des gotischen Chores gehabt. Auch die Aufstellung des Karlschreines lasse sich dort für das späte Mittelalter nicht nachweisen, sondern lediglich die Aufstellung eines Petrusaltares. Daneben enthielt wahrscheinlich die Karlsskulptur in der Chorhalle selbst eine Karlsreliquie [3]. Die Translation des Karlsschreines in die Karlskapelle, so Untermann, sei sinnvoller. Diese weise nicht nur eine entsprechende Nische auf, in der ein solcher Schrein hätte aufgestellt werden können, zudem sei diese Kapelle auch für Pilger bequem von außen zu erreichen gewesen, ohne eine Störung des Chordienstes zu verursachen.
Der wie zu erwarten kontroverseste Vortrag schloß die Tagung ab. Norbert Schnitzler thematisierte am Beispiel der sog. Aachener Heiltumsspiegel Aspekte der Schaufrömmigkeit im Mittelalter. Anhand zeitgenössischer Gelehrtendiskurse des 15. Jahrhunderts (Nicolaus Jauer, Thomas Netter) wollte Schnitzler diese Pilgerzeichen als Instrument zur Selbstreflexion verstanden wissen, die bei der Weisung der Aachener Heiltümer lediglich gesegnet werden sollten. Die Intromissionstheorie als einer Übertragungsform von virtus sei nämlich in den entsprechenden Diskursen nicht nachweisbar. Ob mit diesem Ansatz der „Schaufrömmigkeit“ als solcher bzw. der Frage nach den Wechselwirkungen von Elite- und Volkskultur genügend Rechnung getragen ist, sei dahingestellt [4].
Der gemeinsame Studientag des Instituts für Kunstgeschichte der RWTH und der Bischöflichen Akademie kann als eine gelungene Veranstaltung gelten. Die Mischung aus rein informativen Vorträgen sowie solchen, die dezidiert eine These vorstellten, ist sicherlich als Reminiszenz an das klassische Akademiepublikum zu verstehen, leistete aber zugleich die Herstellung eines gemeinsamen Kenntnisstandes, welcher wiederum den Diskussionen zugute kam. Somit setzt die Tagung „Venite et videte“ Standards für die Zukunft. Das Institut für Kunstgeschichte macht mit ihr den Auftakt zu einer erneuten wissenschaftlichen, kooperativ ausgerichteten Beschäftigung mit dem Aachener Dom und seiner Ausstattung. Gerade die Vorträge von Bruno Reudenbach, Matthias Untermann und Norbert Schnitzler zeigten, wie notwendig und spannend der neuerliche wissenschaftliche Austausch selbst zu anscheinend feststehenden Tatsachen werden kann.
Anmerkungen
[1] Dieter P. J. Wynands, Die Aachener Heiligtumsfahrt. Kontinuität und Wandel eines mittelalterlichen Reliquienfestes (Ortstermine 8) Siegburg 1996.
[2] Vgl. „Beziehungsreiche Gewebe: Textilien im Mittelalter“, Internationale Tagung, 24.-26. November 2006, Museum für Angewandte Kunst in Köln (Silke Tammen/ Kristin Böse).
[3] S. Jan Pieper, Das Münstermodell in der Hand Karls des Grossen. Eine spätgotische Deutung der Aachener Chorhalle als „Capella Vitrea“ (1414/1430), in: Architektur und Kunst im Abendland. Festschrift zur Vollendung des 65. Lebensjahres von Günter Urban, Rom 1992, 129-150.
[4] Vgl. auch Thomas Lentes, Soweit das Auge reicht. Sehrituale im Spätmittelalter, in: Das Goldene Wunder in der Dortmunder Petrikirche. Bildproduktion und Bildgebrauch im Mittelalter, hrsg. von Barbara Welzel u.a. (Dortmunder Mittelalter-Forschungen 2) Bielefeld 2003, 241-258.
Recommended Citation:
Andreas Matena: [Conference Report of:] „Venite et videte“ (Aachen, Jun 8–09, 2007). In: ArtHist.net, Jul 11, 2007 (accessed Oct 6, 2024), <https://arthist.net/reviews/365>.
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