Die Idee eines stattlichen Buches realisierten Warburgs Mitarbeiter Gertrud Bing und Fritz Saxl nach Warburgs Ableben in Windeseile. Innerhalb von knapp drei Jahren brachten sie 1932 in einer vorbildlichen Edition Warburgs "Gesammelte Schriften" heraus. Die beiden Bände vereinigten mit wenigen Ausnahmen sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichte Arbeiten. Damit war der Grundstein und der Auftakt für zahlreiche Folgebände gelegt, die der Publikation des Nachlasses gewidmet sein sollten. Die erzwungene Emigration der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg im Jahr 1933 hat jedoch auch diesen Plan zunichte gemacht. Wieder aufgegriffen wurde die Idee, den Nachlass zu publizieren, ganz praktisch erst in den neunziger Jahren. Im Akademie Verlag sind die ersten Bände einer eng an dem ursprünglichen Konzept orientierten Studienausgabe, darunter neben einem Reprint der Edition von 1932 das Tagebuch der KBW und der Bilderatlas erschienen, demnächst folgt der Band mit den von Warburg konzipierten Ausstellungen. Neben einer Anthologie ausgewählter Schriften und Würdigungen, die erstmals 1979, zum 50. Todestag Warburgs, erschienen ist, sowie der weit verbreiteten Ausgabe des unter dem Kurztitel "Schlangenritual" geradezu ubiquitär gewordenen Reiseberichts, der Warburgs Besuch der Hopi-Indianer in Arizona und New Mexico dokumentiert, hat es in Deutschland nur wenige andere, an eine größere Öffentlichkeit adressierte Veröffentlichungen von Nachlassmaterialien gegeben. Einige kommentierte Briefkonvolute sowie ein großartiger Bildband zur Amerikareise bilden die Ausnahme.
Dieser Umstand mag verwundern, hat aber seinen Grund. Er resultiert nicht zuletzt aus der besonderen Schwierigkeit, die der Warburg-Nachlass den Editoren stellt. Paradox genug ist in mancher Hinsicht die im Übrigen einzigartige Fülle des Materials ein Problem. Warburgs rastloses Umschreiben seiner Manuskripte und der fragmentarische Zustand vieler Texte stellen eine große Herausforderung hinsichtlich editorischer Überlegungen und Konzepte dar. Ein philologisch erprobtes Schema F gibt es in diesem Fall nicht. Das Warburg Institute als Sachwalter des Nachlasses hat in den vergangenen Jahren sehr viel Arbeit darauf verwendet, das Archiv systematisch neu zu sichten, zu ordnen und zu inventarisieren. So wurden zum Beispiel inzwischen rund 30.000 Briefe in Regestenform erfasst und online gestellt. Dadurch ist eine ebenso wesentliche wie hervorragende Grundlage für die Fortsetzung der begonnenen und die Aufnahme neuer Projekte geschaffen.
Als eine Frucht dieser Bemühungen um den Nachlass lässt sich auch die jüngst im Suhrkamp Verlag vorgelegte, von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig betreute Ausgabe der Warburg-Schriften erachten. Unter dem schlichten Titel "Werke in einem Band" präsentiert das Buch eine Auswahl klassischer Texte neben unveröffentlichten Schriften, darunter ein Vortrag über die Kunst der Florentiner Renaissance, zwei 1897 in Hamburg und Berlin gehaltene Vorträge über Warburgs Reise zu den Pueblo-Indianern sowie einen Zeitungsartikel über den Philosophen Ernst Cassirer, der bis dato nur in Auszügen nachgedruckt war. Aufgenommen wurden darüber hinaus auch Texte aus dem Nachlass, die zunächst in Übersetzungen herausgekommen sind und jetzt in der Originalsprache erstmals veröffentlicht werden. Insgesamt sind hier auf rund 900 Seiten 25 Texte, gegliedert in sieben Kapitel, kompiliert. Ein Drittel der Beiträge ist bislang un- oder kaum bekannt. Aber auch die anderen Schriften, darunter die Botticelli-Dissertation, der berühmte Schifanoja-Vortrag, die umfangreiche Lutherstudie, die Abhandlung über das Sassetti-Testament sowie Materialien zum Mnemosyne-Atlas, sind, wie es bereits das Titelblatt annonciert, "auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare herausgegeben und kommentiert" worden. Damit ist die Ausgangsidee, eine Art Lesebuch für Studierende zusammenzustellen, in eine Ausgabe mit editionskritischem Anspruch verwandelt worden, ohne dass die beiden apostrophierten Publika die "Warburg-Einsteiger" auf der einen und die "Warburg-Forscher" auf der anderen Seite - aus dem Blick geraten wären. Ob jedoch diese Doppelfunktion erfüllt wird, wird sich mit der Zeit erweisen. In mancher Hinsicht werden die Warburg-Texte durch die diversen Kommentar- und Anmerkungsebenen recht stark in die Zange genommen, das heißt von Sekundärtexten, die man vielleicht besser in einem Anhang oder zweiten Teil hätte kumulieren können, umstellt. Ob das den Zugang eines Debütanten erleichtert, steht dahin. Hilfreich sind die recht ausführlichen Einführungen zu den sieben Kapiteln allemal, selbstverständlich auch die Übersetzungen der fremdsprachlichen Zitate, von denen Warburg in seinen Texten und Anhängen häufig Gebrauch macht, ebenso wie die Wort- und Sacherläuterungen oder das Register der Eigennamen. Nur ein Sachindex fehlt. Da Warburgs Schriften der wissenschaftlichen Seite nach hoch spezialistisch sind, bedarf es der Erläuterungen. Darüber hinaus hat der Hamburger Gelehrte auch mit den Worten im besten, demnach schöpferischen Sinn gespielt und gerungen, um die Sachverhalte, die ihm wichtig waren, möglichst treffend, das heißt nicht selten auch in Neologismen oder eindringlichen Sprachbildern auf einen Begriff zu bringen. Auch in diesem Punkt versteht sich nicht alles von selbst, so dass Hinweise angelegen sind.
Auch der Forschung mag der Band mit seinen jeweils aus den Manuskripten und Handexemplaren erhobenen Annotationen und Ergänzungen ohne Frage willkommen sein. Das Fortlassen des umfang- und inhaltsreichen Apparates, den Bing und Saxl ihrer Ausgabe beigesteuert haben und der nicht nur kluge Zusätze der Herausgeber, sondern in erster Linie auch spätere Ergänzungen Warburgs enthält, irritiert jedoch. In der Einleitung heißt es eher lapidar, dass auf eine Diskussion der Forschung selbst bewusst verzichtet werde, weil "in einer Edition der Texte diese selbst sprechen sollen". Heißt das aber auch, dass man die Annotationen von 1932 als Ballast abwerfen kann? Um nur ein Beispiel dafür zu geben, was da alles ausgeklammert wird: Unter den Zusätzen zum Luther-Aufsatz findet sich unter anderem der Hinweis auf den berühmten Holbein-Holzschnitt, der Luther als Hercules Germanicus zeigt. Diese Notiz, aber zugleich auch die in der alten Ausgabe im Anhang beigegebene Illustration ist entfallen, und damit eine zentrale Position in der Diskussion um die sogenannten "Kampfbilder" des Reformators. In einer Leseausgabe, wie sie über den Titel "Werke in einem Band" assoziiert werden könnte, mag das angehen, in einer wissenschaftlichen Ausgabe nur schwer. Insofern ist die Focussierung auf zwei Leserschaften auch eine Crux der vorliegenden Ausgabe.
So wird man insbesondere auch fragen müssen, wie sinnvoll es ist, den drei dokumentierten Vorträgen zum Komplex des Schlangenrituals nicht eine einzige Abbildung beizugeben. In jedem Fall handelt es sich um lichtbildgestützte Vorträge. Nicht zufällig lautet einer der Titel explizit "Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer", aber auch die beiden anderen Vorträge bestehen in allererster Linie aus Kommentaren zu einer Vielzahl von Bildern, die Warburg als sein "illustriertes Tagebuch" dem Publikum, darunter die Mitglieder der Photographischen Gesellschaften in Hamburg und Berlin sowie die im Kreuzlinger Sanatorium versammelten Gäste und Patienten, vor Augen gestellt und erläutert hat. Die Bilder wie die zugehörigen Dialisten sind ja nicht verloren, sondern vorhanden, aber wiederum in Hülle und Fülle, so dass es großer Anstrengung bedarf, sie zuzuordnen, Aber es gibt ja bereits kundige Vorarbeiten, so dass es nicht bei Null losgeht. Ganz ohne Bilder jedenfalls geht es nicht, zumal es vielfach Warburgs eigene Aufnahmen sind, die zur Diskussion standen. "Fast kein Bild ist ohne Fehler; wollen Sie bitte zur Entschuldigung in Erwägung ziehen, dass die Photographien oft unter den ungünstigsten Umständen gemacht werden mussten und dass fast alle Indianer vor dem Photographirt-Werden eine abergläubische Scheu besitzen, die lange Vorbereitungen ausschließt." Mit diesen heute reichlich naiv klingenden Worten leitet Warburg seinen Vortrag von 1897 ein, über die aber auch deutlich wird, welchen Rang die Bilder als "Werke" des Autors besitzen und welcher Status ihnen darüber hinaus als Dokumenten einer fotografisch recherchierenden Ethnographie zukommt.
Ein anderes Problem, die Abbildungen betreffend, stellt der Export der Illustrationen aus dem jeweiligen Text in einen eigenen Bildteil dar. Die Separierung ist zum einen nicht eben leserfreundlich, aber darüber hinaus werden die Bilder vor allem ihres zentralen epistemischen wie rhetorisch-dramaturgischen Status beraubt, wenn sie gerade dort fehlen, wo sie vom Autor als Belege und Thesen herangezogen und kommentiert werden. Dass die Reproduktionen gelegentlich nur noch Briefmarkengröße erreichen, erinnert daran, dass die Ausgabe der Schriften von 1932 kaum zufällig im Quartformat angelegt war. Es räumt den Bildern mit dem großzügigen Platz, der ihnen an Ort und Stelle geboten wird, zum Teil sogar in der Form von Falttafeln, zugleich das natürliche Recht ein, en détail betrachtet zu werden. "Das Wort zum Bild" lautet die kardinale Devise des Projektes, das Warburg als Kunst- und Bildhistoriker über seine Schriften und sein Forschungsinstitut in Gang gesetzt hat. Auch wenn die Perspektive der Edition in erster Linie auf Warburg als einen der "wichtigsten Stichwortgeber der gegenwärtigen Debatte in den Kulturwissenschaften" zielt, muss dies nicht heißen, die Abbildungen eher beiläufig behandeln zu können. Denn eben die Bilder sind häufig Warburgs Argumente und Beiträge zur Debatte. Letztlich wird hier der Verlag die engen Grenzen gesetzt haben, denn selbstverständlich berühren Layout- und Formataspekte wie die Ausstattung insgesamt auch Finanzfragen. Aber es sind mit einer solchen Entscheidung schließlich weitreichende inhaltliche Gesichtspunkte verbunden.
Man hat es mit einer, um eine bevorzugte Vokabel des Bandes aufzugreifen, "Hybrid"-Ausgabe zu tun. Ihre Qualität wird sich im Gebrauch zeigen. Handlich ist sie allemal, so dass man das Buch auch unter den Arm klemmen und in der Bahn lesen kann. Wenn nur die Klebebindung hält, was der Einband im übrigen an Festigkeit suggeriert, dann liegt hier eine Art Warburg-"Bibel" - das Oktav-Format und das (Fast-)Dünndruckpapier verleiten zu dieser Bezeichnung vor, mit der sich jeder Leser auf seine Weise arrangieren muss. Die oben erwähnten anderen Warburg-Ausgaben stehen ja zur Konsultation und zum Abgleich bereit.
Ein letzter Hinweis in diesem Zusammenhang gelte einer ebenfalls in diesem Jahr erschienenen Warburg-Publikation, die sich als Vademecum in Sachen Einführung nutzen lässt. Perdita Rösch hat ein kleines Handbuch vorgelegt, das sowohl die Biographie als auch das Werk des Kunsthistorikers Warburg in einem klugen und gut zu lesenden Überblick nebst einem kundig gegliederten Anhang präsentiert. Wer sich gelegentlich im Dickicht des einen Bandes verlieren sollte, kann hier leicht Orientierung finden. Selbst der Suhrkamp-Band ist bereits in die kommentierte Bibliographie aufgenommen. Und hier findet sich auch ein Motto Warburgs prominent zitiert wieder, das vielleicht als allgemeine Empfehlung dienen kann: "Wenn mehr Bücher gelesen würden, so würden weniger geschrieben werden."
1 [Anm. d. Red.: Dies ist die leicht variierte Fassung der Rezension, die am 13.09.2010 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist]
Warburg, Aby: Werke in einem Band, Frankfurt (Main): Suhrkamp Verlag 2010
ISBN-13: 978-3-518-58531-3, 913 S, EUR 68.00, ca. EUR 43.20
Empfohlene Zitation:
Michael Diers: [Rezension zu:] Warburg, Aby: Werke in einem Band, Frankfurt (Main) 2010. In: ArtHist.net, 24.09.2010. Letzter Zugriff 27.12.2024. <https://arthist.net/reviews/361>.
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