REV 09.12.2010

Bernd A. Stiegler (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie

Rezensiert von Cornelius Krell, Zürich
Redaktion: Rainer Donandt
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Der Fotografietheorie kommt in den letzten vier Jahrzehnten zunehmende Aufmerksamkeit innerhalb verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen zu. Die Palette reicht von den Geschichts- und Kulturwissenschaften über die Wissenschaftsgeschichte bis zur Philosophie oder der Soziologie. Die Theorie der Fotografie ist dadurch zu einem bevorzugten Gegenstand in den Theoriedebatten – insbesondere den bildwissenschaftlichen – avanciert.

Der an der Universität Konstanz lehrende Kulturwissenschaftler und Fotografiespezialist Bernd Stiegler hat nun einen neuen Sammelband mit Quellentexten zur Theoriegeschichte der Fotografie herausgegeben. Stiegler verfolgt darin zwei Anliegen: Einerseits will er einen exemplarischen Abriss der Theoriedebatten von 1839 bis heute skizzieren und andererseits eine Erklärung für die ungebrochene Popularität dieses Mediums – sowohl in der Theorie als auch in der künstlerischen und wissenschaftlichen Praxis – geben.

Stiegler hat in der Anthologie insgesamt 26 Quellentexte versammelt, die zwischen 1839 und 2007 entstanden sind. Innerhalb der sechs Themenblöcke sind die Texte jeweils chronologisch angeordnet und jeder Block – mit Ausnahme des letzten zur digitalen Fotografie – besteht aus jeweils vier bis sieben Texten.[1] Jeder Themenblock kann als diachroner Schnitt verstanden werden, der einer bestimmten Thematik gewidmet ist. Der Band erhebt nicht den Anspruch, „die Theorien der Fotografie in ihrer ganzen Breite und ihre[n] weitreichenden historischen Tiefendimensionen abzubilden“, stattdessen stellt er mithilfe von „sechs für die Debatten wesentliche[n] [...] Fragen bzw. Fragehorizonte[n]“ (19) einen exemplarischen Überblick über die Theoriegeschichte der Fotografie bereit. Jedem der sechs Themenblöcke ist eine kurze Einleitung vorangestellt, in der Stiegler das thematische Feld absteckt und die in ihm enthaltenen Texte verortet. Stiegler hat zudem eine ausführliche Vorbemerkung für seine Anthologie geschrieben, in der er eine Antwort auf die Frage nach dem anhaltenden Boom der Fotografie zu geben versucht. Abgerundet wird das Buch durch ausführliche Literaturhinweise und Textnachweise sowie Angaben zu den im Band aufgenommenen Autorinnen und Autoren.

In der Auswahl der Texte konnte sich Stiegler auf eine Reihe von älteren Sammelbänden zur Theorie der Fotografie stützen. Zu nennen sind hier insbesondere die Quellensammlungen von Wolfgang Baier, Wilfried Wiegand, Wolfgang Kemp, Hubertus von Amelunxen und Herta Wolf aus dem deutschsprachigen Raum und von Alan Trachtenberg, Christopher Phillips, Richard Bolton oder Liz Wells aus dem englischsprachigen Raum.[2] Ungefähr drei Viertel der im Band enthaltenen Texte sind denn auch bereits in anderen Anthologien veröffentlicht worden. Obwohl dies als Manko erachtet werden könnte, bietet der Band dennoch eine gelungene Mischung aus klassischen, unbekannteren und wiederzuentdeckenden Beiträgen zur Fotografietheorie. Zu letzterer Kategorie können insbesondere die Texte von Bertolt Brecht, Lorraine Daston/Peter Galison, Michel Foucault, Johannes Molzahn, Ludwig Pfau oder auch Jonathan Crary gezählt werden, die erstmals in einem deutschsprachigen Sammelband zur Fotografietheorie versammelt wurden. Verdienstvoll ist insbesondere Stieglers Erschließung eines bislang kaum bekannten Textes von Michel Foucault für die Fotografietheorie („Die photogene Malerei (Präsentation)“ (1975)) sowie die deutschsprachige Erstveröffentlichung von Allan Sekulas grundlegendem Beitrag “Vom Erfinden fotografischer Bedeutung“ (1982), der von Susanne Lenz für diesen Band übersetzt wurde.[3] Die übrigen im Buch enthaltenen Texte – das Spektrum reicht von William Henry Fox Talbot über Robert de La Sizeranne und Siegfried Kracauer bis zu Pierre Bourdieu und Susan Sontag – gehören im Kontext des fototheoretischen Diskurses inzwischen zum Standard. Etwas mehr als die Hälfte stammt aus dem 19. oder dem frühen 20. Jahrhundert. Stiegler begründet diese Wahl vor allem damit, dass sich in dieser Zeitperiode „oft Positionen klar[er] umrissen finden“ und sie zudem „eine regelrechte Theorietradition begründen, deren Tragweite bis in die Gegenwart reicht“ (19). Des Weiteren, so Stiegler, „haben viele dieser Texte den Vorzug der programmatischen Kürze“ während viele „zeitgenössische Texte nicht selten mit einem breiten Material [arbeiten], das auch entfaltet werden muss“ (19).

Bereits durch den Titel seiner Vorbemerkung „Why Photography Matters As Never Before“, wird klar, dass sich Stiegler darin eng auf Michael Frieds jüngstes Buch „Why Photography Matters As Art As Never Before“ bezieht.[4] Stiegler aber ist weniger an einer „Diskussion von Frieds fraglos wichtigem Buch“ interessiert, als vielmehr an seiner Stellung als einer „Art theoretische[m] Seismograph“ oder „Indikator“ für die „veränderte Bedeutung der Fotografie“ (10). Stieglers programmatische Vorbemerkung ist nicht nur eine in sechs Punkte gegliederte Einleitung zu den Themenblöcken seines Sammelbandes, sondern zugleich auch ein überblicksartiger Abriss von Frieds wichtigsten Thesen. Zugleich handelt es sich bei diesen Thesen auch um Leitmotive, die nicht nur in der Einleitung zu den einzelnen Abschnitten, sondern auch in den Quellentexten wieder auftauchen. Die darin behandelten Aspekte betreffen z.B. die Fotografie als „Spur des Realen“ (74), die Fotografie als „Reflexionsmedium“ (22-23) oder auch die Fotografietheorie als Wahrnehmungsgeschichte (158).

Zwar werden in der Vorbemerkung die wichtigsten Fragestellungen und Probleme innerhalb der Fotografietheorie benannt. Stiegler verzichtet aber weitestgehend darauf, sie mit weiterführenden Literaturhinweisen zu fundieren. Auch die knappe Bibliographie im Anhang (362-367) gleicht diesen Mangel nicht aus. So fehlt z.B. hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Kunst und Fotografie der Verweis auf Aaron Scharfs „Art and Photography“, und bezüglich des reflexiven Charakters der Fotografie hätte sich ein Hinweis auf Karlheinz Lüdekings Text „Vierzehn Beispiele fotografischer Selbstreflexion“ anerboten. Wenn Stiegler über die vielfältigen Gebrauchs- und Distributionsweisen der Fotografie spricht, so hätte auch eine Fußnote zu Matthias Bruhns grundlegender Studie „Bildwirtschaft: Verwaltung und Verwertung der Sichtbarkeit“ nicht fehlen dürfen.[5]

Die Zusammenstellung der 26 Texte ist rundum geglückt. Auch die Gliederung der Texte in die sechs Abschnitte leuchtet ein und bietet einen guten Überblick über die wesentlichen fototheoretischen Diskurse. Am besten gelungen ist vielleicht die Textauswahl für die Themenblöcke „Fotografie und das Reale“, „Fotografie und Wahrnehmung“ sowie „Fotografie und Gesellschaft“. Allerdings wäre es sinnvoll gewesen, wenn Stiegler die Wahl seiner Blöcke ausführlicher begründet hätte, denn aus der Vorbemerkung wird nicht ganz klar, warum gewisse Themenbereiche wie z.B. „Fotografie und Reproduzierbarkeit“, „Dokumentarische vs. inszenierte Fotografie“ oder „Identität und Ähnlichkeit in der Fotografie“ sowie „Fotografie und Propaganda“ ausgespart wurden. Eine weitere Schwäche des Bandes sind Stieglers oftmals zu unspezifisch geratenen Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten. Hier wären differenziertere Analysen der doch sehr heterogenen Beiträge wünschenswert gewesen, da dies ihre Verständlichkeit stark erleichtert hätte. Leser, die weniger gut informiert sind über einzelne Autoren, sind daher gezwungen, neben Stieglers Band noch andere fototheoretische Darstellungen zu konsultieren.[6]

Die Mehrzahl der im Sammelband enthaltenen Texte wurde für die vorliegende Publikation gekürzt. Bei Charles Sanders Peirces Beitrag „Die Kunst des Räsonierens“ (1893) hätte sich jedoch ein Abdruck des gesamten Aufsatzes gelohnt. Liest man nämlich den gekürzten Text, könnte dies zu Missverständnissen über den Peirceschen Beitrag zur Fotografietheorie führen. Peirce war kein genuiner Fotografietheoretiker, sondern er benutzte die Fotografie lediglich als ein Beispiel neben zahlreichen anderen in seiner triadischen Zeichentheorie. Nicht ganz nachvollziehbar ist zudem die Aufnahme von Jean Baudrillards Beitrag „Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität“ (1998) in den vorliegenden Sammelband. Baudrillard spricht in seinem Text lediglich von Bildern, aber nie von Fotografien. Es bleibt daher ungewiss, was Baudrillard mit Bildern überhaupt meint, und welche Rolle Fotografien für seinen Bildbegriff spielen. Zudem ist dieser voraussetzungsreiche Text in Stieglers Einleitung weitgehend unterbelichtet und wird deshalb für eine Leserschaft, die mit der Simulationsdebatte der 1980er Jahre nicht vertraut ist, unverständlich bleiben müssen. Für eine Anthologie zur Theoriegeschichte der Fotografie hätten sich hier sicherlich auch zugänglichere Texte von Baudrillard finden lassen.[7]

Im letzten Abschnitt zur „Fotografie im digitalen Zeitalter“ ist – unverständlicherweise – lediglich ein einziger Quellentext, nämlich derjenige von Peter Lunenfeld, zu finden.
Gerade die Diskussion zur digitalen Fotografie, die in den letzten zwei Jahrzehnten kontroverse Debatten hervorgebracht hat, hätte die Aufnahme weiterer Texte erforderlich gemacht, um das Spektrum der Meinungen abdecken zu können. Überdies hätten hier mit Autoren wie William J. Mitchell, Florian Rötzer oder Lev Manovich genügend einschlägige Beiträge zur Verfügung gestanden.

Lobenswert hingegen ist, dass Stiegler auch Schwarzweissabbildungen in sein Buch aufgenommen hat. Stellen diese doch bei Autoren wie Roland Barthes, William Henry Fox Talbot und Allan Sekula eine absolute Notwendigkeit für das Verständnis ihrer visuellen und textuellen Argumentation dar. Leider aber hat Stiegler nicht bei allen Beiträgen die Abbildungen übernommen. So fehlen sie zu Peter Lunenfelds Text, und es wäre bei den Beiträgen von Alexander Rodtschenko und Raoul Hausmann/Werner Gräff hilfreich gewesen, wenn Beispiele aus der fotografischen Praxis der jeweiligen Autoren beigefügt worden wären.[8]

Stiegler löst seinen Anspruch dennoch ein, einen Überblick über die Fotografie aus verschiedenen Wissenschafts- und Theoriefeldern zu bieten: Der Band versammelt Beiträge sowohl aus den Feldern der Philosophie, Soziologie, Wissenschaftsgeschichte, Fototheorie, Kunstkritik und dem Journalismus als auch der Kunstgeschichte und -theorie sowie der Kulturkritik. Das Buch ermöglicht deshalb dem Leser einen umfassenden Überblick über die inter- bzw. transdisziplinären Debatten zur Fotografie der letzten 160 Jahre. Überdies erschließen sich dem Leser nach der Lektüre zahlreiche intertextuelle Bezüge und Einsichten in die historische Verflechtung fototheoretischer Diskurse, Begriffe und Techniken, die ihm „Lust auf weitere Entdeckungen“ (19) im fototheoretischen Feld machen.

Anmerkungen:

[1] Die Titel der Themenblöcke lauten: 1. Fotografie und das Reale; 2. Fotografie und Indexikalität; 3. Fotografie und Kunst; 4. Fotografie und Wahrnehmung; 5. Fotografie und Gesellschaft; 6. Fotografie im digitalen Zeitalter.
[2] Baier, Wolfgang: Geschichte der Fotografie. Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie. München 1980; Wiegand, Wilfried (Hrsg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Frankfurt a. M. 1981; Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie I, 1839-1912. München 1979; Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie II, 1912-1945. München 1979; Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie III, 1945-1980. München 1983; Amelunxen, Hubertus von (Hrsg.): Theorie der Fotografie IV, 1980-1995. München 2000; Wolf, Herta (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1. Frankfurt a. M. 2002, Wolf, Herta (Hrsg): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2. Frankfurt a. M. 2003; Trachtenberg, Alan (Hrsg.): Classic Essays on Photography. New Haven 1980; Phillips, Christopher (Hrsg.): Photography in the Modern Era. European Documents and Critical Writings, 1913-1940. New York 1989; Bolton, Richard (Hrsg.): The Contest of Meaning. Critical Histories of Photography. Cambridge/Massachussetts 1989; Wells, Liz (Hrsg.): The Photography Reader. London 2002.
[3] Zu Foucaults Text vgl. auch den Abschnitt „Die Freiheit der androgynen Bilder“ in: Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Fotografie. München/Paderborn 2006, S. 359-370.
[4] Fried, Michael: Why Photography Matters As Art As Never Before. New Haven 2008.
[5] Scharf, Aaron: Art and Photography. Baltimore 1974; Lüdeking, Karlheinz: Vierzehn Beispiele fotografischer Selbstreflexion, in: ders.: Grenzen des Sichtbaren. München/Paderborn 2006. S. 19-38; Bruhn, Matthias: Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertung der Sichtbarkeit. Weimar 2003.
[6] Zu empfehlen sind hier insbesondere Stieglers Monografien: Theoriegeschichte der Fotografie. München/Paderborn 2006, sowie: Montagen des Realen: Fotografien als Reflexionsmedium und Kulturtechnik. München/Paderborn 2009, oder auch Peter Geimers Theoriegeschichte der Fotografie: Theorie der Fotografie. Hamburg 2009, wo sich ausführliche Analysen zu einzelnen Theorietexten des Sammelbandes finden.
[7] Zu denken wäre hier beispielsweise an Baudrillards Text: Das perfekte Verbrechen, in: Amelunxen, Hubertus von (Hrsg.): Theorie der Fotografie IV, 1980-1995. München 2000. S. 256-260.
[8] Zu den fehlenden Abb. in Peter Lunenfelds Text vgl. einen früheren Abdruck desselben Beitrages in: Wolf, Herta (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2002. S. 158-172.

Stiegler, Bernd A. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart: Reclam 2010
ISBN-13: 978-3-15-018708-1, 376 S., EUR 11.00

Empfohlene Zitation:
Cornelius Krell: [Rezension zu:] Stiegler, Bernd A. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010. In: ArtHist.net, 09.12.2010. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/358>.

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