Friedrich Nerly und die Landschaftsmalerei seiner Zeit. Entstehungsbedingungen, Arbeitsweisen, Transformationen.
Mit der Tagung eröffnete das Angermuseum Erfurt ein breit angelegtes Forschungsprojekt zu Leben und Werk des 1807 in Erfurt geborenen Malers Friedrich Nerly.[1] Ziele dieses von der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Rudolf-August Oetker-Stiftung wesentlich geförderten Projekts sind die Aufarbeitung seines umfangreichen Nachlasses, der schon 1883 der Stadt Erfurt übereignet wurde und maßgeblich zur Museumsgründung führte, sowie eine umfassende Kontextualisierung von Nerlys Gesamtwerk. 2024 sollen die Ergebnisse im Rahmen einer größeren Ausstellung und Publikation vorgestellt werden.
16 Tagungsbeiträge wurden von den beiden Projektverantwortlichen Claudia Denk (München) und Thomas von Taschitzki (Erfurt) ausgewählt, wobei Letzterer mit seinem einführenden Vortrag die wechselvolle Geschichte der Nerly-Stiftung nachvollzog und Einblicke in die anstehende Rekonstruktion des ursprünglichen Gemäldebestandes sowie der zu verzeichnenden Verluste gab. Verteilt auf drei Themenblöcke eröffnete die Tagung anschließend einen interdisziplinären Diskurs vor dem Hintergrund „eines neuen, zwischen Reisen und Sesshaftigkeit wechselnden Künstlertums“.
Claudia Denk hob die kunsthistorische Bedeutung Nerlys hervor, der als Erfinder der nächtlichen Piazzetta-Ansichten die Venedig-Vedute neu definiert hatte. Seine stimmungsvoll inszenierten Mondscheinbilder stellten die eigenwillige Schönheit der im Verfall begriffenen venezianischen Architekturen heraus und läuteten eine lang anhaltende Phase zunehmender Begeisterung für die Kunst und Atmosphäre der Lagunenstadt ein. Mit ihrer effektvoll differenzierenden Lichtregie beeinflussten sie Bildstrategien zeitgenössischer Künstler, darunter Ippolito Caffi.
Nerlys Übersiedlung nach Venedig 1835 war als bewusste Abkehr von Rom zu verstehen, was insbesondere durch den kulturhistorisch angelegten und simultan aus der Bibliotheca Hertziana übertragenen Vortrag (keynote lecture) über deutsche Landschaftsmaler in Italien von Golo Maurer (Rom) vermittelt wurde: die Reisen zahlreicher deutscher Künstler in die ewige Stadt folgten im 19. Jahrhundert zunehmend ausgetretenen Pfaden und boten kaum noch Innovation. Im Gegenteil, angesichts der gnadenlosen Konfrontation mit einer oftmals wesentlich besser ausgebildeten internationalen Konkurrenz führten sie häufig zu zermürbendem Erfolgszwang und Enttäuschung.
In den lebhaften Diskussionen unter der Regie von Anna Ahrens (Berlin) stellte sich heraus, dass es vor diesem Hintergrund eine kluge Entscheidung von Friedrich Nerly war, sich nach seinem immerhin mehrjährigen römischen Intermezzo im damals habsburgisch verwalteten Venedig niederzulassen. Wirtschaftlich und künstlerisch wurde diese Wahl ein Erfolg, wie er es selber in Briefen hervorhob, denn in Venedig gab es günstige Wohnungen, weniger künstlerische Konkurrenz und unverbrauchte Motive, sowie kulturinteressierte Touristen und einen Freihafen und somit beste Voraussetzung für den Ausbau eines internationalen Sammlermarktes.
Friedrich Nerly gelang es, einen neuen Blick auf die Stadt zu formulieren, indem er gewissermaßen den Mond der Dresdner Romantik über der Lagune aufgehen ließ und Venedig in ein bis dahin dort unbekanntes „lunares Licht“ tauchte. Verbunden waren diese „deutschen Nachtlandschaften“ in venezianischer Umgebung mit einem grundlegenden Perspektivwechsel. Nerly begab sich tief in die Gassen und Plätze und bot aus ihrer geheimnisvollen Enge heraus Blicke auf das Wasser. Deutlicher konnte er sich von den tradierten und aus distanzierter Fernsicht aufgenommenen „Canaletto-Veduten“ nicht abheben. Die geradezu phantastisch wirkenden venezianischen Architekturen bettete er in spätromantische Bilderwelten ein. Abends hielt er Hof im Café Florian, Nachtspaziergänge wurden bei Venedig-Touristen zunehmend en vogue und seine „Piazzetta bei Mondlicht“ avancierte zum Verkaufsschlager: zwischen 1838 und 1878 malt er sie entsprechend der Überlieferung in 36 Varianten.
Die Etablierung und Popularisierung dieser neuartigen, atmosphärisch geprägten Seherfahrung war mit dem internationalen Tourismus und Formen medialer Vermittlung verbunden, darunter auch der Fotografie. Wie Ulrich Pohlmann (München) in seinem Beitrag hervorhob, steht diese Forschung noch am Anfang: Bekannt ist, dass Nerly spätestens seit 1851 mit Fotografen zusammenarbeitete, offenbar in einer komplexeren Wechselwirkung, als bisher angenommen. Das zunehmende Interesse an der Entwicklung fotografischer Aufnahme- und Reproduktionstechniken zur Wiedergabe von Mondlicht war eng mit einem touristisch geprägten Blick und einer fast sehnsuchtsvoll wirkenden „Poetisierung des Stadtraums bei Nacht“ verbunden, man denke nur an die Fotografien von Carlo Naya, der das Bild von Venedig im 19. Jahrhundert deutlich prägte.
Nerlys nächtlichen Veduten stellte Carl-Johann Olsson (Stockholm) ein faszinierendes Panorama des Mondlichts als wichtiges Bildthema nordischer Künstler in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Seite, darunter Werke von Carl Johan Fahlcrantz, Peder Balke oder Knut Baade. Über Caspar David Friedrich und Christian Dahl dürften Faszination und Auseinandersetzung mit intensiven nächtlichen Lichtstimmungen zu Nerly gelangt sein, der sie schließlich in Italien popularisierte.
Zwei weitere Vorträge befassten sich ebenfalls mit spätromantischen, in diesen Kosmos eingebundenen Bildthemen: Bernhard Maaz (München) führte in seinem Abendvortrag angesichts von Nerlys Ölstudie einer „Nahsicht des Palazzo Contarini“ – einem meisterhaften Feuerwerk des Kolorismus mit raffinierter Räumlichkeit – eine neue Perspektive auf die Freiluftmalerei im Sinne einer „Pleinair ohne Himmel“ ein. Er stellte anhand zahlreicher Bildbeispiele das Phänomen der nahsichtigen Mauern und naturhaften Felsformationen nicht nur als romantisches Thema vor, sondern als eine wichtige, bislang kaum beachtete Spielart der frühen Freilichtmalerei. Den zweiten Tag eröffnete Werner Busch (Berlin) mit der entscheidenden Frage, wie ein bloßer Baum infolge des Empirismus der Aufklärungszeit und dem Wunsch nach einer neuen Naturnähe darstellungswürdig werden konnte – anhand eines weit gespannten Bogens von dem Engländer Alexander Cozens bis zu Nerlys Ölskizzen, die mit ihren in reizvoller Flüchtigkeit portraitierten Bäume und ihrem geschickt eingefangenen Gegenlicht immer wieder den Impressionismus zu antizipieren scheinen.
Bedenkt man, dass die meisten Skizzen Nerlys bisher nicht wissenschaftlich bearbeitet sind, wie auch Cornelia Nowak (Erfurt) betonte, die den im Angermuseum verwahrten Bestand an Arbeiten auf Papier unter verschiedenen Blickwinkeln vorstellte, dann liegt hier ein großes Potential für weitere Forschung. In diesem Zusammenhang brachte Andreas Strobl (München) den Vergleich mit dem Nachlass von Moritz Rugendas. Der vor allem in Südamerika reisende Maler passte seine Arbeitsweise seiner permanenten Bewegung an. Es gelang ihm, atmosphärische Situationen mit wenigen Mitteln derart präzise einzufangen, dass er sie später überzeugend ausarbeiten konnte. Wenngleich Friedrich Nerly in Venedig vor allem als Spaziergänger unterwegs war, lassen sich hinsichtlich Blick und Arbeitsweise zahlreiche Querverbindungen zu anderen Künstlern dieses in so vielerlei Hinsicht zunehmend durch Mobilität geprägten 19. Jahrhunderts erkennen.
Als Gegenpart zu solchen weit gefassten Kontextualisierungen Nerlys, stellte Dorothee Hansen (Bremen) auf der Tagung erstmals das bedeutende Frühwerk der Bremer Sammlung „Campagnalandschaft mit Aqua Claudia“ von 1836 öffentlich vor. Ihre präzise Analyse von Werk, Vorstudien und der Situation vor Ort ermöglichten einen tiefen Einblick in seine konkrete Arbeitsweise an diesem großformatigen Gemälde, das sich als fast multiperspektivisch angelegte Bildkonstruktion entpuppte: effektvoll verdichtete Friedrich Nerly hier wichtige Motive seiner frühen Jahre – eindrucksvoll inszenierte Ruinen, weite Landschaft, kraftvolle Ochsen, spannungsreiche Genreszenen. In der Reihe der damals zunehmend beliebter werdenden Campagna-Darstellungen nimmt diese raffinierte und hochverdichtete Komposition eine Sonderstellung ein.
Der stark restaurierungsbedürftige Befund des Gemäldes eröffnete abschließend weiterführende Einblicke. Restaurator Börries Brakebusch (Köln) ergänzte hier Betrachtungen zu den Maltechniken von Nerlys römischen Ölstudien. Dass die Ausweitung kunsttechnologischer Untersuchungen im Rahmen der anstehenden Forschungen und Restaurierungsmaßnahmen Erkenntnisgewinne bringen werden, machten auch Renate Poggendorf (München) vom Doerner Institut und die Restauratorinnen der Erfurter Sammlungen, Karin Kosicki und Katharina Bellinger-Soukup (Erfurt) deutlich.
Es ist eine kluge Entscheidung der Projektverantwortlichen, ein thematisch breit aufgestelltes Symposium an den Anfang dieses Forschungsprojekts zu stellen. Die anregenden und intensiven Diskussionen zwischen allen Beteiligten machten deutlich, welches Potential in der Auseinandersetzung mit Nerly steckt: Neben Fragen zu seinen Kompositionsweisen und Blickwinkeln sind Betrachtungen zu seiner Einbindung in den damaligen Kunstmarkt, und – vor dem Hintergrund seiner 40 Jahre dauernden Auseinandersetzung mit Venedig – zu seinen Strategien der medialen Verbreitung und Einbindung in den internationalen Tourismus äußerst vielversprechend. Kurzum: die Reflexion von Nerlys Rolle im gesellschaftlichen und sozialen Umfeld dieses durch tiefgreifende gesellschaftliche und künstlerische Umbrüche, aber auch gesteigerte Mobilität geprägten Jahrhunderts dürfte noch einige Überraschungen offenbaren.
[1] Tagungsprogramm: https://arthist.net/archive/35043
Empfohlene Zitation:
Frank Seehausen: [Tagungsbericht zu:] Friedrich Nerly und die Landschaftsmalerei seiner Zeit (Angermuseum Erfurt, 29.–31.10.2021). In: ArtHist.net, 08.01.2022. Letzter Zugriff 21.11.2024. <https://arthist.net/reviews/35591>.
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