In ihrer Publikation untersucht Irina Hiebert Grun ausgewählte Arbeiten zeitgenössischer brasilianischer Kunst im Hinblick auf ihre Auseinandersetzung mit der Antropofagia, ein im brasilianischen Modernismus der 1920er Jahre entwickeltes kulturelles Konzept, das die metaphorische Einverleibung fremder Kultureinflüsse postuliert. Damit widmet sich die Autorin einem in der deutschsprachigen Kunstgeschichte, aber auch in der internationalen Forschung bisher kaum berücksichtigten Thema.
Mit der Konstruktion des Antropofagia-Diskurses und der daraus folgenden Rezeptions- und Aneignungsprozesse untersucht Hiebert Grun zentrale Fragestellungen einer brasilianischen Kunstgeschichte, die in eine global argumentierende Kunstgeschichte eingebettet werden. Die Studie gliedert sich neben Einführung und Resümee in fünf Kapitel. Den Hauptteil bildet das vierte Kapitel: die Analyse der Rezeption der Antropofagia in der brasilianischen Gegenwartskunst. Die Grundlage hierzu bieten die vorausgehenden Kapitel, die ein umfangreiches Bild des Konzepts der Antropofagia zeichnen. Denn mit der Antropofagia rekurrieren die Künstler:innen auf historische Kannibalismus-Darstellungen sowie Metaphorisierungen der Anthropophagie, die in Europa, insbesondere im Zuge der Entdeckung der „Neuen Welt“, kursierten. Das erste Kapitel vollzieht die Begründung der Anthropophagie-Metapher in Europa und die Projektion der Anthropophagie auf die Indigenen Brasiliens im Zuge der Entdeckung der „Neuen Welt“ nach, die sich in illustrierten Reiseberichten wie denen Hans Stadens und Theodor de Brys manifestiert wie auch in der Repräsentation Brasiliens in den Erdteilallegorien als „Kontinent der Kannibalen“.
Im zweiten Kapitel wird das Movimento Antropófago im brasilianischen Modernismus eingeführt, vorrangig anhand der Manifeste des Schriftstellers Oswald de Andrade, dem Manifesto da Poesia Pau Brasil (1924) und dem namensgebenden Manifesto Antropófago (1928). Letzteres analysiert die Autorin ausführlich und verwendet eine eigene deutsche Übersetzung, die näher am Original bleibt. De Andrade forderte in einem „radikalen wie ironischen Umgang mit dem europäischen Erbe dazu auf, sich in anthropophager Weise die für die eigene Kultur bereichernden Teile der fremden Kultur geistig einzuverleiben, sie zu transformieren und den überflüssigen Rest auszuscheiden. In dem äußerst machtvollen Bild des Verschlingens einer sonst so übermächtigen Kultur formuliert sich die Revolte der Kolonisierten gegen die Kolonisatoren“ (S. 46). Der modernistische Emanzipationsprozess von westlichen Kulturzentren wird von Hiebert Grun ausführlich dargelegt. Die Bedeutung der Manifeste de Andrades zeigt sie durch eine Analyse der Malerei von Tarsila do Amaral auf, die zu der Zeit de Andrades Lebensgefährtin und an der Ausarbeitung des anthropophagen Programms maßgeblich beteiligt war. Anhand weiterer Werkbeispiele von Vicente de Rego Monteiro oder Emiliano Di Cavalcanti wird die Anwendung der Antropofagia in der Bildenden Kunst des Modernismus nachgezeichnet.
Die Tropicália-Bewegung, in der de Andrades Anthropophagie-Konzept in den 1960er Jahren wieder aufgegriffen wird, ist Gegenstand des dritten Kapitels. Der Fokus liegt hier auf den Arbeiten Hélio Oiticicas und Lygia Clarks, deren künstlerische Ansätze als Beiträge zur kulturellen Anthropophagie in den Kontext des Neoconcretismo gesetzt werden. Hierbei verweist Hiebert Grun auf das fluide Identitätsmodell, das dem Konzept der Antropofagia inhärent ist und in der neokonkreten Kunst aufgegriffen wird: „Unter Bezug auf die Metapher der Einverleibung formulierten sie anhand ihrer künstlerischen Projekte ein Nationalitätsbewusstsein, welches mit Universalismus gepaart war, und ein Kulturverständnis, welches sich auf Hybridität gründete“ (S. 79). Im Zentrum der Studie stehen die zeitgenössischen brasilianischen Positionen von Adriana Varejão, Cildo Meireles, Anna Maria Maiolino, Ernesto Neto und Ricardo Basbaum. Durch detaillierte Einzelanalysen zeigt Hiebert Grun konkrete Bezugspunkte zu de Andrades Programmatik auf, wobei die Referenz der Künstler:innen selbst auf die Antropofagia u.a. durch Statements, Werktitel und Manifeste explizit gemacht wird. Dabei folgen die Einzelanalysen in diesem vierten Kapitel keiner chronologischen Ordnung, die Gliederung ergibt sich vielmehr aus der zentralen These, dass sich zwei unterschiedliche Tendenzen in der Rezeption der Antropofagia ausmachen lassen: Zunächst wird mit den Arbeiten von Adriana Varejão und Cildo Meireles aufgezeigt, wie das modernistische Konzept primär in seiner ursprünglichen Funktion als dekolonisierende Emanzipationsgeste fortgeführt wird. Davon abgrenzend tritt in den Arbeiten von Anna Maria Maiolino, Ernesto Neto und Ricardo Basbaum die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte zurück und es findet eine Bedeutungserweiterung statt, die Hiebert Grun im Spannungsfeld von Migration, Ethnizität und Geschlecht verortet. Letztlich gelingt es der Autorin gerade durch diese Differenziertheit, die nachhaltige Beeinflussung der Antropofagia auf die zeitgenössische brasilianische Kunst überzeugend nachzuweisen und sie grenzt sich dadurch von anderen kunsthistorischen Studien ab, die den Begriff der Kulturanthropophagie meist unbefragt übernehmen und in universalistischer Weise gebrauchen. Hiebert Grun ist sehr darauf bedacht, diese Übernahmen immer wieder infrage zu stellen und die künstlerischen Arbeiten mit analytischer Distanz anhand theoretischer Terminologien zu erläutern. Sie arbeitet Analogien zwischen der Antropofagia und der postkolonialen Theorie heraus, wobei die pionierhafte Bedeutung des brasilianischen Konzepts als kulturspezifischer postkolonialer Beitrag zur Ende der 1970er Jahre entstandenen, anglophon bestimmten Theoriebildung herausgestellt wird. Hiebert Grun zeigt die Anschlussfähigkeit der klassischen Theoriekonzepte der Postcolonial Studies, wie insbesondere Homi K. Bhabhas Modell der Hybridität, die sie jedoch um spezifisch lateinamerikanische Perspektiven, darunter Silviano Santiagos und Walter Mignolos kritische Lesarten des Postkolonialismus, ergänzt. Neben post- und dekolonialen Theoriekonzepten zieht die Autorin auch poststrukturalistische Ansätze für ihre Werkanalysen heran, die sich mit Fragen nach Wissen und Macht befassen und für eine fluide Identitätspolitik eintreten, wie Judith Butlers performatives Modell von Geschlecht oder das antiessentialistische Denkmodell des Rhizoms von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Diese methodische Untermauerung der zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten erweist sich als überaus gewinnbringend, um die aktuelle Anschlussfähigkeit der Antropofagia herauszuarbeiten. Die vor allem auf der Analyse schriftlicher und literarischer Beispiele basierenden Theoriekonzepte werden durch die Analyse von Bildlichkeit erweitert und damit für eine transkulturelle Kunstgeschichtsschreibung fruchtbar gemacht.
Das abschließende fünfte Kapitel zeigt auf, inwiefern das Konzept der Antropofagia in der Gegenwartskunst auch außerhalb des brasilianischen Kontextes adaptiert und zu einer globalen Kulturtechnik wird. Der Transfer in das westliche Kunstsystem wird thematisiert, wodurch das europäische Verständnis der Antropofagia selbst befragt und zur brasilianischen Rezeption in Bezug gesetzt wird. Zeitgenössische Positionen, die sich mit der Antropofagia auseinandersetzen, wie Dennis Feser, Wendelien van Oldenborgh, Mauricio Diaz und Walter Riedweg, befassen sich mit Fragen des Postkolonialismus, der Körperlichkeit und Hybridität und nutzen das Konzept der kulturellen Anthropophagie als politische Intervention gegen aktuelle Nationalismus- und Rassismus-Tendenzen in Europa. Dies verdeutlicht, wie Kulturanthropophagie über nationale Grenzen hinaus nutzbar gemacht wird und als globale Kulturtechnik wirksam sein kann.
Die Studie arbeitet mit zahlreichen Verweisen und Vergleichsbeispielen. Detaillierte Einzelanalysen wechseln mit der Einbettung in die größeren Kontexte ab und historiographische Zusammenhänge werden sichtbar gemacht, womit die Studie den sehr spezifischen Untersuchungsgegenstand in den allgemeineren Rahmen geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung zu Kolonialismus, postkolonialer Nationen- und Identitätskonstruktion sowie kolonialer und postkolonialer Wissensproduktion einbindet. Bemerkenswert ist auch die beachtliche Fülle der verwendeten Literatur. Hiebert Grun zieht zahlreiche Originalquellen und aktuelle Forschungsliteratur aus Brasilien heran, was die Publikation gegenüber anderen kunsthistorischen Studien hervorhebt, die sich mit transkulturellen Übersetzungs- und Aneignungsprozessen in Lateinamerika befassen und dabei oft nur Quellen in Englisch, Deutsch oder Spanisch berücksichtigen.
In den untersuchten Arbeiten der fünf zeitgenössischen Künstler:innen kommt, wie die Autorin aufzeigt, die Antropofagia „als konzeptuell-ästhetische Strategie zur Anwendung, welche den gesellschaftskritischen und politischen Impetus des Andradschen Projekts fortführt und aktualisiert.“ (S. 283). Durch das Anthropophagie-Konzept werden stereotype europäische Brasilien-Bilder vorgeführt und die epistemische Vormachtstellung des Westens in Frage gestellt. Damit zeigt die Analyse deutlich, welche Herausforderung dieses Konzept für westliche Perspektivierungen darstellt. Indem Hiebert Grun die zeitgenössischen Künstler:innen gerade nicht im Hinblick auf einen spezifisch brasilianischen Ausdruck befragt, verlässt sie die traditionellen Wege einer national definierten, ins westliche Wertesystem eingebundenen Kunstgeschichte. Ihrem in der Einleitung formulierten Anspruch, einen Beitrag „zu einer dezentrierten, transkulturellen Kunstgeschichtsschreibung“ (S. 14) leisten zu wollen, wird die Autorin mit ihrer Studie gerecht.
Hiebert Grun, Irina: Strategien der Einverleibung. Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst (= Image; 166), Bielefeld: transcript Verlag 2020
ISBN-13: 978-3-8376-5030-3, 332 S., 39.99 EUR, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Hanna Büdenbender: [Rezension zu:] Hiebert Grun, Irina: Strategien der Einverleibung. Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst (= Image; 166), Bielefeld 2020. In: ArtHist.net, 20.12.2021. Letzter Zugriff 05.11.2024. <https://arthist.net/reviews/35588>.
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