REV 03.11.2021

Zimmer, Nina; Waldmeier, Martin (Hrsg.): Aufbruch ohne Ziel: Annemarie Schwarzenbach als Fotografin

Rezensiert von Elisaveta Dvorakk, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktion: Livia Cárdenas
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Der Band „Aufbruch ohne Ziel. Annemarie Schwarzenbach als Fotografin“ erschien anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, die im Zentrum Paul Klee vom 18.09.2020 bis zum 09.05.2021 stattfand. Die Schau stellte eine umfangreiche Einführung in das fotografische Werk der Schweizer Historikerin, Schriftstellerin und Bildjournalistin Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) dar. Die Objektauswahl basierte auf überwiegend digitalisierten Nachlassleihgaben des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern.[1] Die Publikation folgt dem zentralen Ziel der Ausstellung, Schwarzenbachs Fotografien dem Publikum auch jenseits der fotografischen Forschung zu präsentieren. Die 143 Seiten umfassen 85 Abbildungen, eine Kurzbiografie, eine Auswahlbibliografie und vier Essays, die in das fotografische Konvolut von ca. 7.000 Einzelobjekten im Nachlass einführen.

Der Beitrag „Annemarie Schwarzenbach als Fotografin“ (11-29) des Kurators Martin Waldmeier entwickelt einen Überblick des fotografischen Werkes. Das Verhältnis zwischen Schwarzenbachs Prosa, den journalistischen Beiträgen und den Fotografien wird dabei als Rezeptionstopos aufgegriffen. Einerseits plädiert Waldmeier dafür, „die Fotografien von ihrem massenmedialen Publikations- und Verwertungskontext zu lösen und als eigenständige fotografische Werke zu betrachten“ (11). Gleichzeitig wird jedoch die Chronologie entlang der historischen und ästhetischen Bezüge zu zeitgenössischen fotografischen Werken von Marianne Breslauer, Barbara Hamilton-Wright und Ella Maillart skizziert.

Im Fokus stehen die Reisen nach Spanien 1933 sowie nach Finnland, Schweden und in die baltischen Länder 1937. Die Reisen in die Türkei, den Libanon, den Irak, den Iran sowie nach Syrien und Palästina 1933 werden innerhalb einer eskapistischen Strategie verortet, der nationalsozialistischen Gefahr zu entfliehen, was Waldmeier als Ablehnung eines aktiven intellektuellen Widerstandes deutet (14, 23). Hier wird ein Topos des Reisens als Flucht und Suche nach idyllischen Rückzugsorten aufgegriffen, der in der literaturwissenschaftlichen und biografischen Forschung kontrovers diskutiert wurde.[2]

Als „Verhältnis zwischen Natur und Kultur im Kontext von Mechanisierung und Industrialisierung“ (15) werden Schwarzenbachs Fotografien aus der Türkei und dem Iran 1934, der UdSSR 1934 sowie den USA und Schweden 1937 gruppiert. Die Bildberichterstattung während der Automobilreisen zwischen 1933 und 1939 bildet einen weiteren Fokus und wird in den Orientalismus-Diskursen situiert. Einzelne Fotografien rezipiert Waldmeier als vermeintlich „späte Dokumente einer europäisch-kolonialen Weltordnung“, die „die Rolle der privilegierten europäischen Reisenden“ aufzeigten. Als professioneller Aufbruch werden dagegen die Reisen mit Barbara Hamilton-Wright 1936/37 in die USA sowie die Auseinandersetzung mit der Fotografie der Farm Security Administration (FSA) genannt. Der Beitrag benennt die Portraitfotografie als wichtiges Genre in Schwarzenbachs Werk, wobei die homoerotischen Motive betont werden.

Barbara Wiegand-Stempel thematisiert im Essay „Bilder schreiben“ (107-119) Schwarzenbachs Werdegang als professionelle Bildjournalistin. Der Erfolg der illustrierten Massenpresse in den 1930er Jahren wird als Hauptgrund für ihre Entwicklung als Fotografin genannt. Die Autorin hebt den narrativen Zusammenhang zwischen Schwarzenbachs publizierten Fotografien und den Begleittexten als eine Besonderheit des Bildberichtes hervor. Die Fotografie stehe durch die Auswahl von Standort, Perspektive und Zeitpunkt in einem diskursiven Verhältnis zu ihrem Motiv (109). Das Bedeutungspotenzial der Bildberichte ergebe sich auch durch die redaktionelle Arbeit. Diese Thesen formulierte Wiegand-Stempel bereits 2009 wegweisend für die fotografische Schwarzenbach-Forschung.[3] Zudem untersucht der Beitrag die Auswirkung des Formates der „Zürcher Illustrierten“ und des Magazins „Sie und Er“ auf die Struktur von Schwarzenbachs Bildberichten.

Im Kontext der Orientalismus-Diskurse wird ein Bildbericht aus dem Iran 1934 mit der Bildberichterstattung aus Afghanistan 1939 verglichen. Im Gegensatz zu frühen Fotografien und Texten, die eine Konstruktion des ‚Orients’ legitimierten, wird Schwarzenbachs Arbeitsweise 1939 als „versachlichter und analytischer Zugang zu asiatischen Themen“ interpretiert (114). Das apparative Verfahren des Fotografierens wird als ihre Umgangsform mit der scheinbaren Grenzenlosigkeit der Landschaft beschrieben. Nach Wiegand-Stempel kulminiert Schwarzenbachs fotografische Ausdruckskraft in den Bildberichten aus Afghanistan 1939 und den USA 1938.

Das Essay „Fotohistorische Rahmenbedingungen“ (120-131) von Mirco Melone stellt einen historischen Überblick über die fotografischen Techniken und Medien der 1920/30er Jahre dar. Als erster Schwerpunkt wird die Ästhetik des Neuen Sehens festgelegt. Schwarzenbachs Verbindung dazu wird anhand ihrer Zusammenarbeit mit Marianne Breslauer 1933 gezeichnet. Außerdem wird die Professionalisierung des Bildhandels der 1930er Jahre und ihre Bedeutung für die illustrierte Massenpresse untersucht. Melone beschreibt die entstehende Landschaft der illustrierten Zeitschriften, die Entwicklung der Kleinbildkameras sowie der Bildagenturen Associated Press, Keystone und Black Star. Diese Informationen ordnen die fotojournalistische Arbeit Schwarzenbachs 1933 bis 1937 historisch ein. Die Funktion der Bildredaktion der Zürcher Illustrierten 1934 wird anhand einer ausgewählten Reportrage Schwarzenbachs aufgezeigt (125-127). Zudem erläutert der Beitrag die Methoden der ethnografischen Fotografie sowie der sozialdokumentarischen Fotografie im Kontext wirtschaftlicher und politischer Krisen der 1930er Jahre.

Katharina Sykoras Essay „Von sich aus ins Weite“ (132-141) rückt Schwarzenbachs Bildjournalismus in eine fototheoretische Perspektive. Sykora publizierte bereits 1993 erste geschlechter- und bildtheoretische Analysen, die die fotografische Schwarzenbach-Forschung bis heute prägen.[4] In diesem Beitrag wird Schwarzenbachs Bildberichterstattung in das Bild der „Neuen Frau“ im Hinblick auf die Kameratechnik und die Automobilisierung eingeordnet. Sykora analysiert die foto- und markttechnischen Bedingungen für die Expansion der Illustrierten in den 1930er Jahren. Zudem führt sie eine Definition des Bildberichtes ein – eines Formates, das durch eine medienhistorische Transformation der Fotoreportage entstand.

Schwarzenbachs journalistische Reisefotografie wird als ein Spagat zwischen der Erfüllung von kommerziellen Vorgaben einerseits und der explorativen Gestaltung eines neuen Bildmediums andererseits beschrieben (134). Die Autorin verweist auf Schwarzenbachs komplexes fotografisches Produktionssystem und eine Vorwegnahme der bildredaktionellen Arbeit der Illustrierten durch eine autonome fotografische Semantik. Die Kooperationen mit weiteren Fotograf*innen werden als Modelle der Arbeitsteilung, Reisefinanzierung und fotografischer Fortbildung interpretiert. Anschließend wird eine Auswahl an Fotografien und Bildberichten aus Spanien 1933 und Afghanistan 1939 im Blick auf das Sujet des Automobil-Abenteuers analysiert. Dieses Motiv entwickelte sich zum eigenständigen journalistischen Konzept, das Schwarzenbach eine kritische Selbstreflexion des Reisens ermöglichte.

Innerhalb des FSA-nahen „Fokus auf gefährdete Bevölkerungsgruppen und die Verlierer industrieller Modernisierungsschübe“ (138) 1936/37 hebt der Beitrag Schwarzenbachs visuelles Interesse an Lebenswegen von Frauen in den USA hervor. Sykora unterscheidet bei Schwarzenbachs fotografischer Produktion von 1933 bis 1939 zwischen sozialkritischen Reportagen zur Analyse gesellschaftlicher Umbrüche und Bildberichten, „die losgelöst scheinen von derartigen Realitätsbezügen“ (140).

Der Katalog führt eine Reihe von Publikationen zum fotografischen Nachlass Schwarzenbachs fort und verfolgt dabei eine eigene Zielsetzung. Bisherige Projekte ordneten Schwarzenbachs Fotografien insbesondere biografisch ein oder präsentierten erstmalig Einzelabzüge aus Afghanistan.[5] Die aktuelle Publikation kombiniert einen kuratorischen Blick auf Schwarzenbachs Werk mit einer historischen Perspektive und zwei prominenten Positionen aus fotohistorischer und -theoretischer Forschung. Der Band stellt somit eine fundierte exemplarische Einführung in das fotografische Schaffen von Schwarzenbach dar. Die Publikation befasst sich mit zentralen Fragen nach der Ästhetik sowie der Kontextualisierung der Fotografien, die gegenwärtig auch die Diskurse um den fotografischen Nachlass Schwarzenbachs aus postkolonialer, geschlechtertheoretischer und bildwissenschaftlicher Perspektiven prägen.[6]

[1] Vgl. Schweizerisches Literaturarchiv in der Nationalbibliothek, Bern. https://ead.nb.admin.ch/html/schwarzenbach.html [05.10.2021].
[2] Vgl. z.B. Georgiadou, Areti, Fluchtwege einer Nomadin. Die Welt Annemarie Schwarzenbachs. Eine Untersuchung zu Leben und Werk, Diss., Frankfurt a. M., 1995.
[3] Vgl. Stempel, Barbara, Asien-Sichten. Reisefotografien von Annemarie Schwarzenbach und Walter Bosshard, VDG Weimar: Weimar 2009.
[4] Vgl. Sykora, Katharina, Zu den Reisefotografien von Marianne Breslauer, Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart, in: Fotogeschichte, Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 48, 13/1993, 27-43; “Ein Bild ist erst gut, wenn sein Gehalt dem Betrachter sozusagen in die Augen springt”. Zum fotografischen Oeuvre von Annemarie Schwarzenbach, in: Feministische Studien 11, 1/1993, 81-95.
[5] Vgl. Schwarzenbach, Alexis, Auf der Schwelle des Fremden. Das Leben der Annemarie Schwarzenbach, Collection Rolf Heyne: München 2011 [2008]. Vgl. auch Schwarzenbach, Annemarie; Maillart, Ella; Bouvier, Nicolas, Unsterbliches Blau. Reisen nach Afghanistan - Bleu immortel. Voyages en Afghanistan, Scheidegger & Spiess: Zürich 2003 [Zoé: Genève 2003].
[6] Vgl. Braeunert, Svea; Nusser, Tanja (Hrsg.), Special Issue. Annemarie Schwarzenbach’s Photographic Practice, Monatshefte, 113 (3), 09/2021. http://mon.uwpress.org/content/current [05.10.2021].

Zimmer, Nina; Waldmeier, Martin (Hrsg.): Aufbruch ohne Ziel: Annemarie Schwarzenbach als Fotografin, Zürich: Lars Mueller Publishers 2020
ISBN-13: 978-3-03778-651-2, 144 S.

Empfohlene Zitation:
Elisaveta Dvorakk: [Rezension zu:] Zimmer, Nina; Waldmeier, Martin (Hrsg.): Aufbruch ohne Ziel: Annemarie Schwarzenbach als Fotografin, Zürich 2020. In: ArtHist.net, 03.11.2021. Letzter Zugriff 27.12.2024. <https://arthist.net/reviews/35245>.

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